Politik | Eine Antwort

Immigration und Sozialstaat, ein Dilemma

Ich schulde Martin Daniel noch eine Antwort auf seinen Kommentar zu meinem Artikel „Stalingrad ade“ und möchte sie im Folgenden versuchen.
Hinweis: Dieser Artikel ist ein Beitrag der Community und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.
Dilemma
Foto: upi

Ich versuche die Antwort nicht nur deshalb, weil sich sein Kommentar schon in seiner Form auf angenehme Weise von der hate speech unterscheidet, die sich in den Internet-Foren (leider auch manchmal im „Salto“) austobt. Sondern vor allem, weil er ein ebenso reales wie grundsätzliches Problem anspricht, auf das es tatsächlich keine einfache Antwort gibt.

Daniels Kommentar war, kurz gesagt, der Vorschlag einer „Güterabwägung“, die er selbst „heikel“ nennt. Sei es besser, fragt er, die „Willkommenskultur“ ungebremst fortzusetzen,  und dabei in Kauf zu nehmen, dass die Arbeiterschaft „in die Arme der Rechtspopulisten“ getrieben werde, oder sei es besser, sie „pragmatisch“ der eigenen Aufnahmefähigkeit anzupassen, und dabei in Kauf zu nehmen, dass man sich dem polnischen oder ungarischen Paradigma nähert?

Das Problem, welches das freundliche Wort „Willkommenskultur“ nicht verdecken darf, ist die Frage nach ihrer sozialen, politischen und kulturellen Verträglichkeit. Ich versuche eine grundsätzliche Antwort - dass sich die Frage anders stellen würde, wenn es in Europa eine gerechte Verteilung gäbe, lasse ich beiseite.

Ursache des Populismus: nicht nur die Flüchtlinge

Erstens, so denke ich, kann man sich schnell darauf einigen, dass die „populistische Infektion“ nicht nur auf die Immigration zurückzuführen ist. Dahinter stehen auch ökonomische, soziale und kulturelle Veränderungen, die mit ihr nur wenig zu tun haben: die Aufkündigung des Klassenkompromisses, den es nach dem zweiten Weltkrieg in ganz Europa gab; die Hegemonie des Neoliberalismus auch über die politische Linke; der Zerfall der proletarischen Milieus, die den Arbeitern eine eigene Identität gaben; die Globalisierung, die (wie in Sesto) etablierte Formen der Industriearbeit zerstörten, ganze Landstriche veröden ließen und viele Menschen verunsicherten; die Finanzkrise, deren „Lösung“ zu Lasten der Schwächeren ging. Es ist kein Zufall, dass heute Trump, Le Pen, die AfD und Salvini nicht mehr nur über die ihnen verhasste Immigration reden, sondern auch die „soziale Karte“ ziehen. Wenn wir die Grenzen gegen die Flüchtlinge dicht machen, würde der Populismus noch lange nicht verschwinden.

Partieller Werte-Konflikt: Immigration und Sozialstaat

Zweitens ist es richtig, dass es zwischen dem europäischen Sozialstaat, an dessen Erhalt wir alle, insbesondere aber die Lohnabhängigen interessiert sind, und der ungesteuerten Immigration tatsächlich einen partiellen Werte-Konflikt gibt. Zwar sind die europäischen Gesellschaften alternde Gesellschaften, die auf längere Sicht auf Zuwanderung angewiesen sind (die bekannte Frage, wer in 30 Jahren „unsere Rente bezahlt“). Aber dabei müsste es sich im Idealfall um eine gesteuerte Zuwanderung handeln, mit festen Quoten und passgenau qualifizierten Arbeitskräften. Also etwa das, was z. B. die deutsche Wirtschaft seit Jahrzehnten von der Politik erwartet (und von ihr bisher nur unzureichend bekommt) – und wogegen sicherlich auch die Arbeiter wenig einzuwenden hätten.

Das Problem beginnt, wenn die reale Zuwanderung nicht mehr „gesteuert“ ist. Was den europäischen Sozialstaat ausmacht, sind z. B. Mindeststandards: beim Lohn, bei Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen, bei der Gesundheits- und Altersfürsorge. Immigranten, die „ungesteuert“ kommen, entwickeln die Tendenz, sich in den Nischen festzusetzen, die der Sozialstaat ihnen lässt, d. h. sie arbeiten „schwarz“, für weniger Geld, unter schlechteren Bedingungen. Das bedroht die Mindeststandards, die im vergangenen Jahrhundert mühsam erkämpft wurden. Nicht umsonst war Milton Friedman, der Nobelpreisträger und Übervater des amerikanischen Neoliberalismus, für eine ungesteuerte (möglichst auch noch „illegale“) Immigration, um den (ihm verhassten) Wohlfahrtsstaat aus den Angeln zu heben.

