Politik | Justiz am Abgrund

Italiens kranke Justiz

Italien feiert Falcone und Borsellino als Helden der Legalität. Doch dem maroden Justizsystem des Landes droht der Kollaps.
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Foto: upi

Dass sich die Justiz für ihre oft skandalöse Ineffizienz an die Brust klopft, kommt nicht alle Tage vor. So geschehen vor wenigen Wochen in Turin, wo sich die Richterin Paola Dezani öffentlich dafür entschuldigte, dass die Vergewaltigung einer Minderjährigen ungesühnt bleibt. Das Vergehen ist verjährt, weil es in der Berufung neun Jahre verschleppt wurde. "La bimba è stata violentata due volte", so die bittere Erkenntnis der Richterin.  Oberstaatsanwalt Francesco Saluzzo machte die bestehende Misere für den peinlichen Fall verantwortlich: "Abbiamo 20.000 fascicoli pendenti in corte d'appello. È impensabile smaltirli in tempi brevi".

In Italien landet alles vor Gericht: die Nachbarschaftsfehde und der Kondominiumsstreit, die negative Schulnote und die Fehlleistung des Schiedrichters am Fussballplatz. "È la vita quotidiana degli italiani che si lascia docilmente colonizzare dai tentacoli dai tentacoli giudiziari," resümiert der Corriere. Richter entscheiden in Italien alles: ob eine ärztliche Therapie angemessen oder der Beschluss eines Bürgermeisters legitim ist. Dabei wagen sie sich  oft auf gefährliche Abwege. In Ivrea etwa masste sich Roberto Romeo eine europaweit einmalige Entscheidung an:  der Tumor eines Angestellten sei durch lange Dienstgespräche am Handy ausgelöst worden. Der Arbeitgeber wurde zur Zahlung von 6000 Euro pro Jahr verurteilt.Viele Italiener haben es längst aufgegeben, sich über die verqueren Entscheidungen ihrer Justiz zu wundern. Stoppt das Verwaltungsgericht Latium unter dem Jubel der protestierenden Olivenbauern den Bau der Erdgasleitung durch Apulien, hebt der Staatsrat wenige Wochen später das Urteil wieder auf, weil es "keinen Grund" für eine solche Entscheidung gebe.  

Der Arm der Justiz reicht in Italien weit in die Politik. Können sich die zerstrittenen Parteien des Landes nicht auf ein neues Wahlrecht einigen, überlassen sie die Entscheidung dem Verfassungsgericht. Dass der Rechtsstaat unter der fehlenden Gewaltentrennung leidet, liegt auf der Hand.

Die Dauer der Gerichtsverfahren ist rekordverdächtig. Ein Zivilprozess dauert in Italien durchschnittlich siebeneinhalb Jahre - das Dreifache Deutschlands. Die Zahl der verschleppten Verfahren liegt bei 2,7 Millionen.

Für die Beilegung eines gewöhnlichen Handelsstreits benötigt Italiens Justiz 1120 Tage, das Doppelte des OECD-Schnitts. All das schlägt sich in konkreten Zahlen nieder. In keinem anderen EU-Land tummeln sich sich auch nur annähernd so viele Anwälte wie in Italien: 370 auf je 100.000 Einwohner. Viermal so viele wie in Frankreich.

 

Die Dauerfehde zwischen Richterverband und Politik

 

Mit einer Sondersendung der RAI begeht Italien am Dienstagabend den 25. Jahrestag der strage di Capaci - ein längst ritualisiertes Gedenken an Giovanni Falcone und Paolo Borsellino. Zwei "Helden der Legalität", die freilich bis zu ihrer Ermordung von den Institutionen alleine gelassen und als "Profis der Antimafia" verleumdet wurden. Niemand hat sich jemals dafür entschuldigt oder Selbstkritik geübt. 

