Gesellschaft | Gastbeitrag

Klischees und Wahrheit

Ein Wahlsüdtiroler über 8 Klischees des Südtirol-Tourismus, die Fehlentwicklung in ähnlichen Regionen und die Gefahr einer Bauchlandung.
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Foto: Suedtirolfoto.com / Othmar Seehauser
Mein Schweizer-Bekanntenkreis argumentiert mit folgenden Klischees für Südtirol-Ferien.
Schauen wir uns die Sache genauer an:
 

Klischee 1

Intakte, unverbaute und authentische Dörfer.
 

Fakt

Gemeinden wie, Dorf Tirol, Schenna und neuerdings Hafling sind seit Jahren ohne Baukräne nicht vorstellbar. Das gesunde Profitdenken ist längst der nackten Gier gewichen. Viele gemütliche Pensionen wollen zu „Mountain-Resorts“ mutieren. Die ungebremste Bauerei gleicht einem irren Wettrüsten.
 
 

Klischee 2

Ruhige Verkehrsinfrastruktur
 

Fakt

Von März bis Oktober kollabiert der Verkehr regelmässig um die Städte Meran und Bozen. Auf der Strasse durch’s Vinschgau zum Reschenpass herrschen Wochenende für Wochenende chaotische Zustände.
 
 

Klischee 3

Die Bewirtung auf den Almhütten zeichnet sich durch grosse Portionen und günstige Preise aus.
 

Fakt

Die Portionen sind während den vergangenen Jahren stets kleiner geworden. Die Preise jedoch konstant gestiegen. Heute darf teilweise für einen Holundersirup bis zu 4 Euro ! bezahlt werden.
 
 

Klischee 4

Kostengünstige Hotels belasten das Ferienbudget nicht zu stark.
 

Fakt

Die Hotelpreise in Meran sind mit vergleichbaren Schweizer-Städten (immerhin das teuerste Land Europas) nahezu identisch.
 
 

Klischee 5

Gastronomische Südtiroler- Grosszügigkeit
 

Fakt

Nach jedem Essen hiess es früher: „Nehmens noch ein Schnapserl ?“ Heute lautet die Frage: „Möchten sie eine Grappa für 6- oder für 12 Euro ?“
 
Nach jedem Essen hiess es früher: „Nehmens noch ein Schnapserl ?“ Heute lautet die Frage: „Möchten sie eine Grappa für 6- oder für 12 Euro ?“
 

Klischee 6

Hier werden sie noch von einheimischen, „feschen“ Maderl im Dirndl bedient.
 

Fakt

Längst vorbei ! Jede zweite Service- oder Receptions-Mitarbeiterin ist der Landessprachen, Deutsch oder Italienisch, nur bedingt mächtig.
 
 

Klischee 7

Italien und damit auch Südtirol, das Land des Weingenusses zu fairen Preisen.
 

Fakt

Weitgefehlt ! Für ein Glas guten Lagrein dürfen sie mittlerweile bis zu 7 Euro bezahlen. Dies kann man in der weltweit teuersten Stadt, Zürich, auch haben.
 

Klischee 8

Reelle Restaurantpreise
 

Fakt

Im Vergleich zum europäischen Ausland (Oesterreich, Spanien, Frankreich, Deutschland) sind die Preise entschieden höher.
 
 
 

Fazit

 
Es könnten noch viele Klischees, welche mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben aufgeführt werden.
 
In den sechziger- und siebziger Jahren explodierte touristisch der Kanton Tessin in der Schweiz. Alles, was glaubte Rang und Namen zu haben, bevölkerte Lugano, Locarno, Morcote usw. Die Preise stiegen jährlich zwischen 3 und 5% bei konstanter, nicht erweiterter Leistung. Gebaut wurde unaufhörlich. Der Monte San Salvatore bei Lugano wurde förmlich zubetoniert.
Heute fristet der Kanton touristisch ein stiefmütterliches Dasein. Jede zweite Wohnung in der Region Morcote steht seit Jahren zum Verkauf. Interessenten sind so gut wie keine vorhanden.
 
Darauf folgte in den Achziger- und Neunzigerjahren der „Toscanaboom“. Fantastisch! Jeder Pseudo-Manager wollte ein Anwesen sein Eigen nennen. Auch hier stiegen die Preise bei unveränderter Leistung stetig. Alle Warnungen wurden in den Wind geschlagen. Heute macht die südliche Toscana im Frühling und Herbst einen entvölkerten Eindruck. An jedem zweiten Haus hängt eine Tafel „Vendesi“.
 
Und als nächstes Südtirol? Viele Touristen reisen aus naheliegenden Gründen nicht mehr in den Urlaub nach Tunesien, Aegypten, Marokko usw. Städtereisen erachten viele als zu gefährlich. Ergo, Südtirol brummt und boomt. Es herrscht Goldgräberstimmung. Goldgräberstimmung hat in der Geschichte noch immer in Totenstimmung umgeschlagen.
 
