Kultur | Interview

“Es gibt keine unpolitische Kultur”

Der Historiker und Stadtarchivar von Brixen Hubert Mock arbeitet die Geschichte der Südtiroler Musikkapellen auf. Was sagt er über den NS-Marsch beim Oktoberfest?
Hubert Mock
Foto: Privat

salto.bz: Herr Mock, erstaunt es Sie, dass zwei Tiroler Musikkapellen im Jahr 2017 bei einem Anlass wie dem Eröffnungsumzug des Oktoberfests Sepp Tanzers “Standschützenmarsch” spielen? Trotz Empfehlung des Tiroler Blasmusikverbandes, dieses spezielle Stück nicht zu spielen?

Hubert Mock: Ja und nein. Es ist nichts Neues, dass viele Kapellen diesen Marsch im Programm haben. Dass er aber in München beim Oktoberfest, wo man im Fokus einer großen Öffentlichkeit steht, gespielt wird, finde ich angesichts der Empfehlung des Verbandes doch bemerkenswert.

 

Was hat es mit dem “Standschützenmarsch” auf sich?

Sepp Tanzer hat den Marsch 1941/42 komponiert und Gauleiter Franz Hofer gewidmet und zwar als Dank für die offizielle Ernennung der Wiltener Standschützenkapelle, deren Kapellmeister Tanzer war, zur Gaumusikkapelle. In der Folge wurde der Marsch bei zahlreichen NS-Veranstaltungen gespielt. Das in den Marsch integrierte Lied “Hellau, miar sein Tirolerbuam” wurde vor allem bei HJ-Veranstaltungen gesungen.

 

Die Geschichte der Südtiroler Musikkapellen ist interessanter als sie nach 1945 in der Regel dargestellt wurde.

 

Kann der “Standschützenmarsch” losgelöst von seiner Geschichte betrachtet werden? Im Sinne von “Es ist ja ein flottes Stück, deswegen spielen wir es”.

“Kann” schon, wie man sieht. Ob diese Vorgangsweise allerdings einem adäquaten Umgang mit dem Stück entspricht, ist eine andere Frage. Musiknoten sind für sich allein wertneutral, sie wirken allerdings nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum. Genauso wichtig wie die Noten selbst sind deshalb, meiner Meinung nach, ihre Entstehung und ihre Verwendung, also ihr Kontext.

 

Sie beschäftigen sich als wissenschaftlicher Leiter eines Aufarbeitungsprojekts, das seit 2014 in Südtirol läuft, mit der NS-Vergangenheit der Musikkapellen in Südtirol. Wie schreiten die Arbeiten voran?

Wir beschäftigen uns nicht nur mit der, wie Sie sagen, “NS-Vergangenheit” der Musikkapellen in Südtirol. Die Fragestellung ist viel weiter gefasst und thematisiert die Geschichte der Musikkapellen von 1918 bis 1948. Es ist dies ein überaus aufwändiges Projekt, wir sind aber an einem guten Punkt.

 

Dass bei einem Verband mit über 10.000 Mitgliedern unser Forschungsprojekt da und dort unterschiedlich gesehen wird, liegt geradezu in der Natur der Sache.

 

Wie erklären Sie sich, dass es in Südtirol, im Gegensatz zu Tirol, momentan keine Empfehlung des Verbands der Südtiroler Musikkapellen (VSM) gibt, den “Standschützenmarsch” nicht zu spielen?

Ich nehme an, der Verband möchte den Abschluss des Projektes abwarten und dann auf der Grundlage der Ergebnisse über die Abgabe von Empfehlungen entscheiden. Man sollte die Wirkung solcher Empfehlungen auch nicht überbewerten, wie man am aktuellen Beispiel des “Standschützenmarsches” beim Oktoberfest sieht. Die einzelnen Musikkapellen sind zwar Mitglieder des Verbandes, sie legen aber auch Wert auf ihre Eigenständigkeit. Mindestens genauso wichtig wie Empfehlungen “von oben” wären deshalb Diskussionen in den Vereinen selbst, ob dieses oder jenes Stück gespielt werden soll oder nicht.

 

Lassen Sie den Satz “Viele wissen über den Hintergrund des Stückes nicht Bescheid” (Zitat VSM-Obmann Pepi Fauster) als Rechtfertigung dafür gelten, dass das Stück nach wie vor – auch in Südtirol – gespielt wird?

Es kann schon sein, dass viele über die historischen Hintergründe nicht Bescheid wissen. Neben Unwissenheit ist hier aber wohl auch viel Gleichgültigkeit mit im Spiel, da und dort vielleicht auch ein bewusstes Nicht-Hinsehen-Wollen bzw. eine mangelnde Sensibilität im Umgang mit problematischen Phasen unserer Geschichte. Mit unserem Forschungsprojekt möchten wir über die wesentlichen historischen Entwicklungen, Hintergründe und Zusammenhänge in Bezug auf die Geschichte der Südtiroler Musikkapellen von 1918 bis 1948 informieren. Wer danach bestimmte Stücke spielen will, kann es immer noch tun. Aber er soll nicht mehr ohne weiteres sagen können, er hätte nichts gewusst. Welche Stücke eine Kapelle spielt, wird dann mehr als bisher ihre Entscheidung und Verantwortung sein.

 

Dass der Marsch beim Oktoberfest, wo man im Fokus einer großen Öffentlichkeit steht, gespielt wird, finde ich angesichts der Empfehlung des Verbandes bemerkenswert.