Die Migration wird bleiben

Sollte man also die Grenzen verrammeln, um den europäischen Sozialstaat zu retten, wie es Österreich und die osteuropäischen Länder tun? Abgesehen davon, dass dieser Gedanke die Menschenrechte ignoriert, lebt er auch von einer Illusion. Die Migration ist zu einem weltweiten Phänomen geworden, das nicht nur an diesen oder jenen Einzelkonflikt gebunden ist und sich mit Knopfdruck wieder abschalten lässt. Die Gründe sind zunächst ein global gestiegenes Informationsniveau; ein Gesundheitswesen, das die Kindersterblichkeit verringert; verbesserte Möglichkeiten des Transports; rückständige und korrupte Regimes. Und schließlich sind es Gründe, für die der Westen (und damit Europa) zumindest eine Mitverantwortung trägt: wirtschaftlicher Raubbau (siehe die europäische Agrarpolitik); missglückte Interventionen, die religiöse und ethnische Langzeitkonflikte auslösten; ökologische Zerstörungen (samt Klimawandel), die ganzen Völkern die Lebensgrundlage entziehen.

Der „ungarischen Lösung“ fehlt die Perspektive

Welche Perspektive hat es, wenn sich Europa dagegen zur Festung rüstet, wie es Ungarn, Polen oder Österreich tun? Zunächst einmal wird es – ganz „pragmatisch“ – wenig bringen. Dafür sind die Fluchtursachen viel zu elementar, wie die Risiken für Leib und Leben zeigen, welche die Flüchtlinge auf sich nehmen. Das Zögern, dem ungarischen Beispiel zu folgen, hat aber auch sozialpsychologische und moralische Gründe, die manche als „Gutmenschentum“ belächeln mögen: Wer will schon Bürger eines Kontinents sein, der sich sein relativ gutes Leben damit erkauft, dass er die Elendsflüchtlinge, die an seine Tore klopfen und für deren Schicksal er mitverantwortlich ist, an den Grenzen ertrinken lässt oder in Konzentrationslager abschiebt? So würde Europa seine Seele verkaufen. Denn zu seiner Tradition gehört es, sich für Lösungen und Werte einzusetzen, die auch universell gelten können (beispielsweise die „europäische Idee“, die Menschenrechte). Der Ausbau Europas zur Festung wäre ein Rückfall in nationalistische Barbarei. Zumal gerade Ungarn und Polen zeigen, dass der Abschluss nach außen auch die innere Freiheit bedroht.

Ich weiß, eine grundsätzliche Lösung ist mit diesen Erwägungen nicht gegeben. Die könnten wir erst haben, wenn eine Weltregierung Einfluss auf die inneren Verhältnisse aller Länder nehmen könnte – davon ist die UNO weiter entfernt denn je. So bleibt für die europäischen Länder nur eine Gratwanderung: zwischen Öffnung und Regulierung, zwischen Hilfe und Kontrolle; zwischen Integrationshilfen für Migranten, die auch „mal fünf grade sein lassen“, und der Verteidigung und dem Ausbau (!) des Sozialstaats, indem wir leben und der auch ohne Immigration unter Druck steht. Eine Gratwanderung zwischen der (vergeblichen?) Einflussnahme auf die inneren Verhältnisse anderer Länder, aus denen die Menschen fliehen, und dem Versuch, trotzdem nicht zum Komplizen von Mörderregimes zu werden. Und dies alles in einem Europa, das in Sachen Migration immer noch um Handlungsfähigkeit ringt. Was unter solchen Bedingungen möglich bleibt, ist die ständige „Güterabwägung“, und zwar zwischen konfligierenden Zielen, von denen man keines aufgeben kann und zwischen denen man immer wieder neu nach dem erträglichsten Mittelweg suchen muss. Wer einfache Lösungen sucht, dem bleibt die nationalistische Regression. Die Versuchung ist groß, das zeigen nicht nur Ungarn und Polen. Besonders in Zeiten beginnender Wahlkämpfe.

