Kultur | Salto Gespräch

"Wertvolles zu tun gibt es immer"

Ein Tiroler Anarchist in Schweden: Der Großvater des Autors Gabriel Kuhn stammte aus Meran, er selbst wurde in Innsbruck geboren. Ein Salto-Gespräch über Antiautoritäres.
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Salto.bz: Woher kommt Ihr Interesse für das Antiautoritäre?
Gabriel Kuhn: Ich denke, das begann mit einem Impuls, den viele Menschen teilen: man will sich nichts vorschreiben lassen und eigene Entscheidungen treffen. Mit dem Impuls können drei Sachen passieren: Wir können ihn verdrängen und uns bestehenden Autoritäten unterwerfen – entweder weil wir überzeugt sind, dass uns das gut tut, oder, was weit häufiger der Fall ist, weil wir keine Möglichkeit sehen, gegen sie aufzubegehren. Wir können uns in Machtpositionen manövrieren, wo wir uns nichts vorschreiben lassen müssen, weil wir es sind, die Vorschriften machen. Oder wir gestehen den Impuls auch anderen zu und gelangen zu dem Schluss, dass antiautoritäres Leben nur funktionieren kann, wenn niemand niemandem etwas vorschreibt, sondern wir uns die Regeln unseres Zusammenlebens gemeinsam erarbeiten. Das ist ein schönes Projekt, das Interesse durchaus verdient.

Südtirol war in der Familie immer ein Thema. In der deutschsprachigen Linken bin ich scheinbar einer der wenigen, der sich dafür interessiert. Die Linke hat die Frage praktisch aufgegeben, als der deutschnationale Einfluss überhandnahm. 

Seit wann sind Sie Anarchist, beschäftigen sich wissenschaftlich damit?
Ich war fünfzehn oder sechzehn, als einer meiner Lehrer das Wort „Anarchist“ fallen ließ. Ich wusste nicht, was es bedeutet, machte mich kundig und war begeistert. Schließlich hatte ich schon damals mit Autoritäten meine Schwierigkeiten. Das bedeutete aber auch, dass mein Verständnis des Anarchismus anfangs, wie bei vielen jungen Menschen, sehr individualistisch geprägt war. Persönliche Freiheit war um vieles wichtiger als soziale Gerechtigkeit. Ich war frustriert, als ich in Büchern zur Geschichte des Anarchismus lange Kapitel über die Arbeiterbewegung lesen musste. Es brauchte seine Zeit, bis ich verstand, dass es sozialer Gerechtigkeit bedarf, wenn persönliche Freiheit für alle gelten soll. Ich bilde mir ein, dass ich bis zum Ende meiner Schulzeit ein recht ausgewogenes Verständnis des Anarchismus entwickelt hatte. Im Fach Geschichte schrieb ich eine Arbeit darüber. Insofern begann auch meine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema schon im Gymnasium.

Sie sind unter anderem in Innsbruck aufgewachsen. Ihr Großvater wurde in Meran geboren. Verfolgen Sie das politische Geschehen in Südtirol? In Italien?
So gut es geht. Südtirol war in der Familie immer ein Thema. In der deutschsprachigen Linken bin ich scheinbar einer der wenigen, der sich dafür interessiert. Die Linke hat die Frage praktisch aufgegeben, als der deutschnationale Einfluss überhandnahm. Das ist irgendwo verständlich, gleichzeitig aber auch bedauerlich, weil das Feld damit der Rechten überlassen wurde. In Österreich hat die FPÖ heute quasi Deutungshoheit, was Südtirol betrifft. Insofern ist es erfreulich, wenn sie mit populistischen Forderungen abblitzt. Das Angebot, dass Südtiroler Sportler bei den Olympischen Spielen auch für Österreich an den Start gehen könnten, löste bei den Betroffenen wenig Begeisterung aus. Es geht schließlich nicht darum, unter welcher Flagge man bei Sportwettkämpfen aufläuft, sondern ob es Menschen gut geht. Dafür zu sorgen, ist die historische Aufgabe der Linken. Um dieses Versprechen umzusetzen, bedarf es allerdings linker Kräfte, die gut aufgestellt sind. Das ist heute selten der Fall.

