Gesellschaft | Reportage

Die Philosophie von Georgiens Bergwelt

Wie ich Reinhold Messners Spuren in Georgien begegnete, die Philosophie der Bergwelt entdeckte, und das gruseligste Wanderabenteuer erlebte.
Landschaft zwischen Mestia und Ushguli
Foto: Julia Tappeiner

Der Georgier, mit dem ich mich lautstark in einer Bar im Hipster Viertel von Tbilisi unterhielt, um gegen die schallende Musik anzukommen, erstaunte mich aus zwei Gründen. Erstens sah er verdammt gut aus. Zweitens behauptete er, Reinhold Messner persönlich zu kennen. Anfänglich dachte ich, es sei einer dieser sarkastischen Sprüche, wenn man im Ausland mit Menschen ins Gespräch kommt und im Smalltalk seinen Herkunftsort preisgibt: „Ah, du bist Italienerin? Oh, dann kennst du bestimmt meinen Freund Berlusconi, haha“ Oder „Ah, du bist Amerikaner? Dann grüß mir mal den Trump ganz lieb.“ Dieser Kerl vor mir reagierte nicht wie sonst, wenn ich Menschen anderer Nationalität erkläre warum ich Italienerin bin aber deutsch spreche, mit Unverständnis. Er lächelte überrascht und sagte: „Ah, du bist aus Südtirol?“ Das allein schon ist ungewöhnlich, als er aber auch noch hinzufügte: „Messner ist ein Freund von mir,“ war ich völlig platt. Ich befand mich im äußersten Osten Europas, an der Grenze zu Asien und dem Nahen Osten und traf tatsächlich auf einen Einheimischen der einen meiner „Landesmänner“ persönlich kennen wollte? Er kramte sein Handy heraus und zeigte ein Foto von sich, Arm in Arm mit einem bärtigen Lockenkopf, den ich eindeutig als den bekanntesten Bergsteiger Südtirols erkannte. Und so begann Levan, selbst begeisterter Kletterer, mich in die Bergwelt Georgiens einzuführen...

Georgien war schon immer ein Land mit starker Bergtradition. Im Norden bildet der Große Kaukasus eine natürliche Grenze zu Russland mit Gipfeln bis zu über 5000 m, im Süden trennt der kleine Kaukasus das Land von der Türkei und dem Iran. Nur 13 Prozent des Landes erstrecken sich auf ebenen Flächen. Unter der Sowjetunion erlebte der Alpinismus in Georgien seine Blütezeit. Der Staat förderte die Bergsteiger, denn Kenntnisse in den Gebirgen waren eine essentielle militärische Stärke. So bildete der Kreml georgische Bergsteiger aus um die Heimat an der bergigen Front verteidigen zu können, während auf der anderen Seite Nazideutschland eine Kaukasus-Legion aus georgischen Exilanten formierte, die ihr Land aus der sowjetischen Okkupation befreien wollten. Auch im Kalten Krieg blieb der Bergsport in der UdSSR ein wichtiges politisches Instrument, denn das Wettrennen zwischen den beiden Supermächten beschränkte sich nicht auf die Erkundung des Weltraums; auch im Bergsteigen wollte man gegenüber dem Feind führen. So pumpte Stalin große Summen in die Ausrüstung für Bergsteiger, Universitäten beherbergten eigene Alpinismus Fakultäten und besonders tüchtige Kletterer erhielten staatliche Auszeichnungen. Levan wirkte stolz, als er mir von der langen Bergtradition seines Landes erzählte. Seine Augen funkelten im gedämpften Licht der Bar: „Im Westen war das Bergsteigen damals ein Hobby, das sich nur reiche Menschen leisten konnten. Bei uns aber ging jeder klettern, es war ein Massenphänomen.“ Levan machte eine Pause, denn nun kam er zum Abstieg der Geschichte.

Mit dem Zusammenbruch der UdSSR, brach auch die Bergsteigerkultur in Georgien zusammen. Das kommunistische System hatte keine privaten Strukturen hinterlassen, die den Bergsport weiter finanzieren konnten, somit verschwanden jegliche Fördermittel. Der Bürgerkrieg der frühen 90er Jahre richtete auch für die Alpinismus Kultur Georgiens Schaden an, erzählt Levan. „Der georgische Alpinismus Verein wurde besetzt und dessen Archive verbrannt, sodass alle historischen Dokumente über die georgische Bergsteigerkultur verloren gingen.“ Levan und ich hatten den ersten Krug georgischen Rotweins gelehrt. Er bestellte einen Zweiten. Wie es denn nun zum Treffen mit Messner gekommen sei, wollte ich wissen. Da schimmerte wieder etwas Hoffnung in Levans Augen und er blühte auf beim Erzählen.

