Gesellschaft | Migration

Die Ängstlichen, und die Schlafwandler

Die falschen Männer, zur falschen Zeit, am falschen Ort: Wenn Ängstliche "Politik" machen (wollen).
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Foto: Foto: Wikipedia

In der "Dolomiten", immer noch Tagblatt nur der Südtiroler, war neulich ein – für Dolomiten-Verhältnisse – ungewöhnlich groß angelegtes Interview veröffentlicht worden, über Migration, ihre Täter, und ihre Folgen für die kleine Heimat. Ich stehe noch heute unter dem Schock jenes Interviews, dessen Sinn sich mir nicht erschließen will. Seinen Zweck hingegen erahne ich, und mich schaudert's.

Ich will die Gelegenheit nutzen, um ein paar Gedanken über "Angst" los zu werden, denn das tut es ohne Zweifel, jenes Interview: Angst bestärken, und Angst verstärken. Als sei Angst nicht ohnehin schon allgegenwärtig, und als mache sie nicht ohnehin schon alles kaputt, was *wir* uns in jahrzehntelangem Mühen und Bemühen aufgebaut haben, unseren Frieden, und unsere Freiheiten, die wir schon gar nicht mehr bemerken, und noch weniger wertschätzen. weil wir uns so sehr daran gewöhnt haben.

Mit der Folge übrigens, auch so viel steht fest, dass unser aller Europa in immer schnellerem Tempo immer weiter nach rechts rückt. Wenn dieser Schub nicht gebremst wird, wird er früher oder später unweigerlich dort ankommen, wo nur noch der freie Fall ist, und die Tiefe (wenn ich denn könnte, würde ich also gern an das Verantwortungsbewusstsein kluger Menschen appellieren).

Einverstanden. Auch kluge Menschen müssen keineswegs davor gefeit sein, Angst zu verspüren, vor Neuem, Fremden und Fremdem. Angst ist ein sehr menschliches Gefühl, ein intelligentes zudem - ohne Angst könnten wir gar nicht leben: Angst ist ein Alarmsignal (man stelle sich eine Alarmglocke vor), diffus, meist auch konfus, und somit potentiell tödlich. Das sollten kluge Menschen eigentlich wissen, wenn sie Zahlen und angebliche Fakten verbreiten, unterschwellig und oberschwellig, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben, sie vielmehr verzerren, und damit die Wahrheit nachhaltig beschädigen, und mit ihr die Gesellschaften. 

Aber zurück zum Wesen der Angst, deren nächste Stufe "Furcht" heißt: sie ist er-lösend ("die Feuerwehr ist da"), die Gefahr erkannt, und also gebannt. Angst muss also zu Furcht werden, anderenfalls sie eine Fessel ist, und die in ihr Gefangenen ihre Geiseln. Diese, schrieb vor einiger Zeit Herfried Münkler, sei auch die Aufgabe der Politik (AdV: und kluger Menschen), nämlich Angst in Furcht zu verwandeln. 

Im Moment schaut es leider ganz so aus, als täten kluge Menschen und schlechte Politiker das genaue Gegenteil. Atemloses Erschrecken wie jenes angesichts besagten Interviews passiert mir nämlich immer öfter, und immer öfter kommt mir vor, als gingen auch die letzten europäischen – großheimischen, kleinheimischen – Bastionen der Vernunft zu Boden, angesteckt und verschreckt von den giftigen Dämpfen der hochexplosiven Angst-Mixtur, mit der unser Europa und seine Gesellschaften "behandelt" wurden und immer noch weiter werden, von skrupellosen Politiker-Kasten, auf allen Ebenen.

Gegenstimmen, die zu mäßigen und die Vernunft wieder in den öffentlichen Raum zu holen versuchen, werden kaum noch gehört, schaffen es immer seltener oder überhaupt gar mehr nicht ans Licht der Öffentlichkeit. Oder wer hat etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, vom schönen Satz des Bürgermeisters von Mailand gehört, vor ein paar Tagen, als er "Ricetta Milano" eröffnet hatte, eine 2,5 km lange, multiethnische Tafel (tolle Veranstaltung, übrigens): "Le paure ci sono, tutti le hanno, anch'io. Però Milano le paure le gestisce, non le butta addosso agli altri."

Accettarle, le paure. Ma soprattutto gestirle.

