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Gestutzte Autonomie

Die verpflichtenden Sportstunden in Grund- und Mittelschule werden aufgestockt. Doch es gibt einen Haken. Und die Lehrpersonen stehen zunehmend unter Druck.
Schulsport
Foto: Pixabay

Wieder einmal soll’s die Schule richten. Weil “europaweit noch nie so viele Kinder und Jugendliche übergewichtig waren” und “internationale Studien motorische Defizite zeigen”, wird an Südtirols Grund- und Mittelschulen der Sportunterricht aufgestockt. Mit einer Großoffensive trat Philipp Achammer in den vergangenen Wochen als sportlicher Bildungslandesrat auf. Die Schulkinder dürfte es freuen, auch Sportmediziner, Spitzensportler und Sportverbände tragen die Initiative mit. Dessen ungeachtet könnte die Entscheidung, so beliebt sie auch scheinen mag, ein Schuss ins Knie sein.

Sport und Bewegung sind wichtig. Darüber ist man sich im ganzen Land einig. Je früher man sich ausreichend bewegt, desto körperlich gesünder und geistig fitter wird man auch im Alter leben. Einen Haken hat der Beschluss der Landesregierung, die auf Initiative von Landesrat Achammer am 28. November die zusätzlichen verpflichtenden Sportstunden genehmigt hat, dennoch. Vor allem für die Lehrpersonen in den Grund- und Mittelschulen dürfte dieser Haken auf der Hand liegen – wie erste Reaktionen bereits zeigen.

 

Woher nehmen, wenn nicht stehlen?

Ab dem Schuljahr 2018/19 gibt es an allen deutschsprachigen Grundschulen im Land 3 Stunden Sportunterricht in der Woche für die ersten Klassen, in der 2. bis 5. Klasse müssen es 2 Wochenstunden sein. Ebenso wird der verpflichtende Sportunterricht in den Mittelschulen auf 2 Stunden pro Woche aufgestockt. Das sieht der Beschluss der Landesregierung von Ende November vor, mit dem die Rahmenrichtlinien für die deutschsprachige Grund- und Mittelschule entsprechend abgeändert wurden. Die Gesamtunterrichtszeit wird wegen der aufgestockten Sportstunden nicht erhöht. Sprich, die bisherige verpflichtende Stunden-Grundquote für die Grund- (850 Unterrichtsstunden im Jahr) und Mittelschulen (918 Jahresstunden) bleibt unverändert.
Auch der Wahlpflicht- und der Wahlbereich bleiben unangetastet. Woher aber kommen die zusätzlichen Sportstunden dann?

Um das nachzuvollziehen, muss man wissen, dass die Grund- und Mittelschulen ein gewisses Grad an Autonomie besitzen. So können etwa Grundschulen einen Teil der verbindlichen Grundquote, der 850 Unterrichtsstunden im Jahr, frei verplanen. “Diese Unterrichtszeit können die Schulen autonom verwenden und auf Fächer aufteilen, die sie potenzieren wollen”, erklärt Martina Rainer, Inspektorin für die Unterstufe im Deutschen Schulamt. Die Grundschulen bzw. die Schulsprengel entscheiden also selbst, ob sie zum Beispiel die Deutschstunden aufstocken wollen, den Englisch- oder eben den Sportunterricht. So wie es viele Grundschulen bereits heute machen. “An etwa der Hälfte der deutschsprachigen Grundschulen im Land gibt es bereits 2 Wochenstunden Sport”, bestätigt Rainer. Weil sie es autonom entschieden haben.