Der Kapitalismus ist in der Krise, Menschen machen sich Sorgen und viele halten nach Alternativen Ausschau. Die Rechten bieten mit der Rückkehr zum starken Nationalstaat und geschlossenen Grenzen eine solche an.

Welchen Ratschlag haben Sie für linke Parteien in Europa?
Ich fürchte, die linken Parteien Europas warten nicht auf meine Ratschläge. Am wichtigsten scheint mir aber, realistische Zukunftsvisionen zu entwickeln, anstatt nur alte Floskeln aufzuwärmen. Der Kapitalismus ist in der Krise, Menschen machen sich Sorgen und viele halten nach Alternativen Ausschau. Die Rechten bieten mit der Rückkehr zum starken Nationalstaat und geschlossenen Grenzen eine solche an. Diese ist jedoch unmenschlich und wird auf lange Sicht auch das Leben derjenigen nicht besser machen, denen sie angeblich dienen soll. Grenzen machen niemanden glücklich. Glücklich machen nur solidarische Gemeinschaften. Die Linke sollte den Mut haben, radikale Lösungen anzubieten: nachhaltige Formen des Wirtschaftens, Basisdemokratie, auch Enteignungen. Was Menschen abschreckt, ist nicht Radikalität, sondern Phrasendrescherei.

Gehen Anarchisten überhaupt wählen?
Das kommt darauf an. Für manche Anarchisten kommt es einem Verrat gleich, wählen zu gehen, und sie sind stolz darauf, es noch nie getan zu haben. Es ist jedoch keine Leistung, nicht wählen zu gehen. In der Welt, in der wir leben, sind wir ständig zu Kompromissen gezwungen: wir verwenden Strom aus Atomkraftwerken, fahren mit dem Auto spazieren und telefonieren auf Smartphones, für deren Produktion Bergarbeiter in Afrika ihr Leben riskieren. Da kann ich auch ein Kreuz auf einen Zettel machen. Und wenn es darum geht, eine neofaschistische Regierungspartei zu verhindern, sollte ich das auch tun. Idealismus ist gut, aber wenn wir als politische Akteure glaubwürdig sein wollen, müssen wir uns zum Hier und Jetzt verhalten.

Warum dürfen Sie in den Vereinigten Staaten nicht einreisen?
Gerne würde ich jetzt eine Geschichte davon erzählen, wie viel Angst mein politisches Engagement der US-Regierung einjagt. Das Ganze ist aber recht banal. Als ich im Jahr 2005 zum letzten Mal in die USA einreiste, hatte ich kurz zuvor arabische Länder besucht und außerdem Bücher zu US-amerikanischen Protestbewegungen im Gepäck. Das erregte Verdacht, ich wurde mehrere Stunden lang am Flughafen verhört und letzten Endes landete mein Name auf der Liste unerwünschter Personen. Dagegen ist wenig zu unternehmen. Die Behörden verweisen schlicht darauf, dass es kein Recht, sondern ein Privileg sei, in die USA einzureisen. Es gibt Schlimmeres. Schade ist allerdings, dass ich meine vielen Freunde dort nicht mehr besuchen kann. Ich lebte mehrere Jahre in dem Land.

Außerdem gibt es ein Interesse der Herrschenden daran, Anarchisten in ein schlechtes Licht zu rücken. Das ist keine Verschwörungstheorie, sondern eine Tatsache, die sich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. 

Für viele Menschen bedeutet Anarchismus: Hausbesetzungen, Demonstrationen, gewaltbereites Tun und Chaos. Warum ist das so?
Das sind die medial transportierten Bilder. Es ist ja auch spannender, Anarchisten beim Steineschmeißen zuzuschauen, als beim Essenkochen. Außerdem gibt es ein Interesse der Herrschenden daran, Anarchisten in ein schlechtes Licht zu rücken. Das ist keine Verschwörungstheorie, sondern eine Tatsache, die sich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Dem Fokus auf die Gewalt fehlt jede Proportion. Was ist empörender: wenn irgendwo eine Fensterscheibe zu Bruch geht oder wenn Tausende von Menschen im Mittelmeer ertrinken? Die Antwort darauf ist einfach, Anarchist hin oder her. Und dass Demonstrieren per se nichts Schlechtes ist, weiß man auch in Südtirol.