Es war im Sommer 2017. Vier Jahre zuvor hatte das georgische Ministerium für Kultur und Sport die United Federation of Georgian Mountaineers ins Leben gerufen um die traditionelle Bergkultur im Land wiederherzustellen. Von der Regierung gefördert, widmet sich die Organisation der Re-Popularisierung und des Bergsports in Georgien, investiert in den Ausbau der Infrastruktur, oder bildet professionelle Bergführer aus, so wie Levan. Zur Überraschung der Mitglieder, kam eines Sommers Reinhold Messner zu Besuch und begleitete die Gruppe auf einen Ausflug nach Kazbegi, einem berühmten Berg im Osten Georgiens und beliebtem Touristenziel. Begeistert erzählte Levan von seinen Gesprächen mit dem berühmten Bergsteiger:

„Das Bergsteigen war für mich immer eine sehr spirituelle Erfahrung. Auch aus diesem Grund haben Messners philosophischen Ansichten mich sehr inspiriert. Messner hat gesagt, `auf dem Gebirge musst du dich etwas aussetzen. Wenn es keine Gefahr gibt, dann ist es kein richtiges Bergsteigen.` Meine erste Expedition war ein markerschütterndes Erlebnis, das mich zum ersten Mal erfahren lies, was Paranoia bedeutet. Unsere Gruppe kam in ein Gewitter und ich musste viele Stunden lang ausharren, während ich mich am Seil hielt und auf die zehn weiteren Männer wartete, die nach mir kamen. Ich war nass, mir war kalt und die Blitze schlugen über mir ein. Ich wollte einfach nur weglaufen, aber das konnte ich natürlich nicht. In solchen Momenten hast du die Wahl: Entweder du wartest voller Angst oder du wartest, aber ohne Angst. Es liegt an dir zu entscheiden, wie du diese Erfahrung erleben willst. Es gibt diese eine Sekunde, in der du dich entscheiden musst, und in dieser einen Sekunde passierte in mir die Überwindung der Angst. Ich entschied mich dafür, zu vertrauen. Denn darum geht es, um Vertrauen. In dich selbst und die Anderen in deinem Team.“

An Levans Worte würde ich mich später noch erinnern, als ich selbst im Gebirge zum ersten Mal richtige Angst verspürte. Mir wurde bewusst, wie sehr die Menschen hier die Natur respektieren, und wie wichtig es ist. Als ich mit meinen Scarpa-Wanderschuhen kurz vor dem Start einer Wanderung Tage zuvor einem weiteren georgischen Berg Fan und professionellen Bergretter begegnet war hatte dieser Zweifel an meinem Schuhwerk geäußert: „Du darfst die Natur niemals unterschätzen“, meinte er. Ich hatte seine für mich übertriebene Vorsicht nur belächelt und überheblich entgegnet, ich als Südtirolerin, wisse schon, wie man sich auf dem Berg verhält. Wie falsch ich doch lag. Wie engstirnig zu meinen, es sei auf jedem Gebirge gleich. Die Alpen sind nicht der Kaukasus. So, wie man sich jedem Land und jeder Kultur neu anpassen muss, muss man sich bei jedem neuen Gebirge auf ungewohnte Umstände einstellen. Man kann nicht einfach die alte Heimatschablone nehmen und sie auf die neue Umgebung darauflegen. Man muss sich für jede neue Situation eine neue Schablone an Erfahrungen, Fehlern und Lehren mühsam zusammenschneidern. Doch zu meiner Bergerfahrung später. In der Bar mit Levan saßen wir mittlerweile beim dritten Wein Krug, Levan wurde immer philosophischer in seinen Erzählungen und ich hang immer gebannter an seinen Lippen.

