Politik | Katalonien

Die Medizin der friedlichen Loslösung

Laut Ulrich Ladurner (FF Nr.41/2017) ist demokratische Selbstbestimmung Gift, Katalonien sollte die Unabhängigkeit vergessen und sich dem spanischen Nationalismus beugen.
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Schon bedauerlich, dass er dabei die gewaltsame Repression eines demokratischen Prozesses bagatellisiert, als würden 800 statt 900 Verletzte einen Unterschied machen. Sogar das Serbien Milosevics hatte es 1991 dem Kosovo erlaubt, eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit abzuhalten. „Ihr berechtigtes Anliegen nach mehr Autonomie, nach einem besseren Finanzausgleich hat jetzt Schaden genommen“, schreibt Ladurner, als ob mehr Autonomie nach der Wahl zur Generalitat von 2015 überhaupt noch auf der Tagesordnung stünde. Diese Option haben schon 2010 einige spanische Verfassungsrichter vermasselt, als sie wesentliche Teile des neuen Autonomiestatuts kippten, das 2006 in einem Referendum von 73,2% der Katalanen gutgeheißen worden war. Die Schuld am Scheitern des Ausbaus der Autonomie schiebt Ladurner Barcelona zu: welch ein Fehlschluss. Hat doch gerade Katalonien seit 2010 immer wieder zu Verhandlungen gedrängt, während die unnachgiebige Haltung Madrids die maßgeblichen Parteien Kataloniens auf den Kurs Richtung Unabhängigkeit gedrängt hat.

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist kein „Gift der Separation“ (Ladurner), sondern ein Grundrecht, das gar nicht so selten demokratisch in Anspruch genommen wird. Seit 1991 haben weltweit 55 Unabhängigkeitsreferenden in substaatlichen Einheiten stattgefunden, weitere 4 sind bis 2019 schon angesetzt. 27 davon haben zur Unabhängigkeit geführt, meist zugunsten weit kleinerer Völker als den Katalanen. Die anderen sind im bisherigen Staat verblieben, weil die Mehrheit gegen die Sezession oder die Fragestellung anders gelagert waren. Die Staatspraxis zeigt, dass Regionen und Staaten immer wieder solche Prozesse friedlich vereinbaren und durchführen. In den meisten Fällen gingen den Referenden Verhandlungen voraus. 14 der heutigen Staaten Europas waren vor 1991 bloße Gliedstaaten größerer Einheiten. Sind all diese Länder infolge der Separation jetzt „vergiftet“, Herr Ladurner? Von den 55 seit 1991 abgehaltenen Referenden über die Souveränität eines Gebiets sind 28 ohne Zustimmung des Nationalstaats erfolgt, 27 mit Einverständnis. Dennoch sind sie in den meisten Fällen als souveräne Staaten anerkannt worden, auch von der EU bzw. den meisten EU-Staaten.

Katalonien bildet also keine so extreme Ausnahme. Es wird schwer zu bestreiten sein, dass die Katalanen als eigenständige Sprach- und Kulturgemeinschaft mit tausendjähriger Geschichte das gleiche Recht haben wie Slowenen und Slowaken, Esten und Letten, Litauer und Moldawier, Mazedonier und Montenegriner, Kosovaren und Schotten. Spanien muss dringend klären, nicht ob, sondern wie das von Madrid selbst ratifizierte Völkerrecht auf Selbstbestimmung in Katalonien angewendet werden soll, wenn dieses Recht überhaupt noch eine Bedeutung haben soll. Die Katalanen sind zwar kein unterdrücktes Volk wie die Kosovaren in den 1990er Jahren, dennoch können sie beanspruchen, über ihre Zukunft selbst zu befinden. Alles andere wäre Gift für Demokratie und Völkerrecht. Mit dem Dogma der Unteilbarkeit des Staats kann der demokratische Wille der Mehrheit der 7,5 Millionen Katalanen nicht auf Dauer unterdrückt werden.

