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"HCB hat Hausaufgaben nicht gemacht"

Kerry Goulet war selbst Profispieler in Deutschland und will über Gehirnerschütterungen im Sport aufklären. Der Fall Austin Smith traf ihn persönlich.
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Foto: Kerry Goulet

Kerry Goulet hat jahrelang in Deutschland professionel Eishockey gespielt. Der Ex-Profi gründete vor einigen Jahren mit NHL-Veteranen und verschiedenen Organisationen stopconcussions.com, um vorerst in Nordamerika und Deutschland über die schwerwiegenden Folgen von Gehirnerschütterungen im Sport aufzuklären. Auch Austin Smith wandte sich nach seinen Problemen während der letzten Saison mit dem HCB Südtirol Alperia an den früheren Crack. Gemeinsam mit seinem Team wollte man Austin Smith wieder in die Spur bringen und seine Verletzung kurieren. Doch wurde die Kompetenz seiner Organisation und einiger seiner Partner vom HC Bozen in der offiziellen Pressemitteilung zum Thema angezweifelt. Nun äußert sich der Kanadier im Salto-Gespräch dazu.

Salto.bz: Worum handelt es sich bei stopconcussions.com denn genau? Was biete die Organisation denn genau an?

Kerry Goulet: Stopconcussions wurde von Keith Primeau, ehemaliger NHL-Spieler und Kapitän der Philadelphia Flyers, seinem Bruder Wayne und mir gegründet. Wir haben alle gespielt und wir haben alle schwer unter den Folgen von Gehirnerschütterungen gelitten. Folglich wollten wir endlich dagegen vorgehen. Bei mir lösten die ganzen Kopfverletzungen Depressionen und Suizidgedanken aus; das sind die dunkelschwarzen Seiten dieser Verletzung, aber es war damals einfach kein Thema. Also wollten wir etwas auf die Beine stellen, um Spieler auf dieses Thema aufmerksam zu machen, ihnen aufzuzeigen, was sie mit ihren Gehirnen anstellen, sollten sie mit einem Kopftrauma aufs Eis gehen.

Meistens mussten sie sich Dinge anhören wie: 'Du bist psychisch einfach instabil' oder: 'Ihr Sohn befindet sich nur in einer Phase.'

Hat die Idee denn Anklang gefunden? Immerhin sagen Sie, das Thema Gehirnerschütterungen wird nicht auf die große Glocke gehängt.

Tatsächlich sind viele Menschen zu uns gekommen. Es ging um deren Kinder, andere Verwandte, sie selbst – und sie kamen zu uns, weil ihnen niemand zugehört hatte. Meistens mussten sie sich Dinge anhören wie: „Du bist psychisch einfach instabil“ oder: „Ihr Sohn befindet sich nur in einer Phase.“ Wenn man so etwas hört, fühlt man sich verpflichtet, dagegen vorzugehen. Wir wollten ein Programm entwickeln, um solchen Verletzungen vorzubeugen. Wir wissen, dass wir das Risiko für Gehirnerschütterungen im Sport oder im Leben nicht einfach in Luft auflösen können. Aber wir wollen es zumindest verringern und die Menschen darüber aufklären. Außerdem können wir so einen wertvollen Beitrag für die Forschung leisten.

Haben Sie und Ihre Partner die Organisation alleine aus dem Boden gestampft oder gab es Hilfe von anderen Organisationen, die vielleicht schon Erfahrungen diesbezüglich gesammelt hatten?

Wir arbeiten eng mit einer Organisation zusammen, die sich „Shift – Concussion Management Program“ nennt. Kopf davon ist Scott Haller. Jener Scott Haller, dem ja bekanntermaßen die Eignung zur Einschätzung von Fällen wie bei Austin Smith abgesprochen wurde (in der offiziellen Pressemitteilung des HCB Südtirol Alperia wurde angemerkt, dass sich Austin Smith während seines Aufenthalts in Kanada nicht von einem richtigen Arzt behandeln gelassen hatte, Anm. d. Red.). Sowohl Keith und ich hatten anfangs auch unsere Zweifel und es hat einige Zeit gedauert, bis uns klar geworden ist, wie wichtig Mr Haller eigentlich für unsere Bewegung und generell in Nordamerika bezüglich Gehirnerschütterungen ist. Daher haben wir angefangen mit ihm und Dr. Mickey Collins vom University of Pittsburgh Medical Center, wo Haller einen Teil seiner Ausbildung erhalten hatte, zusammenzuarbeiten. Wir hatten nun eine Organisation, die Aufmerksamkeit zum Thema schaffen und andere weiterbilden konnte. Außerdem konnten wir endlich auch eine Zulaufstelle schaffen, die die Verletzung richtig versteht.