Sie haben das Buch SOCCER VS. THE STATE geschrieben. Interessieren sich viele Anarchisten für Fußball?
Erstaunlicherweise ja. Lange Zeit war es in der Linken praktisch tabu, sich für Sport zu interessieren. Aber in postmodernen Zeiten, in denen sich vom Schlager-Hören bis zum Tatort-Schauen alles intellektuell rechtfertigen lässt, darf auch die Liebe zum Sport gepflegt werden. Zudem haben die Anhänger des FC St. Pauli in den letzten 30 Jahren Fußballbegeisterung für Linke salonfähig gemacht. In Nordamerika ist der Fußball sogar die populärste Sportart unter Anarchisten. Als Spiel, das viele Frauen und Migranten ausüben, fungiert es als Gegenstück zu den Nationalsportarten Baseball und American Football.

Erste organisierte Anarchisten waren beispielsweise präzise Uhrmacher im Schweizer Jura. Was weiß man dazu?
Historisch ist der Anarchismus eine Verbindung von Sozialismus und Liberalismus. Die Schweizer Uhrmacher waren für soziale Gerechtigkeit, schätzten aber gleichzeitig ihre Unabhängigkeit als Handwerker. Sie arbeiteten nicht in Fabriken, sondern in kleinen Werkstätten, oft alleine. Die Massenorganisationen der sozialistischen Arbeiterbewegung waren für sie nicht relevant, die liberalen und individualistischen Elemente des Anarchismus schon. Dieses Beispiel verdeutlicht, warum Marxisten den Anarchismus oft als kleinbürgerlich abgetan haben. Das ist nicht ganz falsch, aber auch kleinkariert, denn das Leben ist zu komplex, um politischen Widerstand und gesellschaftliche Veränderung in eine für alle gültige Formel zu pressen.

Wie könnte der Anarchismus Europa retten?
Soll der Anarchismus Europa retten? Erlauben Sie mir, die Frage etwas umzuformulieren: Wie kann der Anarchismus dazu beitragen, dass es den Menschen, die in Europa leben, besser geht? Da gibt es eine pragmatische und eine idealistische Antwort. Die pragmatische ist, dass der Anarchismus einen solchen Beitrag seit gut 150 Jahren leistet. Der Einfluss des Anarchismus ist weit stärker, als weithin angenommen. Warum er nicht wahrgenommen wird, hat einen einfachen Grund: sobald Ideen, die irgendwann einmal nur von Anarchisten und ein paar anderen Verrückten vertreten wurden, in der Mitte der Gesellschaft ankommen, werden sie von dieser in Anspruch genommen und die anarchistischen Ursprünge vergessen. Beispiele dafür gibt es genug: den Acht-Stunden-Tag, Meinungs- und Pressefreiheit, Abtreibungsrechte, sexuelle Befreiung, Veganismus usw. Für Anarchisten ist das zwar eine gewisse Genugtuung, aber zufriedenstellend ist es nicht. Man hat schließlich größere Ziele. Es soll nicht das Leben im derzeitigen System angenehmer gemacht werden, sondern ein ganz anderes System her, beruhend auf Gleichheit, Gerechtigkeit und Zusammenhalt. Damit wären wir beim Idealismus. Wobei: gegen das Ideal des Anarchismus haben nur wenige Menschen etwas. Die meisten meinen jedoch, dass es nicht realistisch sei: irgendwer müsse nach dem Rechten sehen und sicherstellen, dass das Wasser aus dem Wasserhahn fließt und der Müll entsorgt wird. Aber dazu braucht es nicht unbedingt den Staat. Zu welchen Formen der Selbstorganisation Menschen fähig sind, zeigt sich immer wieder, nicht zuletzt in Krisensituationen. Wenn wir positive Beispiele aufgreifen und daraus politische Modelle basteln, die Menschen mehr Kontrolle über ihr Leben geben und sie weniger abhängig machen von Politikern, die eh niemand mag, dann beantwortet sich die Frage, wie der Anarchismus unser Leben besser machen kann von selbst. Das aber braucht viel Arbeit und wird auf den Widerstand derjenigen treffen, die um ihre Privilegien besorgt sind. Macht aber nichts. Spannend ist der Versuch allemal.

