Gesellschaft | Interview

Zukunft an die Hand nehmen

Simon Prossliner war an einer „herausfordernden“ Schule in Wien tätig. Der gebürtige Bozner spricht über seine Erfahrung und die Bildungsinitiative Teach For Austria.

Simon Prossliner ist in Bozen aufgewachsen und zur Schule gegangen. Der 32-Jährige hat Politikwissenschaften in Wien und Harvard studiert. von 2014 bis 2016 war er als Fellow, so werden die etwas anderen Lehrpersonen der Bildungsinitiative Teach For Austria genannt, in einer neuen Mittelschule im 10. Wiener Gemeindebezirk tätig. Seit Kurzem ist er fester Bestandteil der Organisation und wird künftig als Trainer die Fellows bei ihrer Lehrtätigkeit unterstützen und an der Weiterentwicklung des Programmes mitarbeiten.

Was ist Teach For Austria und aus welcher Idee ist es entstanden?
Simon Prossliner: TFA ist eine Bildungsinitiative, die sich dafür einsetzt, dass jedes Kind Zugang zu exzellenter Bildung hat. Inspiriert durch das globale Netzwerk Teach For All, welches aus Teach For America hervorging, wurde es 2011 im Hinblick auf die Situation im österreichischen Bildungswesen von Walter Emberger ins Leben gerufen. Im Schuljahr 2012-13 waren die ersten TFA-Fellows als vollwertige Lehrer*innen an sogenannten „herausfordernden“ Schulen in Wien und Salzburg im Einsatz, heuer in Niederösterreich. Schwesterorganisationen von TFA gibt es auch in Deutschland, England oder Frankreich.

Man möchte meinen, dass in den reichen Ländern Europas exzellente Schulbildung eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Warum ist das nicht so?
Das hängt beispielsweise in Österreich sehr mit dem Schulsystem zusammen. Es gibt nicht wie bei uns in Südtirol eine gemeinsame Schule für die Kinder bis 14 Jahren, sondern die Kinder gehen bereits nach der Grundschule entweder auf ein Gymnasium oder in die Mittelschule. So können bereits Sprachschwierigkeiten in der Grundschule die ganze Schullaufbahn und damit den weiteren Lebensweg beeinflussen. Das duale Schulsystem führt insbesondere in den Städten dazu, dass das Niveau an bestimmten Schulen absinkt, dass Ressourcen fehlen. Gerade an den Schulen, wo eigentlich viel mehr passieren müsste, sinken die Ansprüche dadurch noch mehr und nach Abschluss der Mittelschule sind manche Kinder leider noch auf dem Stand eines Grundschulabgängers, was beispielsweise Leseleistung oder Rechenfähigkeiten betriff. Demensprechend schlecht sind dann ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt, der Zugang zu höherer Bildung bleibt ihnen dadurch meist versperrt.

Foto: Teach For Austria

Wie sieht eine typische Schule aus, an der Fellows zum Einsatz kommen?
TFA schickt ihre Fellows dezidiert an sogenannte „herausfordernde“ Schulen in den Ballungsräumen. An der Schule, an der ich unterrichtet habe, haben die Schüler*innen zu einem Großteil, of sind es 95 bis 100 Prozent in einer Klasse, eine andere Muttersprache als die Unterrichtssprache. Die Kinder kommen durchgehend aus sozioökonomisch schwachen Haushalten und häufig aus schwierigen familiären Situationen, auch viele geflüchtete Kinder sind an dieser Schule.

Was unterscheidet einen Fellow einer gewöhnlichen Lehrkraft
Fellows gehen gezielt an diese Schulen, weil sie aktiv etwas in der Gesellschaf bewirken wollen und versuchen möchten, die Lebenswege der Kinder zu verändern und ihnen neue Perspektiven aufzuzeigen, ihnen den Zugang zu weiterführender Bildung zu ermöglichen. Mir ist aber sehr wichtig zu betonen, dass das auch bei den gewöhnlichen Lehrer*innen meistens so ist. Fellows sind Absolventen verschiedenster Studiengänge oder kommen direkt aus dem Berufsleben und entscheiden sich bewusst für den Lehreinsatz an einer Schule. Viele bleiben dann nicht nur für die zwei geplanten Jahre dort, sondern holen das Lehramtsstudium nach. Andere kehren zurück in ihren angestammten Beruf oder bleiben nach ihrem Einsatz im Bildungsbereich, gehen zu NGOs, gründen Startups und setzen sich auch weiterhin für das Ziel der Bildungsgerechtigkeit ein.