Sie haben erwähnt, dass Scott Hallers Fähigkeiten und Expertise in Frage gestellt wurden. Um nochmal darauf zurückzukommen, erst einmal das Zitat: „Ende November begab sich Herr Austin Smith, auf eigene Anfrage und mit ausdrücklicher Erlaubnis, nach Kanada, um sich dort am 26.11.2017 einer Visite bei einer Vertrauensperson zu unterziehen, welche dann die Möglichkeit von sogenannten „microconcussions“ feststellte; wie sich jedoch aus den in der Folge erhaltenen Informationen herausgestellt hat, war dieser kein Arzt und erst recht kein Facharzt.“ Was sagen Sie dazu?

Der HCB hat hier wohl keine Lust gehabt, herauszufinden was „Shift – Concussion Management Program“ eigentlich ist. Sie haben in einem Punkt schon recht: Scott Haller selbst ist ein Osteopath; jedoch arbeiten in seiner Organisation sehr wohl Ärzte mit. Und zwar eine ganze Menge. Wenn man es mit Gehirnerschütterungen zu tun hat, kann man sich auch nicht nur auf die Diagnosen eines  Spezialisten eines einzigen Fachgebietes verlassen. Es ist ja nicht nur eine Gehirnverletzung. Man braucht Osteopathen, die sich mit dem Muskelgewebe im Nackenbereich kümmern; Chiropraktiker, Augenärzte, Psychologen und gegebenenfalls Psychiater, natürlich Neurologen – ein Arzt ist zu wenig, am besten hat man ein ganzes Team.

Es war ziemlich unfair von Bozen, Scott Haller abzuurteilen, ohne zuvor Nachforschungen über seine Ausbildung und Kompetenzen anzustellen. Haller hält im ganzen Land Fortbildungen für praktizierende Ärzte zur Identifikation, Diagnose und Handhabung von Gehirnerschütterungen – obwohl er kein Arzt ist.

Also können Sie mir bestätigen, dass Austin Smith in Kanada von Profis behandelt wurde und deren Diagnose gültig ist?

Ja, sie sind sogar zusätzlich nach dem Protokoll vorgegangen, dass man auch in der NFL und NHL bei der Reha von Spielern verwendet. Es war ziemlich unfair von Bozen, Scott Haller abzuurteilen, ohne zuvor Nachforschungen über seine Ausbildung und Kompetenzen anzustellen. Haller hält im ganzen Land Fortbildungen für praktizierende Ärzte zur Identifikation, Diagnose und Handhabung von Gehirnerschütterungen – obwohl er kein Arzt ist. Er arbeitet jedes Monat mit 200 bis 300 Menschen, die mit Gehirnerschütterungen zu ihm kommen. Somit halte ich die Behauptung, Austin Smith sei nicht von Profis behandelt worden, für unangemessen. Da hätten sie ihre Hausaufgaben besser machen müssen.

Hat denn niemand versucht, mit Scott Haller in Kontakt zu treten, nachdem die Diagnose gestellt wurde oder bevor die Pressemitteilung veröffentlicht wurde?

Nein, leider nicht. Es wäre nicht verkehrt gewesen, hätte uns jemand kontaktiert und nachgefragt, wie wir Austin hier behandelt hatten. Und vielleicht hätte man dann auch bei Scott Haller nachfragen können, welche Qualifikationen er und sein Team mitbringen. Dann hätten sie gerne ein Urteil fällen können. Haben sie aber nicht. Und wissen Sie, was mich am meisten an der ganzen Sache stört?

Bitte.

Dass diese ganze Geschichte aufs Geld reduziert wurde, anstatt wirklich auf die gesundheitlichen Probleme einzugehen. Man hatte entschieden, Austin Smith Bonuszahlungen nicht auszuzahlen, obwohl er im letzten Spiel auf dem Eis stand und sogar beim entscheidenden Tor einen Assist beigesteuert hat. Dennoch wurde die Entscheidung gefällt, ihn nicht zu bezahlen, die anderen schon. Der Präsident hätte sich wohl einen größeren Gefallen getan, Austin einfach zu bezahlen und dann Tschüss zu sagen. Wenn man so etwas vor hat, weil man das Gefühl hat, Austin sei nicht bereit, seinen Beitrag in so einem Spiel zu leisten, schick ihn doch nicht aufs Eis. Dann hat sich Austin in seinem Instagram-Beitrag gewehrt. Und schließlich muss man vom HCB lesen, dass Austin psychisch instabil sei – als ob das was außergewöhnliches wäre, fast schon um sich rechtzufertigen. Dass dies eigentlich eine logische Konsequenz seiner Verletzung ist, wurde außen vor gelassen. Sein Gehirn wurde beim Hockeyspielen beschädigt. Gleich wie bei mir und vielen anderen. Ich zum Beispiel litt unter Depressionen.