Mit den anstehenden Prozessen soll ein Exempel statuiert werden und die Betroffenen müssen dafür bezahlen.

In Bozen kommt es demnächst zu Gerichtsverfahren gegen einige Demonstranten, die vor zwei Jahren an der Brennergrenze gegen das Grenzmanagement Österreichs protestierten. Wie sieht der in Nordtirol aufgewachsene Anarchist diese Proteste am Brenner und die nun stattfindenden Prozesse?
Fangen wir von vorne an: Was sich an den EU-Außengrenzen abspielt, gehört zu den Kapiteln der Menschheitsgeschichte, auf die kommende Generationen einmal zurückblicken werden, um kopfschüttelnd zu fragen: Wie war das möglich? Was sich dort abspielt, ist eine Tragödie und eine Schande für Europa. Es ist erfreulich, dass Menschen dagegen protestieren. Wie das am besten geschieht, darüber lässt sich immer diskutieren, aber man muss die Kirche im Dorf lassen: es kam zu Sachbeschädigungen und Scharmützeln mit den Ordnungskräften am Brenner, aber dazu kam es auch bei jedem Zeltfest, das ich in meiner Jugend besucht habe. Skandalös ist das kaum. Das Skandalöse ist die Grenzpolitik der EU. Mit den anstehenden Prozessen soll ein Exempel statuiert werden und die Betroffenen müssen dafür bezahlen.

Sie leben mittlerweile in Schweden. Wie anarchistisch lässt es sich dort leben?
Nicht mehr und nicht weniger als sonst wo auch. Ich muss bei Rot an der Ampel stehen bleiben, Miete bezahlen und die Kinder in die Schule schicken, sonst klopft die Polizei an die Tür. Es gilt, das Beste aus der Situation zu machen. Wertvolles zu tun gibt es immer.

 

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gorgias So., 18.03.2018 - 09:52

Was für ein nichtssagender Artikel. Wer sich nicht schon vorher einen Begriff vom Anarchismus gemacht hat, der ist jetzt auch nicht schlauer. Die Kritik am bestehenden kann nicht den Mangel an konkreten Vorschlägen nicht ersetzen. Wer dabei sein will an der Erarbeitung der Regeln unseres Zusammenleben, der sollte am politischen Prozess partizipieren und dabei selber denken und kritisch hinterfragen und nicht nur Politik nebenbei wahrnehmen, dafür braucht es keinen Anarchismus und hat bis jetzt auch nirgends funktioniert, bis auf ein paar Ausnahmen und nur für kurze Zeit. Deshalb während sich andere Ideologien nicht mehr zum Tagträumen eignen, weil sie durch die Realität eingeholt wurden. (Siehe Kommunismus) kann man mit dem Anarchismus noch Tagträumen und Sachbeschädigung und Körperverletzung verharmlosen.
Und nur weil bestimmte Ideen, die in dem Mainstream angelangt sind, anscheinend ihren Ursprung in einem durch anarchistische Ideen inspirierten Milieu entstanden sind, sagt das noch gar nichts über die Praktibilität des Anarchismus aus.

Diese Frage ist „Wie sieht der in Nordtirol aufgewachsene Anarchist diese Proteste am Brenner und die nun stattfindenden Prozesse?“ dermaßen verharmlosend und eines seriösen Journalismus unwürdig.
Doch auch die Antwort, obwohl sie das Teilweise beanstandet, ist im Grunde verharmlosend. Denn mit Bierzeltraufereien hatten die Geschehnisse der 3. Und unangemeldeten Protesten nichts mehr zu tun, sondern sind schon eher eine Vorstufe zum Terrorismus zu sehen. – Zu hoffen ist, dass die Richter nicht auf dem linken Auge blind sind.

So., 18.03.2018 - 09:52 Permalink
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ceteris paribus Mo., 19.03.2018 - 08:40

interessantes interview (nB. diese Feststellung halte ich nur wegen der obenstehenden Kommentare für angebracht - freilich hätten diese Personen vieeeeel Interessanteres zu erzählen, wenn sich bloß jemand erweichen würde)

Mo., 19.03.2018 - 08:40 Permalink