Daran jedoch haben offenbar die "Handvoll Männer auf Ego-Trip" (frei nach Franziska Giffey) kein Interesse, wie auch, ist doch die Angst ihr wirkmächtigster Handlanger auf ihrem Weg zur Macht. Noch nie war, so viel ich weiß, in der Geschichte der Menschheit so sehr – und so erfolgreich! – mit den Ängsten der Bevölkerung "Politik" gemacht worden wie in diesen letzten Jahren, mit wenigen Ausnahmen, und die führten alle in die größten Katastrophen der Menschheit. (Man korrigiere mich gerne, falls ich mich irren sollte). Wenn ich mir das so anschaue, nicht ohne Furcht, dann frage ich mich manchmal, was wohl aus der Welt geworden wäre, wenn Churchill damals, als die Welt – auch – über dem Abgrund hing, seine Bevölkerung nicht auf "blood, toil, tears and sweat" eingeschworen hätte, sondern, wie es heute üblich ist, "die Sorgen und Ängste des Volkes ernst genommen", ja, sie gar gehätschelt und getätschelt – mit anderen Worten: instrumentalisiert – hätte, den eigenen Polit-Profit immer fest im Blick.

Natürlich: Eine verängstigte Herde lässt sich leicht (ver-)führen, wohin auch immer.

Tatsächlich ist das Ziel der "Reise" auch nicht erkennbar, aber eins ist sicher: Es sieht gar nicht gut aus, dort, am Horizont, für die künstlich verängstigte und auf diese Weise sedierte Menschheit: Schemenhaft ersteht dort eine – düstere! – "Festung Europa" (was für ein Bild übrigens! als stünden Heerscharen schwer bewaffneter Krieger vor unseren Toren), von der man/n behauptet, sie sei der einzige Weg, Europa zu bewahren, vor der Überschwemmung, und mithin dem Untergang. 

Die/se Festung Europa, das schnell dahin gekritzelte "Rezept" (die nächste Wahl ist immer  nur einen Augenblick weit weg, und man/n will ja wieder dabei sein, als Gewinner, koste das, was es wolle) ist allerdings ein "Rezept" von Quacksalbern: Sie versprechen, ebenso vollmundig wie skrupellos, dass ihre gehaltlosen Mittelchen Linderung brächten, und sogar Heilung. Das ist natürlich blanker Unsinn, was aber die Quacksalber nicht stören muss: Bis der Patient gemerkt haben wird, dass er betrogen wurde, sind die Kurpfuscher längst über alle Berge, und dort wohlgepolstert in Sicherheit. Mit ihren Scheinmedikamenten behandeln sie im besten Fall einige der Symptome - welche die mittel- und langfristigen Folgen sein werden, dieser "Politik" auf Sicht, das kann sich jeder lebhaft vorstellen, die auch nur eine leise Ahnung hat von kurpfuscherischem Wirken und Werken: Sie, die Folgen also der gewaltigen Schäden, die derzeit programmiert werden, werden uns noch allen auf den Kopf fallen, uns, und unseren Kindern und Kindeskindern.

Das Klima ist mittlerweile dermaßen vergiftet, dass die Lüge schon längst über die Wahrheit triumphiert hat: Wahrheit ist kein Maßstab mehr, und Argument schon gar keins (die Welt hatte das schon einmal, kommt mir vor, und es ist gar nicht lange her). Jakob Augstein hat das in einer seiner letzten Kolumne bei SPON sehr eindringlich beschrieben: "Und dann hebt er zu Erklärungen an: dass gar nicht mehr so viele Flüchtlinge zu uns kommen, dass ohnehin die meisten innerhalb ihrer Heimat fliehen oder von den Nachbarländern aufgenommen werden. Er nennt lauter Zahlen und Argumente, die sicher alle richtig sind, aber je mehr man liest, desto mehr wird man von einem unheimlichen Gefühl erfasst: es kommt auf die Fakten nicht mehr an, sie sind gleichgültig, sinnlos."

Und so bauen sie also eifrig weiter, die Zerstörer, ungestört und ungerührt, an ihrer düsteren und angstbeladenen Festung Europa, und niemand hält sie auf, und immer mehr bauen alle mit: Die Schlafwandler, die Mutlosen, die Opportunisten, die Ängstlichen, die Klugen, die Kleinmütigen... manche als Baumeister, die anderen als Handlanger. Und sie alle vergessen, willentlich wissentlich oder nicht, dass die Ruhe, die in einer Festung herrscht, fast immer eine trügerische ist, und selten lange währt. Meist fällt die Festung, früher oder später. 