Wenn Preise jährlich um 3% erhöht werden, entspricht dies innert zehn Jahren einer Entwicklung von rund 50%. Ich kenne niemanden, welcher während den vergangenen zehn Jahren durch seine Arbeit 50% mehr verdiente und nur wenige werden während den kommenden zehn Jahren 50% mehr verdienen. Sie alle werden eines Tages ausbleiben. An vielen Wohnungen und Häusern wird die Tafel „zu verkaufen“ hängen.
Aber wie dazumal im Tessin oder in der Toscana will man nichts wissen von einem Frühwarnsystem. Avanti, Dilettanti!
 
Dann bleibt doch zuhause, wenn’s euch nicht passt im schönen Südtirol. Dies vielfach die Antwort auf Kritik.
 
Genau dies wird leider geschehen!
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Sylvia Rier Mo., 13.03.2017 - 15:11

danke hierfür - der kritische blick des - geneigten - "zweiheimischen" auges ist etwas vom besten, das uns passieren kann. (hoffentlich!) wird der teufel, den herr wyler an die wand malt, nicht ganz so fürchterlich sein - aber mit ziemlich großer Sicherheit täten wir alle sehr gut daran, uns seine worte und gedanken zu herzen bzw. zu verstande zu nehmen.

Mo., 13.03.2017 - 15:11 Permalink
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Werner Koller Mo., 13.03.2017 - 16:00

Interessant. Ich war in den 90er Jahren begeisterter Südtiroltourist. Den im Artikel beschriebenen Wandel konnte ich in eben dieser Zeit spüren. Durch den Generationenwechsel in der Führung "meiner" geliebten Pension ist schon damals sehr viel vom bisherigen Charme verloren gegangen.

Mo., 13.03.2017 - 16:00 Permalink
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Sylvia Rier Di., 14.03.2017 - 11:05

ah ja? und welche wären dann die Gründe gewesen für die "Entwicklung" des Tessin, oder der Toscana, die der Autor aufzeigt? Und vieler anderer Orte, die sich den Touristen ans Revers und in den Rachen warfen, und glaubten, der Boom würde ewig währen (das tut er nicht einmal in Venedig, bzw. haben selbst dort die tristen Neben-Wirkungen längst eingesetzt bis Überhand genommen). Wenn der Touristen-Tross gelangweilt ist, zieht er weiter, und hinterlässt verbrannte Erde. Eine alte Geschichte, die mit Italien oder Nicht-Italien aber schon wirklich nichts zu tun hat.

Di., 14.03.2017 - 11:05 Permalink
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Mensch Ärgerdi… Di., 14.03.2017 - 12:04

Zahlen Sie mal in Südtirol als Unternehmen, Freiberufler oder Hotelier bzw. Gastwirt Steuern, dann werden Sie schnell merken warum einiges teuer ist. Dann rechnen Sie mal nach was Bürokratie und eventuelle Rechtsstreitigkeiten kosten und wie lange man da auf eine Genehmigung warten (oft steht der Betrieb dann zum Teil oder zur Gänze Monate lang) oder seinem Geld nachlaufen muss (oft muss man einen Kredit aufnehmen um selbst nicht zum säumigen Zahler zu werden). So enstehen eben Fixkosten, die man halt irgendwo auch wieder rein bekommen muss, oder für die ein polster angelegt werden sollte, ergo wird alles eben ein wenig teurer.

Di., 14.03.2017 - 12:04 Permalink
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David Gebhardi Do., 16.03.2017 - 15:53

Aus einem kürzlich erschienenen Artikel aus dem Handelsblatt geht hervor, dass immer, wenn es um die Sache geht, alles auf eine Schiene der negativen Kritik reduziert wird. Oftmals wird beim kritischen Denken die eigene Situation vergessen, denn wer Feedback gibt – und darum geht es -, erzählt auch immer viel über sich selbst! Wer Situationen beobachtet soll versuchen, ein konstruktives Feedback zurückzugeben und sich nicht nur auf negative Kritik festsetzen, denn es handelt sich hierbei lediglich um Auslotung von Standpunkten mit denen ein interessierte Leser eventuell etwas anfangen kann/könnte.

Ich kann mich täuschen, aber wenn man der Statistik der SMG (Südtiroler Marketing Gesellschaft) von 2014/15 Glauben schenken darf, ist die Schweiz die drittstärkste Nation, die nach Deutschland und dem restlichen Italien, Südtirol besucht. Da lohnt es sich schon etwas genauer hinzusehen und sich nicht auf billige Stammtisch-Klischees festzulegen.

Auch aus der Schweiz kommend und seit 17 Jahren im Südtirol ansässig, bin ich der Meinung, dass die Südtiroler Gastfreundschaft, die der Schweizer um einiges übertrifft und zwar mit all den dazugehörenden logistischen Aufgaben und Prozessen.

Do., 16.03.2017 - 15:53 Permalink