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Martin Daniel Do., 10.08.2017 - 23:45

Danke für diese ausführliche und differenzierte Antwort. Eine kleine Richtigstellung zu meinem Kommentar: Ich meinte eigentlich abzuwägen, die Zuwanderung an die eigenen Aufnahmekapazitäten anzupassen, um nicht einen Rechtsruck in Kauf zu nehmen, der wie in PL oder HU Rechtstaat und Demokratie bedroht (nicht auch in Kauf zu nehmen, deren Einwanderungspolitik einzuschlagen). Diese Passage war wohl etwas missverständlich formuliert.

Do., 10.08.2017 - 23:45 Permalink
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Harald Knoflach Fr., 11.08.2017 - 09:12

Ausgezeichnete Analyse. Solch differenzierte Sichtweisen bräuchten wir viel viel öfter.
Einzig die Nennung Österreichs im Verbund mit den osteuropäischen Verweigerern versteh ich nicht ganz. Österreich hat mehr Asylbewerber aufgenommen als Deutschland (pro Kopf versteht sich) und im Gegensatz zu Südtirol - wo sich im Verhältnis nur eine sehr kleine Zahl an Asylwerbern aufhält - müssen so gut wie keine davon auf der Straße leben. Und seit zwei Jahren kontrolliert Deutschland seine Außengrenzen (zu Österreich). Österreich jedoch nicht seine zu Italien. Zu keinem Zeitpunkt. Während das italienische Militär z. B. in Winnebach zeitweise sehr wohl kontrolliert hat. Wie auch Frankreich, Dänemark, Schweden und Norwegen Grenzkontrollen eingeführt haben. Ähnlich wie Österreich an der Grenze zu Ungarn und Slowenien.
Kannst du mir erklären, wie das gemeint ist?

Fr., 11.08.2017 - 09:12 Permalink
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Benno Kusstatscher Fr., 11.08.2017 - 09:31

Herr Heine, in Ihrem ansonsten guten Beitrag beklagen Sie zu Recht die Renationalisierung, tragen aber selbst zur Renationalisierungsspirale bei. Es ist nicht die "deutsche" Wirtschaft, Arbeiterschaft und Politik, von der Sie sprechen, sondern europäische. Den Zeigefinger auf Österreich, dessen Politik ja in der Tat derzeit unakzeptabel poltert, akzeptiere ich nur nach einem vorausgehenden Mea Culpa. Schließlich sind es die deutschen (bairischen?) Grenzkontrollen, die Österreich in diese Zwickmühle bringen. Mögen wir alle die Spirale unsererseits stoppen.

Fr., 11.08.2017 - 09:31 Permalink
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Hartwig Heine So., 13.08.2017 - 10:53

Ich akzeptiere die Kritik, dass ich in meinem Artikel, der sich auf das grundsätzliche Spannungsverhältnis zwischen Immigration und Sozialstaat konzentrieren wollte, nicht die besondere Mittäterschaft Deutschlands hervorgehoben habe. Das Türkei-Abkommen ist ja zu einem guten Teil auch auf deutschem Mist gewachsen - und droht jetzt zu einem fatalen Modell für entsprechende Abkommen mit den afrikanischen Staaten zu werden, angefangen mit dem Phantomstaat Libyen. Die europäische Seele wird auch von Deutschland verkauft.
Meine Argumentation enthält übrigens noch eine weitere Lücke: Die Bereitschaft der Immigranten, sozialstaatliche Mindeststandards zu unterlaufen, ist zwar für Teile der einheimischen Bevölkerung - z. B. für die Lohnabhängen - eine Bedrohung, für andere Teile aber auch ein Segen. Ich meine jetzt nicht nur die vielen schwarz arbeitenden "Badanti", sondern auch die Rolle, die die afrikanischen und ostasiatischen Saisonarbeiter in der italienischen Landwirtschaft spielen (mit Sicherheit in Mittel- und Süditalien, das weiß ich aus eigene Anschauung, ob auch in Norditalien, müssten die Leser dieser Zeilen besser wissen). Das Ausmaß ihrer Ausbeutung ist schändlich, aber viele Klein- und Mittelbetriebe könnten ohne sie nicht mehr existieren. Ob es ein sozialer Fortschritt für Italien wäre, wenn diese Betriebe verschwänden, wage ich nicht zu entscheiden. Für die meisten Saisonarbeiter wäre es ein Unglück. In der Realität geht es auch hier darum, einen Mittelweg zu finden zwischen einer rigiden Verteidigung von Mindeststandards, welche in Wahrheit nur die Schwarzarbeit unterstützen würde, und dem Versuch einer Regulierung ("zweiter Klasse"), welche zumindest die schlimmsten Auswüchse des "Caporalato" verhindern würde.

So., 13.08.2017 - 10:53 Permalink