Wie kamen Sie zu Teach For Austria?
Damals habe ich ehrenamtlich einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling aus Syrien Lernhilfe erteilt. Die Arbeit mit ihm hat mir sehr viel gegeben und ich merkte, dass ich so an sozialen Herausforderungen sehr nahe dran bin. Ich merkte auch, wie viel ich als Einzelner bewirken kann. Da wurde ich auf TFA aufmerksam. Es ermöglichte mir im Zuge von einem Programm, das mir einen gewissen Anspruch und Professionalität garantiert und mich auch mit dem nötigen Werkzeug ausstattet, in ein Klassenzimmer hineinzugehen und zu unterrichten.

Wie wird man zum Fellow und wie erfolgt die Vorbereitung für den Einsatz als Lehrperson?
Man bewirbt sich und durchläuft ein mehrstufiges Bewerbungsverfahren. Wenn man genommen wird, gibt es eine Online-Ausbildung und eine sechswöchige Sommerakademie, dort werden die Fellows auf den Schulstart vorbereitet, inklusive zwei Wochen praktischer Arbeit mit Kindern. Während des Schuljahres gibt es Lerngruppen, Workshops und Seminare. Jeder Fellow hat einen Trainer, der auch im Unterricht vorbeischaut und mit dem man dann Analysegespräche führt. Man kann also auf ein Unterstützungssystem zurückgreifen, das Junglehrer*innen eigentlich sonst nicht haben. Auch der regelmäßige Austausch mit den anderen Fellows gibt Rückhalt. Besonders das erste Jahr ist wirklich schwierig, da tut es oft gut, jemanden um Rat fragen zu können.

Wie war Ihr erster Schultag?
Ich war extrem aufgeregt, es war ein Einprasseln von unzähligen Eindrücken. Ich habe im ersten Jahr um die 150 Schüler*innen unterrichtet, in sechs verschiedenen Klassen. In meinem Fall war es da schon eine besondere Herausforderung, die ganzen Namen zu lernen, wobei ich unzählige dieser Namen zum ersten Mal in meinem Leben gehört habe. Gerade in den ersten Wochen ist es auch körperlich sehr belastend. Von der ersten Stunde an muss man voll präsent sein. Es war anstrengend, aber sehr spannend, eine ganz neue Welt!

Gab es ein besonderes Erlebnis in der Schule, das Sie geprägt hat?
Es gab unzählige. Da sind diese Momente, wo man begreift dass man Veränderung bewirkt und dass man die Kinder wirklich erreicht hat. Ein Schüler hat im Unterricht einmal den Hitlergruß vorgemacht. Ich bin dann mit ihm recht wortlos aus dem Klassenraum gegangen. Im Computerraum haben wir uns dann gemeinsam Bilder von Kindern in Konzentrationslagern angeschaut und zur NS-Zeit recherchiert. Er wurde dann sehr still. Im Nachhinein begann ich dann etwas zu zweifeln. Hatte ich ihm zu viel zugemutet? Am nächsten Tag stand er dann aber plötzlich vor mir und sagte: „Herr Prossliner, ich habe sehr lange über das nachgedacht, was wir gestern im Internet recherchiert haben. Ich möchte mehr darüber erfahren, bitte geben Sie mir etwas zum Lesen dazu!“


Foto: Teach For Austria

Was waren die größten Herausforderungen?
Die Kinder in meiner Klasse kamen aus sehr heterogenen Lebensrealitäten. Da spielte das Thema Werte und Rollenbilder eine große Rolle. Es war für mich im Klassenzimmer sehr wichtig, die eigene Rolle ständig zu hinterfragen. Ich für mich identifiziere mich nicht mit dem Bild vom „weißen, katholischen, privilegierten Universitätsabsolventen“. Bevor sie mich kennenlernen, bin ich das aber in den Augen einiger Kinder sehr wohl. Hier eine gemeinsame Ebene zu finden, um mit ihnen über Werte und neue Sichtweisen zu sprechen – das war für mich die spannendste Herausforderung.