“Wir Lehrpersonen sind in keinster Weise GEGEN die vermehrten Sportstunden, nein, wir begrüssen sie, aber NICHT SCHON WIEDER AUF KOSTEN DES KERNUNTERRICHTES!!!”
(Isabella Fabbro, Grundschullehrerin in Margreid)

Nun werden die 3 bzw. 2 Wochenstunden Sport jedoch für alle Grundschulen zur Pflicht. Um die zusätzlichen Sportstunden in der Gesamtunterrichtszeit unterzubringen, wird dafür in den abgeänderten Rahmenrichtlinien die “von der Schule frei zu verplanende Unterrichtszeit” gekürzt. “Das Zeitfenster wird verkleinert”, bringt es Martina Rainer auf den Punkt. Belief sich die Stundenanzahl, die die Schulen selbst verplanen konnten, auf 102 (für die 1. Klasse) bzw. 34 (2. - 5. Klasse) Stunden im Jahr, so stehen ab dem Schuljahr 2018/19 nur mehr 68 (1. Klasse) bzw. 34 (2. und 3. Klasse) und für die 4. und 5. Klasse gar keine mehr zur freien Zuteilung zur Verfügung. Kurzum, die Schulen können weniger Stunden auf die Fächer des Kernunterrichts verteilen.

Ein Problem dabei sieht Insepktorin Martina Rainer nicht wirklich: “Die inhaltliche Ausrichtung der Fächer ist ebenso in den Rahmenrichtlinien festgelegt und es wird davon ausgegangen, dass das Mindeststundenkontingent für die einzelnen Fächer ausreicht, um die Inhalte zu vermitteln.” Soll heißen, auch ohne Potenzierung, die die Schulen selbst über die frei zu verplanenden Unterrichtsstunden vornehmen kann, sollten die Schülerinnen und Schüler im Laufe des Schuljahres bereits die notwendigen Inhalte vermittelt bekommen. Ist dem tatsächlich so? Und birgt die nun vollzogene Aufstockung des Sportunterrichts wirklich keine Schwierigkeiten?

 

Der Haken: Es fehlt an Zeit

Am Dienstag Abend wird Bildungslandesrat Philipp Achammer auf Facebook zum Thema “Mehr Bewegung und Sport” Rede und Antwort stehen. Bereits im Vorfeld meldet sich eine Grundschullehrerin zu Wort. Isabella Fabbro unterrichtet an der Grundschule von Magreid – und zeigt den anfangs erwähnten Haken an dem Ganzen auf. “Vorweggeschickt: Wir Grundschullehrpersonen sind FÜR mehr Sport und Bewegung”, schreibt Fabbro auf Achammers Facebookseite. Doch dann folgt das große “ABER: Von irgendwelchen Fächern gehen die zusätzlichen Sportstunden weg”.

In einem ausführlichen Kommentar erklärt Fabbro, was mehr Sport und Bewegung für die Lehrpersonen und ihren Unterricht konkret bedeutet: “Wir Lehrpersonen sind angewiesen worden, uns jetzt Gedanken zu machen, von welchem Fach wir die Sportstunde abzwacken: von Italienisch, Religion und Englisch dürfen wir nicht. Die Antwort der Lehrpersonen war eigentlich eindeutig: vom Wahlpflichtbereich! Das gehe auch nicht, hiess es! Jetzt machen wir mal einen Sprung in die Vergangenheit: Als der berühmte Wahlpflichtbereich vor etlichen Jahren eingeführt wurde, wurden vom Kernunterricht 2 Unterrichtsstunden dafür weggenommen. Als vor einigen Jahren in der 4. und 5. Kl. 2 Stunden Englisch eingeführt wurden, wurden hierfür nochmals 2 Stunden des Kernunterrichts weggenommen (Deutsch, Mathe). So, und jetzt schon wieder weniger Kernunterricht wegen der zusätzlichen Sportstunde! Wie gesagt, es geht nicht um mehr Sport ist schlecht, im Gegenteil! Es geht aber sehr wohl darum, dass seit Einführung des Wahlpflichtbereiches und seit Einführung des Englischunterrichtes bei extrem verminderter Stundenanzahl unsere Lehrpläne und Rahmenrichtlinien in Deutsch und Mathe DIESSELBEN geblieben sind, und ich darf hinzufügen, dass diese in Deutsch und Mathe in der 4. und 5. Kl. äusserst umfangreich sind!! Was ist also die ganz logische Konsequenz daraus? Es fehlt uns Lehrpersonen leider die Zeit, den Grundschülern lebenswichtige Grundkompetenzen und Schlüsselqualifikationen wie das Lesen, Schreiben, Textverständnis u.v.m. beizubringen.