Wie konnte dieser Schaden nicht gleich erkannt werden?

Man war der Meinung, dass der Check, bei dem Austin die Gehirnerschütterung davongetragen hat, eigentlich nicht ausreichte, um so eine Verletzung zu verursachen. Es war ein eigentlich harmloser Check. Folglich hat man sich gefragt, wie er sich dabei ernsthaft verletzen konnte – und so entstand die Debatte, ob mit seiner Psyche alles in Ordnung sei, ob er simuliert oder ob er einfach den Druck nicht aushalten konnte. Jedoch als er getroffen wurde, war er schlichtweg nicht bereit: Er konnte seine Nackenmuskulatur nicht anspannen und wurde verletzt. Es gibt ja tatsächlich in Spielen manchmal Zusammenstöße, die grauenhaft sind – Kopf an Kopf – aber nichts passiert. Dann passieren Lappalien wie bei Austin und die haben eine Gehirnerschütterung zur Folge. Man konnte es regelrecht sehen, dass er etwas davongetragen hatte, direkt bei seiner Reaktion nach dem Zusammenprall. Aber keiner wollte es wahrhaben. Der Check war harmlos, Punkt.

Man war der Meinung, dass der Check, bei dem Austin die Gehirnerschütterung davongetragen hat, eigentlich nicht ausreichte, um so eine Verletzung zu verursachen. Es war ein eigentlich harmloser Check.

Hat Austin Smith wirklich seine Karriere wegen genau dieser Verletzung beendet?

Absolut. Ich frage mich überhaupt, wieso das ganze in Frage gestellt wird. Der Junge hört auf Eishockey zu spielen, das Spiel, das er so sehr liebt. Er fürchtet sich vor dem Schaden, den er seinem Gehirn zugefügt hat. Das sagt doch alles. Dieser junge Mann sollte noch spielen und wir haben dazu beigetragen, dass er es nicht mehr tut, auch ich. Er wollte spielen und wir haben ihn gelassen, obwohl er es nicht hätte dürfen. Aber die ganzen Beschuldigungen bringen nun auch nichts mehr. Es bringt nichts, den Schwarzen Peter zwischen Austin, dem HCB oder mir hin und her zu schieben. Wir sollten daraus lernen; auch damit Austin seine Karriere nicht umsonst an den Nagel gehängt hat.

Wie kann es denn sein, das so ein sensibles Thema wie Gehirnerschütterungen noch so unter dem Radar fliegt? Es geht ja hier immerhin um das Gehirn.

Ich erkläre das anhand einer Anekdote: Kürzlich war ich bei einem Kongress als Speaker eingeladen. Da hörte ich bei einem Vortrag, dass wir beim Gehirn medizinisch auf einem Stand sind, der dem Stand bezüglich des Herzens Ende der 90er-Jahre entspricht. Damals konnte man nicht einfach mal den Brustkorb aufmachen, das Herz kurz angucken und den Fehler finden. Mittlerweile müssen wir nicht einmal mehr was aufschneiden. Da gibt es mittlerweile Mikroskope, die das obsolet machen. Damals aber musste man oft Vermutungen anstellen. Nun, auf diesem Stand sind wir gerade beim Gehirn. Man sieht den Patient an und erkennt offensichtliche Symptome: Die Augen funktionieren nicht richtig, der Patient verhält sich anders als gewohnt, er übergibt sich, er hat Konzentrationsprobleme und so weiter. Das können wir sehen und wir verstehen das auch. Aber was gerade im Gehirn selbst passiert, das wissen wir noch nicht. Man kann Vermutungen anstellen: Das Gehirn wird durchgeschüttelt, die Axone überdehnen, es könnten sich Konsequenzen wegen der Tau-Proteine manifestieren, die neurodegenerative Erkrankungen hervorrufen können wie z.B. CTE (Chronisch-Traumatische Enzephalopathie); das kann man aber alles nicht sehen. Man muss das Anhand der Entwicklungen der Verletzung erahnen, was die Angelegenheit nicht einfach macht. Deshalb finden momentan ja auch so unglaublich viele Studien statt, es wird sehr viel geforscht. Wir verstehen die Ursache, wir verstehen die Konsequenzen, jedoch fehlt uns der mittlere Teil: die unmittelbaren Vorgänge und Auswirkungen, die von ersterem ausgelöst wurden und letzteres hervorrufen. Deshalb glauben viele Menschen auch nicht an einem Zusammenhang. Es ist unsichtbar, nicht greifbar, deshalb verschließen wir unsere Augen davor. Spricht man über CTE als direkte Folge dieser Verletzung, zweifeln noch viele, weil es noch nicht zu hundert Prozent bestätigt ist. Im Grunde ist es wie bei jeder Debatte: Einige stimmen zu, andere nicht. Und Sport ist nun einmal ein Geschäft, das kommt auch noch dazu. All die Personen im direkten Umfeld der Spieler – Fans, Funktionäre, Manager, die den Spieler spielen sehen wollen und ihn dafür bezahlen – haben gewisse Erwartungen, die erfüllt werden müssen. Da kommen dann Sätze wie: „Ach komm schon, du bist ein Sportler, du kannst spielen. Eine Spritze und alles ist wieder gut.“ Und diese Erwartungen treiben den Sportler dann zu Dingen, die sie eigentlich nicht tun sollten.

