Politik | Angst um Sicherheit

Stalingrad ade

Die frühere Industriestadt Sesto San Giovanni ist ein Paradebeispiel dafür, wie die Rechte mit dem Flüchtlingsthema eine bisher links regierte Stadt für sich gewinn
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Die Wahlforscher sind sich einig, dass bei den Kommunalwahlen die PD und mit ihr die gesamte Linke vor allem im Norden einbrach. Die Frage nach den Ursachen trifft gerade bei Kommunalwahlen auf eine Schwierigkeit: Sie sucht Allgemeinheit, wo die Besonderheit überwiegt, oder wo sich tausendmal (in so viel Gemeinden wurde gewählt) das Allgemeine mit dem Besonderen jeweils anders mischt und amalgamiert. So kann man nur das Besondere erzählen, um zu schauen, ob und wo in ihm vielleicht auch das Allgemeine erscheint.

Eine linke Tradition…

Hier soll die Geschichte von Sesto San Giovanni erzählt werden, einer 80.000-Seelen-Stadt, die zur Provinz Mailand gehört und wenige Kilometer nördlich vor den Toren der Millionenstadt liegt. Im 19. und vor allem im 20. Jahrhundert wurde der Ort aus einem Dorf zu einer bedeutenden Industriestadt, in der Eisen und Stahl, elektroindustrielle und (später) elektronische Produkte produziert wurden. Die Firmen, die sich ansiedelten, hatten klangvolle Namen: Falck, Magneti Marelli, Breda, und machten aus dem Ort eine imposante „Kathedrale der Arbeit“. Mit ihnen entwickelte sich eine Arbeiterbewegung, die eigensinnig und stark war, vor allem seit dem Beginn der 40er Jahre: Sie streikte gegen die Faschisten und gegen die Nazis. 1971 wurde dem Ort wegen seines antifaschistischen Widerstands eine Goldmedaille verliehen, die der Stolz seiner Einwohner blieb, ebenso wie das Etikett „Stalingrad“, das zum Synonym für seine Arbeiterschaft wurde. Die Gemeinderäte, die hier gewählt wurden, waren 70 Jahre lang „links“. Sie blieben es auch noch, als immer mehr Immigranten nach Sesto kamen: erst aus Süditalien, dann aus Ägypten, Marokko und anderen nord- und zentralafrikanischen Ländern.

… und ihr Ende

Dann kam in de 80er und 90er Jahren die Krise, die die gesamte europäische Stahlindustrie erfasste und Sesto in ein Trümmerfeld verwandelte: Ein Großunternehmen nach dem anderen legte seine Anlagen still (Falck setzte in nur sechs Jahren fast 7.000 Beschäftigte auf die Straße). Aus dem Ort wurde ein Friedhof der Industriebrachen, in denen die Camorra nachts heimlich Giftmüll vergrub. Die Arbeiterschaft zerstreute sich in alle vier Winde, und damit auch die von der KPI jahrzehntelang gepflegte linke Gegenkultur. Was blieb, waren Menschen „mit Migrationshintergrund“; ihr Anteil liegt heute bei knapp 20 %.

Um die ökonomische Verödung zu stoppen, versucht die politische Führung, der Stadt eine neue Entwicklungsrichtung zu geben. „Tertiarisierung“, so lautet jetzt die Parole: Die Stadt soll – mit einem großen Krankenhaus und vielen Instituten - ein Zentrum für Gesundheit und medizinische Forschung werden. Aber die gesamtwirtschaftliche Entwicklung Italiens macht sich auch in Sesto bemerkbar. Die kommunale Kasse ist leer, in ihr klafft ein 7 Millionen-Loch wegen nicht gezahlter Steuern.

Zwei Brandbeschleuniger

Bis zu diesen Kommunalwahlen gab es eine Bürgermeisterin, und sie hieß Monica Chittò (PD). Für sie war es noch selbstverständlich, sich für die Aufnahme von Flüchtlingen einzusetzen, was ihr Morddrohungen und sexistische Beleidigungen einbrachte. Plötzlich begann auch in Sesto eine Demagogie zu greifen, gegen die die Mehrheit der Bevölkerung lange Zeit immun schien. Zwei Dinge wurden zu Brandbeschleunigern. Das eine ist der Plan der örtlichen muslimischen Gemeinde, an der Stelle einer kleinen, provisorischen Moschee, die es schon heute gibt. eine große Moschee zu bauen, die Katar finanziert. Werde die neue Moschee gebaut, dann werde dies, so die Stimmungsmache der Rechten, Sesto in ein „Mekka des Nordens“ verwandeln. An jedem Freitag würden dann Tausende aus ganz Norditalien kommende Muslime die Stadt überschwemmen.