 

Der Tiroler Volksmusikwissenschaftler Thomas Nußbaumer sagt, Blasmusikkreise hätten zum Teil einen “komischen Bezug zur Geschichte”, da man meinte, Musik und Politik trennen zu können. Erleben Sie das auch so?

Ja, die Haltung, Musik hätte mit Politik nichts zu tun, ist weit verbreitet. Wenn aber Musikvereine gefördert, unterstützt, behindert oder verboten werden, dann ist dies kein Zufall. Bei solchen Maßnahmen handelt es sich um jene operative Ebene, auf die ideologische Ausrichtungen, politische Interessen, die Welt- und Gesellschaftsbilder der jeweils Herrschenden im Zuge ihrer politischen Praxis heruntergebrochen werden. So gesehen gibt es im öffentlichen Raum keine unpolitische Kultur und auch kein unpolitisches Blasmusikwesen. Die politische Dimension gehört zur Kultur genauso wie die ökonomische und die soziale.

 

Wie viel Wille zur Kooperation und zur tatsächlichen Aufarbeitung besteht unter den Südtiroler Musikkapellen bzw. dem Verband?

Dass bei einem Verband mit über 10.000 Mitgliedern unser Forschungsprojekt da und dort unterschiedlich gesehen wird und dass sich manche auch reserviert gezeigt haben, liegt geradezu in der Natur der Sache. Insgesamt haben wir aber eine große Bereitschaft zur Kooperation erlebt, viele Kapellen haben uns Zugang zu ihren Archiven gewährt. Der Verband selbst ist zusammen mit dem Südtiroler Landesarchiv Träger des Projektes; er hat unsere Arbeit von Beginn an mit großem Interesse verfolgt und uns nach Kräften unterstützt. Dass es hier an Willen fehlen würde, die jüngere Geschichte aufzuarbeiten, kann man gewiss nicht sagen.

 

Musiknoten sind für sich allein wertneutral, sie wirken allerdings nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum.

 

Ändert die Tatsache, dass Südtirol von zwei Diktaturen besetzt wurde, etwas an der Herangehensweise an die Aufarbeitung? Man könnte ja meinen, der italienische Faschismus sei mit ein Grund, dass viele Südtiroler die Nazis im September 1943 als “Befreier” mit offenen Armen empfangen hätten.

Wie die Herangehensweise wäre, wenn es den Faschismus (oder den Nationalsozialismus) nicht gegeben hätte, weiß ich nicht, interessiert mich aber auch nicht besonders. Die Frage, wie viele NS-Anhänger es in Südtirol gegeben hätte und wie viele Leute den deutschen Besatzern im September 1943 zugejubelt hätten, wenn es den italienischen Faschismus nicht gegeben hätte, mag reizvoll sein, von geschichtswissenschaftlicher Relevanz ist sie nicht. Es hat bereits vor dem Ersten Weltkrieg deutschnationale Kreise gegeben, es hat den Tiroler Volksbund gegeben und die so genannten “Schutzvereine”, die den Boden mit bereitet haben, auf dem später NS-Sympathien “gedeihen” konnten. Und es hat ab 1933/34 mit dem VKS bekanntlich eine nationalsozialistisch ausgerichtete Untergrundorganisation gegeben, die sich als antifaschistische Widerstandsbewegung verstanden hat. So wie im Hinblick auf den Erfolg des Nationalsozialismus in Südtirol der Faschismus als monokausale Erklärung der Geschichte nicht gerecht wird, so einfach ist es auch nicht, vom Faschismus zu abstrahieren.

 

2018 soll das Aufarbeitungsprojekt für die Musikkapellen abgeschlossen sein. Mit welchen Erkenntnissen ist zu rechnen?

Wir sind mitten in der Quellenarbeit, ich möchte deshalb nicht Ergebnisse vorwegnehmen und auch nicht einzelne Zwischenergebnisse herausgreifen. Eines aber kann ich sagen: Die Geschichte der Südtiroler Musikkapellen ist in dem von uns untersuchten Zeitraum viel komplexer, überraschender, widersprüchlicher, gerade deshalb aber auch interessanter als sie nach 1945 in der Regel dargestellt wurde.

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Hartmuth Staffler Fr., 22.09.2017 - 21:46

Die Erforschung der nationalsozialistischen Zeit, in der die schon lange vorher bestehenden Musikkapellen "gleichgeschaltet" und für die NS-Propaganda missbraucht wurden (wie auch die NS-Standschützen, die mit unseren echten Standschützen nichts zu tun haben und nur ihren Namen ursupiert haben), ist eine gute Sache. Dass man deswegen auf einen beliebten Marsch verzichten sollte, ist eine andere Sache. Sepp Tanzer hat den Standschützenmarsch nicht erfunden, sondern lediglich eine überlieferte Melodie als Marsch arrangiert, so wie er es auch beim Bozner Bergsteigermarsch getan hat. Sollten wir auch auf den verzichten? Ich schenke mir jetzt ein Glas Zweigelt ein, obwohl Prof. Zweigelt ein Nazi war, und ich trinke es auf das Wohl aller, die sich dem Nazi-Regime widersetzt haben. Das ist meine Art der "Historisierung". Warum kann man nicht auch den Standschützenmarsch historisieren und ihn auch im Gedenken an all jene Standschützen spielen, die mit dem Nationalsozialismus nichts am Hut hatten? Auf das "Hellau", das an den Düsseldorfer Karneval erinnert, kann man ja gerne verzichten.

Fr., 22.09.2017 - 21:46 Permalink