Mit ihrem Kommentar schickt Fabbro einen eindringlichen Appell mit: “Liebe Eltern, liebe Politiker, lieber Landesrat, unter diesen Rahmenbedingungen sind wir Lehrer nicht mehr im Stande, Ihre Kinder angemessen auf die Mittelschule vorzubereiten! Gerne lade ich Sie, Herr Achammer, auch einmal für einige Wochen an unsere Schule ein, damit Sie sich ein Bild von unserer ständig umfangreicheren Arbeit machen zu können.”

Entsprechend ihre Frage, von der sie – und vermutlich der eine oder die andere Berufskollege und -kollegin auch – sich von Philipp Achammer ab 18.30 Uhr auf Facebook eine Antwort erhofft: “Wie kann ich als Lehrperson bei ständig verminderter, reduzierter Stundenanzahl des Kernunterrichtes (Deutsch, Mathematik) und seit Jahren gleichbleibende Rahmenrichtlinien und Lehrpläne die Kinder angemessen auf die Mittelschule vorbereiten? Es fehlt den Kindern die Zeit, Lerninhalte angemessen zu vertiefen.”

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Waltraud Astner Di., 12.12.2017 - 17:11

Dabei war es schon ein Skandal 2 !! Unterrichtsstunden aus dem verpflichtenden Curriculum herauszunehmen und einen sog. Wahlpflichtbereich (Pflichtquote) einzuführen, wobei der Sinn desselben fragwürdig blieb und bleibt. Jetzt soll dieser unangetastet bleiben und wiederum vom Kernunterricht abgezwackt werden. Würde vorschlagen die Stunden vom Deutschunterricht zu nehmen, da wie die Grafik der Rahmenrichtlinien zeigt, in der 4. und 5. Grundschule ohnehin jetzt schon mehr Italienisch- als Deutschunterricht (Deutsch als Fach) stattfindet (Ironie off). Daran ändert auch das Fünfjahrestundenkontingent nichts, da wie jeder weiß, dass die Deutschstunden in der Unterstufe zu einem großen Teil in das Erlernen der Grundtechniken Lesen und Schreiben fließen, die die Grundlagen für das Lernen in allen anderen Fächern darstellen.

Di., 12.12.2017 - 17:11 Permalink
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Herta Abram Di., 19.12.2017 - 08:15

Als Mutter habe ich ein Interesse an guter Schulentwicklung.
Deswegen bin ich überzeugt, dass der Landesrat und sein Team, trotz der Herausforderungen, die es noch zu bewältigen gilt, auf einem guten Weg sind - hin in Richtung einer Schule der Potenzialentfaltung für SchülerInnen und Lehrer.
- Zukunftsschule entwickeln geht nur gemeinsam. Mit den Schülern, den Lehrern, den Eltern und den gesellschaftlichen Partnern. Alte Muster nicht nur im Bildungssystem, sondern auch in uns selbst, müssen dazu überwunden werden.

Di., 19.12.2017 - 08:15 Permalink
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Paolo Zanandrea Di., 19.12.2017 - 12:28

Antwort auf von Herta Abram

Ganz ihrer Meinung, Fr. Abram, was gibt es heute mehr "Kernunterricht", als jenen Kindern, die mit einer desaströsen Spiel- Sitz und Esskultur aufwachsen, zu versuchen min. 2x die Woche im Pflichfach (!) mit qualifiziertem Personal die Motorik zu verbessern? Es Könnte sein dass selbst diese 2 bis 3 Stunden in Zukunft angehoben werden müssen.
Mens sana in corpore sano!

Di., 19.12.2017 - 12:28 Permalink