Anis Amri und die Folgen

Der zweite Faktor war ein Ereignis, das alles weiter zuspitzte. Anis Amri, der Attentäter von Berlin, taucht am Ende seiner Flucht durch ganz Europa einen Tag vor Weihnachten in Sesto auf, vielleicht weil er in der dortigen islamischen Gemeinde einen Unterschlupf sucht. Er gerät in eine Personenkontrolle der Polizei und wird mitten im Ort erschossen. Die Rechte stürzt sich auf den Fall und rührt sofort alles zusammen: neue Moschee, Immigranten-„Invasion“, Terrorismus. Was den Vorbehalten gegen die „fremde“ Religion nicht gelang, das gelingt dem Thema Sicherheit: Das künftige „Mekka des Nordens“ lockt offenbar schon jetzt Terroristen an. Das rückt nun in das Zentrum des Wahlkampfs. Salvini kommt, er wittert seine Chance. In der Stadt erscheinen anonyme Flugblätter, angeblich pro Chittò: „Wenn auch du ein muslimisches Sesto willst, wähle Chittò“. Die Postfaschistin Giorgia Meloni bringt es auf den Punkt: „Es geht darum, ob hier die größte Moschee Norditaliens oder ein neues Polizeikommissariat errichtet wird“. Sie ist natürlich für letzteres.

Da nach dem ersten Wahlgang die bisherige Bürgermeisterin noch 5 Punkte vor dem Kandidaten der Rechten liegt, werden die Wähler einer „Bürgerliste“, die mit 22 % der Stimmen Dritte wurde, zum Zünglein an der Waage. Noch vor der Stichwahl gelingt es der Rechten, den Sprecher dieser Bürgerliste zu sich rüber zu ziehen. In diesen Tagen schreibt auch der (im ersten Wahlgang weit abgeschlagene) Kandidat der 5-Sterne-Bewegung dem rechten Bürgermeister-Kandidaten einen Brief, in dem er ihn um einen Arbeitsplatz bittet (eine Besonderheit, in der viel italienische Allgemeinheit steckt). Die Rechte rühmt sich ihrer Bürgernähe und gewinnt die Stichwahl mit 59 % gegen 41 %. „Stalingrad“ ist Geschichte.

Wenn in dieser Geschichte eine positive Moral steckt, dann für die politische Rechte von Grillo bis Salvini.  Es ist das Rezept, das sie auch bei den nationalen Wahlen im nächsten Frühjahr anwenden wird: mit der Flüchtlingsfrage. Wenn die identitäre Karte allein nicht reicht, dann ist es das Argument Sicherheit. Damit ist jede Festung des „Gutmenschentums“ zu schleifen. Der Terrorismus des IS und der Zynismus Resteuropas werden helfen.

PS: In seiner „Rückkehr nach Reims“ beschreibt der französische Soziologe Didier Eribon am Beispiel der eigenen Familie, warum eine Arbeiterschaft, die seit Menschengedenken KPF wählte, plötzlich zur  rechtsextremen Front National überläuft. Er hat dafür vor allem zwei Erklärungen: einerseits ihr Gefühl, in der Krise von den eigenen „linken“ Vertretern verraten und sich selbst überlassen worden zu sein. Andererseits ein Rassismus, der auch in der Arbeiterschaft latent immer vorhanden gewesen sei und von der internationalistischen Rhetorik der KPF nur äußerlich überdeckt wurde. Beide Motive könnten auch beim Absturz der PD in Sesto (und anderen norditalienischen Städten) eine Rolle spielen: Wenn z. B. bisherige PD-Wähler das Erscheinen Amris so interpretieren, dass die Willkommenspolitik Terroristen anzieht und der Stadt Mord und Totschlag bringt.

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Martin Daniel Mi., 19.07.2017 - 19:48

Interessante Analyse mit der offenbleibenden Frage, ob nicht auch Renzis ganz persönlicher Charakter und seine Blairsche Mitte-Politik eine Rolle bei der Niederlage des PD spielten

Mi., 19.07.2017 - 19:48 Permalink
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Hartwig Heine Do., 20.07.2017 - 08:53

Ganz sicher trägt Renzis Charakter zu der Wahrnehmung vieler traditioneller Linker bei, dass sie von der PD verraten wurden (ich glaube, darüber schon fast zuviel geschrieben zu haben). Aber Sesto ist eben auch ein Beispiel dafür, dass noch ganz andere Faktoren zur Zerstörung einer Kultur beitrugen, die dort fest etabliert schien: die Hinweg-"Globalisierung" einer ganzen Industrie, die Tertiarisierung. Die abgewählte Bürgermeisterin wollte - mit ihrem Festhalten an der Willkommenskultur - zumindest an der internationalistischen Seite der Solidarität festhalten. Diese brach zusammen, als das Thema Sicherheit ins Spiel kam.

Do., 20.07.2017 - 08:53 Permalink
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Martin Daniel Do., 20.07.2017 - 09:44

Kann man versuchen von Sesto ausgehend diesen letztgenannten Aspekt auf die europäische und somit auf eine allgemeine Ebene zu heben, wodurch wir (ich) uns auf eine sehr heikle Güterabwägung einlassen: Inwieweit ist eine Mäßigung in der Willkommenskultur sinnvoll und rechtfertigbar, um zu verhindern, dass die Arbeiterschaft den Rechtspopulisten in die Arme getrieben wird? Weiter gedacht: Ist die Gefahr, ein zweites Ungarn oder Polen zu werden, als schwerwiegender einzustufen als die Anpassung der Willkommenskultur an die eigene Aufnahmefähigkeit? Ist diese Fragestellung utilitaristisch oder gar zynisch oder stellt sie sich zwingend aus pragmatischen, handlungsbedingten Gründen?

Do., 20.07.2017 - 09:44 Permalink