Im Gegenteil: Justiz und Politik liefern sich in Italien seit Jahrzehnten einen in anderen EU-Ländern unvorstellbaren Dauerkonflikt, in dem der bisherige Vorsitzende der Richtervereinigung Piercamillo Davigo im Fernsehen ungeniert die Regierung attackiert, der Politik "inaffidabilitá totale" unterstellt und sie der Korruption beschuldigt. Doch der lange Arm der Politik reicht tief in die Gerichtsbarkeit, die sich offiziell selbst verwaltet. Der Consiglio Superiore della Magistratura ist ein politisches Organ, in dem derzeit der PD-Vertreter Giovanni Legnini den Vorsitz führt. Die Richter kandidieren auf Listen, die weitgehend jenen der politischen Lager entsprechen. Versetzungen und Beförderungen werden häufig nicht nach Leistung, sondern nach politischer Opportunität entschieden.

In der Auslegung ihrer weitgehend unverständlichen 100.000 Gesetze waren die Italiener schon immer Meister. Nicht der Text gilt, sondern seine vielfach kühne Interpretation. Nicht die Regel, sondern die Ausnahme, der undurchsichtige Dschungel der paragrafi, norme, cavilli, commi, articoli, sottoarticoli, eccezioni. Wegen seiner notorischen Ineffizienz liegt Italien in der internationalen Rangliste mit insgesamt zehn Millionen unerledigter Prozesse auf dem 160. Platz. Dauert die gerichtliche Eintreibung einer Schuldensumme in Deutschland 300 Tage, sind in Italien dafür 1300 Tage vonnöten.  Erreichen in Frankreich und Deutschland weniger als 10.000 Fälle die dritte Instanz, sind es in Italien 50.000. Einzelnen Richtern kann man dabei keine Vorwürfe machen. Es ist das System, das einer dringenden und radikalen Reform bedarf. Die wiederum gilt in einem Land, in  dem sich Gerichte seit vier Jahren mit Berlusconis jungen Gespielinnen beschäftigen, als brisantes Politikum. Allein das Tauziehen um die Frage der Verjährung könnte das Parlament über Jahre beschäftigen.

Doch nun droht der krisengeplagten Justiz ein neues Erdbeben. Die knapp 5000 ehenamtlichen Richter (giudici onorari) einschliesslich Friedensrichter haben einen einmonatigen Streik angekündigt.  Sie fordern, was in anderen Berufen selbstverständlich ist: Sozialversicherung, Urlaub, Mutterschaft. Diese ehrenamtlichen Richter - meist Anwälte -erledigen einen Grossteil der Streitfälle, die sonst von Einzelrichtern entschieden werden und fast 100 Prozent aller Zwangsversteigerungen und Immobilenstreitigkeiten. Die Richtervereinigung sperrt sich gegen ihre Anerkennung.

Wie gut, dass Italien gerade in diesem Augenblick mit Falcone und Borsellino jene Helden der Legalität zelebrieren kann, deren Strahlkraft von den bedrohlichen Rissen und endlosen Polemiken im Justizsystem ablenken soll.

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Klemens Kössler Mi., 24.05.2017 - 14:20

Bevor wir hier vom Thema abkommen es geht um die nicht funktionierende Justiz. Rechtssicherheit ist wesentlich für eine Zivilgesellschaft. Auch darauf aufmerksam möchte ich wieviel Steuergelder hier verbrannt werden versenkt, in Luft aufgelöst, beim Fenster hinausgeworfen werden und dabei am maroden Zustand auch noch finanziell beitragen.
Dass die Richterschaft mit diesem Gesellschaftsfeindlichem Handeln fast gar nicht von der Presse wahrgenommen wird ist wohl vermutlich darauf zurück zu führen dass jeder Journalist irgendwann einen Richter braucht welcher ihm bei einer Anklage zur Seite steht und deshalb niemandem dieser Kaste auf die Füße treten will.

Mi., 24.05.2017 - 14:20 Permalink