Also sind die Sportler manchmal auch selbst an ihrer Misere Schuld?

Sind sie in der Tat. Aber wieso werden sie zum Problem? Ganz einfach. Zu aller erst sind da die Schuldgefühle. Man hat immer das Gefühl, man schulde anderen etwas: den eigenen Fans, den Mitspielern und natürlich auch den Menschen, die dich dafür bezahlen, dass du deiner Leidenschaft nachgehen kannst. Die geben dir immerhin sehr viel Geld dafür, damit du Eishockey spielen kannst. Schon zu meinen Zeiten war das so, bei Austin ist es nicht anders. Wir werden bezahlt, um das Spiel zu spielen, das wir lieben. Da will man etwas zurückgeben. Man will, koste es, was es wolle, auf dem Eis stehen und dabei die körperlichen Schäden einfach ausblenden. Dann hattest du erst kürzlich eine Gehirnerschütterung, von der du dich objektiv gesehen noch nicht ganz erholt hast? Egal, der Spieler will spielen.

Man hat immer das Gefühl, man schulde anderen etwas: den eigenen Fans, den Mitspielern und natürlich auch den Menschen, die dich dafür bezahlen, dass du deiner Leidenschaft nachgehen kannst. Die geben dir immerhin sehr viel Geld dafür, damit du Eishockey spielen kannst.

Wie kann es denn eigentlich so schwierig sein, da ein Bewusstsein zu schaffen und ein paar Veränderungen einzuleiten?

Es ist manchmal einfach leichter, ein Problem zu ignorieren und nichts zu machen, anstatt unter Anstrengung einen Wandel einzuleiten. Schauen Sie einmal auf Ihre Gewohnheiten. Sie stehen auch nicht morgens auf und denken: „Heute krempel ich einiges in meinem Leben um“. Und die Führungsriegen vieler Teams kümmern sich recht wenig darum, was ein Austin Smith oder ein Kerry Goulet nach ihren Karrieren so machen. Sie interessiert das Hier und Jetzt, sie wollen Spiele gewinnen, damit mehr Fans ins Stadion pilgern, womit mehr Sponsoren angelockt werden, was wiederum mehr Geld einbringt. Wie schon gesagt: Sport ist ein Geschäft. Die Gesundheit und das Wohlbefinden Einzelner hat da nicht immer Priorität.

Was muss ihrer Ansicht dann geschehen, damit sich da etwas bewegt?

Das ist eine sehr, sehr schwierige Frage. Wie bringen wir die Menschen dazu, unser Vorhaben zu verstehen? Wie kann man Ligen einbinden? Ich wollte hier eigentlich nicht zum Rundumschlag ausholen und jedem Kompetenz und Verständnis absprechen. Es geht darum, dass man sich endlich an einen Tisch setzt und das Problem am Schopf packt. Die Verletzung ist mehr als real. Wenn wir nun weiterhin mit Scheuklappen durch die Welt gehen, werden wir immer mehr Spieler wie Austin Smith verlieren. Ich würde auch nach Bozen kommen, sollte man bereit dazu sein, etwas zu bewirken, kein Problem. Wir wollen mit unserer Organisation Besitzer, Ligen, Spielerberater und Ärzte versammeln, ihnen unser Protokoll vorlegen und im Austausch voneinander lernen. Wir haben die letzten acht Jahre hingebungsvoll gearbeitet und geforscht. Nun ist es an der Zeit, die Augen zu öffnen, nicht ans Gewinnen oder ans Verlieren zu denken und etwas zu unternehmen.

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Manfred Klotz So., 04.11.2018 - 08:13

In diesem Interview wird aber ein wichtiger Aspekt nicht erörtert, nämlich, dass sich auch andere Ärzte in Europa (nicht nur die medizinische Abteilung des HCB, sollte man der Befangenheit vorwerfen wollen) um den Gesundheitszustand von Austin Smith gekümmert haben und zu einem anderen Schluss gekommen sind.
Davon zu sprechen, dass der HCB seine Hausaufgaben nicht gemacht hätte ist also einzig und allein eine Schlussfolgerung des Autors, die allerdings an den Fakten scheitert.

So., 04.11.2018 - 08:13 Permalink