„Das Ziel im Bergsteigen ist es, von der Gesellschaft weg zu kommen um Selbstbestimmung zu finden. In einem Buch von Messner heißt es `nehmt mir alles, aber nicht die Selbstbestimmung`. Erst als ich selbst im Hang hing, konnte ich wirklich nachvollziehen, was Messner mit Selbstbestimmung meint. In einer Gesellschaft bist du von Anderen bestimmt. Es gibt Vorschriften, wie du dich verhalten sollst. In den Bergen gibt es niemand Anderen, der dich definiert, denn alles ist ok, auch wenn es lustig oder komisch aussieht. Auch wenn du mit deinem Penis hochkletterst. Es ist egal, ob du stinkst. Hauptsache du kommst an. Das ist das heiligste in den Bergen.“

Ich habe lange über Levans Worte nachgedacht, darüber, die Berge als eine Art Befreiung von gesellschaftlichen Konventionen zu sehen. Früher hasste ich die Berge. Ich sah sie als mein Gefängnis an, als etwas Einengendes, das mich in meinem kleinen Südtirol einsperrte und mir den Zugang zur großen weiten Welt verwehrte. Doch vielleicht habe ich dabei die große weite Welt in mir übersehen? Die innere Psyche eines jeden Menschen, deren Tiefen zu ergründen im Gebirge neue Möglichkeiten eröffnet? Levan schreibt selbst Essays über seine Erfahrungen und Erkenntnisse in der Natur. Über seine Leidenschaft für die Bergwelt und woher sie rührt.

„Warum, glaubst du, sind Berge so attraktiv für uns? Es gibt drei dynamische Elemente- Wasser, Feuer, Luft, deren Bewegung uns fasziniert. Wir können stundenlang den tanzenden Flammen zusehen, oder der Strömung des Wassers. Das vierte Element, die Erde, ist statisch. Der Berg bleibt gleich. Was also, fasziniert uns so daran? Ich glaube es ist gerade diese Ewigkeit und Statik, die uns anzieht und die uns bewusst wird, weil wir uns bewegen. Du bewegst dich auf den Berg zu, er aber ist einfach da. Unveränderlich und ewig.“

Eine Woche nach meinem Treffen mit Levan saß ich selbst im Minibus nach Swanetien, ein Gebirgsabschnitt des Großen Kaukasus im Norden Georgiens. Dank seiner Höhe und Unzugänglichkeit blieb die Region von den vielen Invasionen, die das Land über die Jahrhunderte heimsuchten, verschont. Aus diesem Grund beherbergt die Region einen Großteil des kulturellen Schatzes Georgiens, der in Kriegszeiten hierhin gerettet wurde. Viele der kleinen Dorfkapellen besitzen 1000 Jahre alte Fresken. Durch die verstreuten grünen Bergdörfer, die sich vor den massiven weiß besprenkelten Gebirgsspitzen entlang ziehen, blitzen die charakteristischen Wehrtürme auf, die zwischen dem 9. und 13. Jh. gebaut wurden. Früher wurden sie auch noch für Riten benutzt, heute beherbergen sie Museen oder werden privat bewohnt. Noch nie habe ich eine solch wunderbare Verschmelzung zwischen imposantem Naturschauspiel und kulturell einmaliger Architektur gesehen. Kein Wunder, dass Swaneti und seine Dörfer heute zum UNESCO Weltkulturerbe zählen. Die Region wird von Swanen bevölkert, die eine eigene Sprache sprechen, und noch heidnische Traditionen bewahrt haben, auch wenn georgisch die offizielle Amtssprache bleibt. Die meisten der Bergdörfer sind nur wenige Sommermonate im Jahr befahrbar, die restliche Zeit sind sie abgeschieden vom Rest der Welt.

Zur einzigen Stadt der Region, Mestia, fuhr die Marshrutka mich und meine drei Freunde die kurvige Bergstraße hoch. Die Verhältnisse der Straße waren besser, als befürchtet, Schlaglöcher hielten sich in Grenzen. Die einzigen Hindernisse waren ab und zu eine kauende Kuh mitten auf der Straße, aber das kannte ich von zuhause, oder ein einmaliger Aussetzer des Motors. In diesem Fall stiegen alle Insassen aus und schoben fleißig, bis die Marshrutka wieder ansprang. Auch von Steinschlägen wurden wir verschont, was mich angesichts der fehlenden Sicherheitsnetze entlang der hohen Berghänge etwas beunruhigt hatte. Ich erinnerte mich an den Ausblick, den Levan mir am Ende mitgab: „Georgien arbeitet gerade am Ausbau der Infrastruktur, der Straßen, der Sicherheitsvorkehrungen im Berg. In einigen Jahren werden viele entlegene Gebiete den Massen zugänglich werden.“ Auch Messner will mit Projekten in der Region mitwirken. „Als er auf dem Ushba war, meinte er, das sei einer der schönsten Berge, die er je gesehen hat. Hier will er noch ein Mountain Museum errichten. Und er plant, einen Film über den Ushba zu drehen.“ Das Projekt soll im kommenden Jahr beginnen.