Heute kann nur ein genuin demokratischer Prozess die von Madrid ausgelöste Eskalation einbremsen, nicht das Beharren auf dem besagten Verfassungsartikel zur Unteilbarkeit des Staats. Die Selbstbestimmung kleinerer Nationen Spaniens muss als demokratisches Verfahren rechtlich geregelt werden. Nach britischem Vorbild könnten sich Madrid und Barcelona auf die Verfahrensschritte bis zur Trennung einigen. Dieses Verfahren muss möglichst durch den Europarat oder die EU überwacht werden, wollen doch beide Kontrahenten Mitglied der EU bleiben. Unsinnig das Argument der „Spaltung“ der katalanischen Gesellschaft durch einen demokratischen Prozess, als wäre Katalonien vorher ein „einig Volk“ gewesen, als wäre Spanien dies in vielen politischen Fragen. Volksabstimmungen sind und bleiben die beste Methode der politischen Legitimation einer Entscheidung über die Souveränität eines Gebietes in einem demokratischen System, weil jeder mitbestimmen kann.

Heute steht in diesem Konflikt der spanische Nationalismus gegen den nationalen Emanzipationswillen der Katalanen. Wenn nicht wie in den letzten drei Jahrhunderten wieder das Recht des Stärkeren gelten soll, gestützt auf einen von den Katalanen nicht geteilten Verfassungsartikel, gibt es in einer Demokratie nur den Weg der Verhandlungen und einen demokratischen Volksentscheid. Spanien kann den Katalanen nicht auf Dauer vorschreiben, wie sie sich politisch zu organisieren haben. Staaten und Verfassungen sind von Menschen gemacht und auch abänderbar, wenn es die Mehrheit einer Nation in freier Abstimmung wünscht. Ladurner irrt, wenn er meint, die Katalanen gingen geschwächt aus diesem Konflikt hervor. Im Gegenteil: die Neuwahlen zum Regionalparlament können eigentlich nur die Unabhängigkeitsplattform „Junts pel si“ stärken, die die Unabhängigkeit ausrufen wird. Die Anwendung des Art. 155 zur Aussetzung der Autonomie Kataloniens wird ein weiteres Eigentor der Regierung Rajoy.

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19 amet Fr., 27.10.2017 - 11:33

Die Mehrheit der 7,5 Millionen Katalanen ist für die Sezession ? 2014 und 2017 haben beide Male etwas über 2 Millionen dafür gestimmt. 36% der Wahlberechtigten. Und mit diesem Drittel will man Grenzen erstellen, aus der Eu austreten und jahrelang den Eintritt verhandeln. Abgesehen dass Spanien, Frankeich, und Italien nie die Aufnahme Kataloniens in die Eu genehmigen werden. Den Hauptmarkt Spanien verlieren, und die sehr vielen spanischsprechenden Einwohner Kataloniens weiterhin unterdrücken indem man ihnen keine spanischen öffentlichen Schulen genehmigt ? Wer zahlt Madrid die 50 Milliarden Euro zurück, die es vor einigen Jahren an Katalonien gegeben hat als es vor der Pleite stand ? Wer garantiert die katalonischen Banken? Pudgdemont ist der gleiche nationalistische Gaukler und Aufhetzer wie die Brexit Fantasten. Grosse hehre Sprüche, aber ja nicht die Realität. Die gleichen Gaukler haben wir bei uns. Seit Jahrzehnten erzählen sie von ihrem Traum, aber noch nie wie das in der Praxis gehen soll. Kleine Fürstentümer sind nicht die Zukunft. Sie sind Ausgeburt der Vergangenheit, des Nationalismus mit seinen hunderten Millionen Toten, des Hasses gegen jeden Fremden, der Habsucht und des völkischen Denkens. Katalonien hat eine weitgehende kulturelle Autonomie, besser als Südtirol, aber sie wollen das Geld , und es ja mit niemand teilen. Darum geht es, der Rest ist Theater für das dumme Volk. Warum will der Pudgdemont keine Wahlen ? Weil
er dann von der Mehrheit abgewählt würde.

Fr., 27.10.2017 - 11:33 Permalink
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Benno Kusstatscher Fr., 27.10.2017 - 13:16

Die Betonung von Volk und Völkerrecht und die Reduktion des Emanzipationswillens auf den vermeintlich nationalen Aspekt, positionieren die Katalanen in eine konservative Ecke, die dem Thema nicht gerecht wird. Hier schwelt möglicherweise ein durchaus progressistischer Aufbruch in ein neues Europa, das wir nicht durch Vokabular, das den Kommentatoren wie auch den Katalanen selbst noch fehlt, in Reflexe auslösende Schienen lenken.

Fr., 27.10.2017 - 13:16 Permalink