Teach For Austria will Lebenswege prägen. Wie kann man sich das vorstellen?
Die Fellows sollen den Kindern einen neuen Blick auf die Gesellschaf und ihre Zukunft ermöglichen, insbesondere durch das Aufzeigen von Handlungsspielräumen, die beispielsweise meine Schüler*innen mit Migrationshintergrund haben, aber vielleicht aus dem Selbstbewusstsein heraus, Ausländer zu sein, nicht wahrnehmen. Man weiß zwar von Alltagsrassismus, liest darüber und kennt Beispiele, aber dann von den Schüler*innen über ihre alltäglichen Diskriminierungserfahrungen zu hören, das eröffnet einen ganz neuen Blick. Einmal habe ich mit den Kindern im Unterricht Gandhi und das Thema Gerechtigkeit behandelt. Nach der Stunde kam ein Schüler, ein österreichischer Staatsbürger mit türkischen Wurzeln, zu mir und sagte: „Ich will die österreichische Gesellschaf verändern. Ich bin hier zuhause, aber wo soll ich beginnen?“ Ich antwortete ihm, er könne einmal in die Politik gehen und vielleicht Bundeskanzler werden und sich dann für Veränderung und Gerechtigkeit einsetzten. Er sagte dann: „Wie kann ich das? Ich bin ja Türke!“ Das war ein eindrücklicher Augenblick. Lebenswege prägen, heißt hier, das Bewusstsein der Kinder zu verändern, ihnen ihre Chancen und Rechte nahezubringen. Ganz konkret geht es darum, den Kindern dabei zu helfen, sich zu orientieren. Sie sollen über ihre Möglichkeiten informiert sein und dazu ermuntert werden, eine weiterführende Schule zu besuchen oder eine Lehre zu machen.

Was nehmen Sie aus Ihrem Lehreinsatz bei Teach For Austria für Ihre Zukunft und das Leben mit?
Zum einen nehme ich persönlich sehr viele interkulturelle Bereicherungen mit und auch eine gewisse Gelassenheit im Umgang mit Multikulturalität. Da gab es verschiedene, lehrreiche Situationen. Bei einem Elterngespräch war ich unsicher, ob ich einer streng gläubigen, muslimischen Frau die Hand reichen sollte oder nicht. Ich habe mich dagegen entschieden, war dann aber doch verunsichert. War dieses Verhalten in den Augen der Frau vielleicht doch unhöflich gewesen? Die Frau kam dann irgendwann später wieder auf mich zu und sagte lächelnd: „Herr Prossliner, nehmen Sie das alles doch nicht so ernst!“ Wenn man bewusst das Schubladendenken vermeiden will, tappt man oft erst Recht wieder dort hinein und lässt wiederum implizite Annahmen über andere zu, die man eigentlich nicht haben möchte. Eine gewisse Demut vor den Privilegien und den Möglichkeiten, die ich als Kind einer durchschnittlichen Südtiroler Familie ganz selbstverständlich genossen habe, nehme ich auch mit. Ich habe durch die Erfahrung als Fellow einen neuen Blick auf gesellschaftliche Herausforderungen bekommen, und ein neues Bewusstsein für Selbstwirksamkeit und die Bedeutung von Leadership.

Auf diesen Begriff stößt man oft bei Teach For Austria. Was ist mit „Leadership“ gemeint?
TFA begreif sich als Leadership-Programm. Es ermutigt Menschen dazu, Verantwortung zu übernehmen. Wir haben viele Möglichkeiten und können viel bewegen, wenn wir Verantwortung für uns selbst und für andere übernehmen und uns vornehmen, anspruchsvolle Ziele umzusetzen und Veränderung zu bewirken.

Dieses Interview von Lisa Frei stammt aus der September-Ausgabe der Straßenzeitung zebra.

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Sepp.Bacher Mo., 12.09.2016 - 12:06

So wie ich verstanden habe, beschäftigt sich dieser Fellower - ähnlich unseren Stütz- und Integrationslehrpersonen - intensiv mit einzelnen Schülern, als Ergänzung zum Fachlehrer. Dabei scheint es wichtig zu seine, sich auf die Ebene des Schülers zu begeben. Sicher eine gute Initiative! Was ich nicht verstanden habe: sind das regulär angestellte Lehrpersonen?
Noch einen Raunzer: Mich stört es immer, wenn in einem Text mehrere Tipp-, Rechtschreib- und Oberflächlichkeitsfehler vorkommen. Meistens kann man den Zusammenhang trotzdem noch verstehen. Beim folgenden Nebensatz gelang mir das leider nicht: "..., gibt es eine Online-Aus und Seminare."

Mo., 12.09.2016 - 12:06 Permalink