Unsere Wanderung dauerte vier Tage, von der Stadt Mestia nach Ushguli, ein Bergdorf auf 2.200 Metern Höhe und somit die höchste Siedlung Europas. Niemals hätte ich mir das Abenteuer so anstrengend vorgestellt. Am ersten Tag musste ich feststellen, dass Wandern in Georgiens Bergen anders abläuft, wie zuhause in Südtirol. Die Wege sind nicht präpariert wie bei uns, die Beschilderung lässt zu wünschen übrig. Selbst die Kühe in Georgien sind anders, wie ich sie von zuhause kenne. Am ersten Tag kam uns an einem schmalen Gehweg, an dessen Rand ein steiler Hang abfiel, eine Rinderherde entgegen und bildete einen Stau. Die Kühe aber waren sehr höflich und leiteten den Verkehr zivilisiert um. Zwischen die Rinder hatte sich eine Sau mit ihren Jungen verirrt, die ungeduldig an ihren Zitzen nuckelten. Ein genervter Stier hinter ihr trieb sie weiter, denn sie blockierte den gesamten Gegenverkehr. Die Tiere wirkten frei, fast schon emanzipiert und aufgeweckt, ihre Euter hangen nicht schwer an ihnen herab. Der Charakter Südtiroler Tiere scheint durch unsere Haltungsweise träge geworden zu sein.

Widerwillig zog ich permanent Vergleiche zwischen den georgischen Bergen und meiner Heimat. Und zum ersten Mal überkam mich nach langer Zeit wieder dieses erdrückende Gefühl von Heimweh. Weder im vereisten Zug im russischen Sibirien, noch in den Tempeln Kambodschas oder im Dschungel von Laos hatte ich mich so einsam und fremd gefühlt. Ausgerechnet im georgischen Swaneti, wo doch alles so sehr nach Heimat aussah, fühlte ich mich fremd wie nie. Vielleicht rührte meine Nostalgie gerade von der Ähnlichkeit des Ortes, die aber nicht von der Einsicht hinwegtäuschen konnte, dass es doch nicht mein Zuhause war. Dort, wo alles anders ist, erträgt es der Mensch leichter, ein Fremder zu sein, denn es ist ein natürlicher Prozess. Doch im Anschein des vermeintlich Gleichen ist das Gefühl von Fremdheit schmerzhafter.

Durch die wilde und ungezähmte Natur kam es dazu, dass unsere Wandertruppe sich häufig verlief und mitten in der Pampa landete. Der Marsch zurück zum Wanderweg war mit großen körperlichen Anstrengungen verbunden, vielmehr aber mit psychischen. Ich lernte, was es heißt, gegen die Kräfte der Natur ankommen zu müssen. Am dritten Tag fing ich an, an meine körperlichen Grenzen zu stoßen. Bis dahin waren wir an reißende Flüsse ohne Überquerungsmöglichkeit gelangt, bei denen wir auf glitschigen Steinen hinüberklettern hatten müssen, ausgerutscht waren, uns die Knie aufgeschlagen hatten und bis in die Unterhosen nass geworden waren. Wir waren durch Moorfelder gewatet, die Schuhe in Matsch getränkt, jeden Tag von morgens bis zum späten Nachmittag, wo wir endlich ins Dorf gelangten, das uns beherbergte. Die Hausmannskost, die wir dafür von den alten Mütterchen erhielten, waren die Strapazen allerdings wert gewesen. Am dritten und vorletzten Tag unserer Wanderung kam dann der Moment der Angst, von dem Levan damals in der Bar erzählt hatte, wenn auch in einer weit weniger extremen Form, wie bei richtigen Expeditionen. Wir waren wieder einmal vom Weg abgekommen und fanden uns plötzlich in einem dichten und sehr steilen Waldstück, deren Boden mit Hüft- und teilweise sogar Brusthohen Sträuchern bedeckt war wieder. Wir mussten den steilen Hang hochklettern, indem wir uns die Sträucher und Wurzeln entlang hochzogen. Bis wir wieder zum begehbaren Weg fanden, mussten wir uns noch eine Schlucht hochkämpfen, an der ein kleiner Wasserfall herunterprasselte, von Stein zu Stein, ohne Sicherung. Ich dachte in diesem Moment, wenn ich eine falsche Wurzel greife, oder wenn ich auf einem der Steine ausrutsche, bin ich tot. Ich spürte die Angst, die mich überkam und mich am liebsten dazu bewegen wollte, einfach stehen zu bleiben. Doch dann kamen mir Levans Worte wieder ins Gedächtnis und ich entschied mich, darauf zu vertrauen, oben anzukommen.