Sollten wir uns also Sorgen machen? Ja, das sollten wir, und zwar dringend – aber nicht die Sorgen, die die Herren Seehofer Söder Salvini Strache und wie sie alle heißen, die Bärenaufbinder mit den Kurz-en Augen und dem engen Blick, uns einreden und aufbinden wollen. Sie selbst sind das Problem, sie, das Häuflein Vorgestriger mit dem Brett vor dem Kopf und dem Kreuz vor den Augen, sie verspielen gerade die Zukunft Europas und damit unser aller Zukunft – nach ihnen die Sintflut –, weil’s ihnen mehr um das kleine Enge, als um das große Ganze geht. "Sie bekämpfen", schreibt Michael Thumann in einer seiner letzten Kolumnen bei Fünf vor acht (Zeit online) "das Europa, das über 60 Jahre aufgebaut wurde. Sie wollen zurück in die Kleinstaatlichkeit mit Grenzkontrollen, Wächterhäuschen und Warteschlangen".

Vorwärts also, nach rückwärts. Ein Häuflein Verängstigter (Unfähiger "die großen Herausforderungen unserer Tage anzunehmen" frei nach Thumann) als Vor- und Leitbilder für die Ängstlichen und Verängstigten. Wie absurd ist das denn.

Ja. wir sollten uns Sorgen machen. Denn ja, wir haben viel zu verlieren.

(PS. Ich empfehle, nicht nur den Verängstigten und auch, aber keineswegs nur, als Gegengewicht zum eingangs erwähnten Interview: Philipp Ther zu lesen, insbesondere sein Buch "Die Außenseiter", bei Suhrkamp).

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Sepp.Bacher Sa., 14.07.2018 - 15:33

Antwort auf von ueli wyler

Noch eine Ergänzung zu meinen obigen Überlegungen: In Bezug auf das aktuelle Thema der Schließung und Überwachung der Außen- und Binnengrenzen müssen Sie aber auch zugeben, dass die Schweiz - so wie andere Einwanderungsländer - immer an der Grenze entschieden hat, wen sie herein lässt. Niemals gab es Situationen, wo die Schweiz verkündet hätte "Kommt nur, dann werden wir schon sehen; irgendwie wird es schon gehen!" Und es gab auch Zeiten wo die Schweiz zeitweise auch keine Einwanderer aufnahm und Gastarbeiter nur saisonal bzw. auf begrenzte Zeit. Und diese Freiheit und Möglichkeit sollten auch EU-Staaten haben!

Sa., 14.07.2018 - 15:33 Permalink
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Sepp.Bacher Sa., 14.07.2018 - 18:56

Antwort auf von ueli wyler

ueli wyler, ich habe gerade ein bisschen gegoogelt, um statistische Daten über die Einbürgerung von Ausländern in der Schweiz zu finden. Ich hatte mich erinnert, dass es - jedenfalls in der Vergangenheit - in der Schweiz sehr lange dauerte, bis Einwanderer eingebürgert werden, sie also sehr lange als Ausländer gelten, was in den meisten Eu-Staaten nicht so ist. Das beeinflusst die Statistik. Ich konnte keine gesamtschweizerische Statistik finden. Aber eine Reportage der Badischen Zeitung im Zusammenhang mit der Abstimmung 2017. Dort werden Beispiele angeführt, wo eine 42 jährige Frau (Holländerin), die seit 34 Jahren in der Schweiz lebt, deren Mutter einen Schweizer geheiratet hatte , ebenso sie - und immer noch keinen Schweizer Pass hat. Oder von einem Amerikaner, Professor an der ETH Zürich, seit 40 Jahren in der Schweiz, wird nicht eingebürgert, weil er am Geografie-Test gescheitert ist. Auf diese Art kommt man in der Schweiz bald auf 30% Ausländer, wenn man Gastarbeiter, die vor Jahrzehnten in die Schweiz kamen, deren Kinder und Enkelkinder immer noch als Ausländer zählt! Sie können mich gerne berichtigen, denn meine Quelle ist nur eine Reportage einer Zeitung!

Sa., 14.07.2018 - 18:56 Permalink