Genauso erging es mir, als wir den Gletscherfluss überquerten. Wir hatten keine andere Möglichkeit, als unsere Schuhe und Hosen auszuziehen und bis zu den Oberschenkeln uns durch das strömende Eiswasser zu kämpfen, wobei wir uns an den Steinen hielten um auf die andere Seite zu gelangen. Ich hatte in meinem Leben noch nie solche Schmerzen vor Kälte gespürt. Wieder dachte ich während der Überquerung an den Tod. Entweder das Wasser reißt mich mit und ich schlage mir den Kopf an einem Stein auf, oder ich erfriere. Irgendwie schafften wir es auf die andere Seite. Meine Füße waren dunkelblau-violett, meine Zehen spürte ich für volle zehn Minuten nicht mehr. Ich spürte vor lauter Schmerz kaum mehr den Schmerz. Als das Gefühl allmählich wieder in meine Füße zurückkam hielt ich inne und blickte auf den thronenden Gletscher über uns, dessen eisiges Schmelzwasser wir gerade überquert hatten. Das Gefühl, das einem überkommt, wenn man auf der anderen Seite ist, oder wenn man oben ist, wenn man all die Strapazen überwunden hat, ist unbeschreiblich. Jauchzend und schreiend wanderten wir euphorisch weiter, im Hintergrund begleitete uns das dumpfe Tönen des Gletschers, wie ein Donnergrollen das jedes Mal erschallte, wenn sich ein Eisbrocken löste und den eisigen Hang hinunterrutschte. Die letzten Kilometer legten wir triumphierend zurück bis zum Endziel der Wanderung. So gut wie in jener Nacht hatte ich lange nicht mehr geschlafen.

Nach vier Tagen und über 3100 Höhenmetern in rund 60 km sehe ich die Berge nun anders. Bisher kannte ich sie als etwas Schönes, eine Freizeitbeschäftigung am Wochenende, ein Objekt von Heimatstolz vielleicht. Aber was lehren einem die Berge? Ich rede hier nicht von gemächlichen Touristenwanderwegen, wie ich sie von zuhause kannte. Ich rede von den Kräften der Natur. Ich rede von den transzendentalen Erfahrungen, die einen überkommen, wenn man tagelang nichts anderes macht, als zu gehen und um sich, kaum mehr hat, als Landschaft und Tiere. Der einzige Sinn liegt darin, am Abend am Ziel anzukommen und am nächsten Morgen weiterzugehen. Braucht man, um die Philosophie der Berge zu spüren, extreme Erfahrungen, krasse Expeditionen und Kletterrouten bis in die höchsten Gipfel? Ich glaube, eine viertägige Wanderung durch Swaneti würde reichen, um die Menschen dazu zu bringen, die Natur und die Berge ernster zu nehmen, zu respektieren, und vor allem, zu schätzen. Zurück aus den Bergen in die Stadt, schien mir plötzlich alles banal. Die Leute sprachen über Dinge, die passiert sind, anstatt darüber, was hinter den Dingen steckt. Ich fühlte mich fast verloren, auf einer anderen Ebene. Aber früher oder später findet man wieder zurück in das Alltagsleben am Tal und passt sich an die Gesellschaft an, an deren Konventionen, an die Oberflächlichkeit.

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Sepp.Bacher Mo., 24.09.2018 - 10:15

Bei diesem langem Reisebericht stößt man an ein Phänomen, das in den letzten Jahren immer häufiger vor kommt: jeder definiert die Grenzen Europas selbst und anders. So kamen die Flüchtlinge angeblich über dem Balkan nach Europa, obwohl sie schon beim Überqueren des Bosporus und des Ägäischen Meer Europa betraten. Andere rechnen Russland nicht mehr zu Europa? Für Julia Tappeiner gehört Georgien geografisch zu Europa (Ich befand mich im äußersten Osten Europas, an der Grenze zu Asien). Geografisch liegt Georgien im Süden des Große Kaukasus der eine natürliche Grenze zu Europa und Russland bildet. Sie verwechselt die Grenzen wohl mit jenen der alten Sowjetunion. Etwas anderes ist, dass Georgien politisch und kulturell sich eher an Europa anhängen will bzw. dazugehörig fühlt

Mo., 24.09.2018 - 10:15 Permalink