Kultur | Salto Gespräch

Aus der Realität flüchten

Der studierte Germanist Walter Garber hat ein Faible für Bücher und Platten. Ein Gespräch über ein Leben zwischen alten Schinken und der Musik-Figur DJ Veloziped.
walter garber
Foto: Salto.bz

salto.bz: Vor wenigen Wochen wurde die neue Bibliothek Marienberg eingeweiht. Wie haben Sie diesen Tag wahrgenommen?

Walter Garber: Es war ein freudiger Tag, vor über 6 Jahren haben mein Kollege Benjamin Santer und ich begonnen, die Bücher per Autopsie – also jedes Buch einzeln – wissenschaftlich zu katalogisieren. Dies geschah im Rahmen des Projektes Erschließung historischer Bibliotheken in Südtirol. Wir haben also jedes Druckwerk, egal ob ein ganzes Buch oder auch nur ein einzelnes Flugblatt, aus den verschiedenen Räumen in der Klausur mehrmals in Händen gehalten, bearbeitet und letztlich einen neuen Platz dafür im unterirdischen Neubau gefunden. Es ist ein gutes Gefühl, die Bücher jetzt in dieser einmaligen Architektur präsentiert zu sehen.


Was zeichnet diesen Buchbestand zu anderen historischen Bibliotheken besonders aus?

Wir haben ja über 40 verschiedene Buchsammlungen in Südtirol aufgenommen. Jede hat ihre Besonderheiten und Schätze. Marienberg hat natürlich einmalige Handschriften, die im Archiv aufbewahrt werden, aber auch Inkunabeln – Wiegendrucke – mit handkolorierten Initialen und einige schöne Raritäten.

Jemand muss die Daten der alten Welt in die neue Welt übertragen.

An wen richtet sich die eben erschienene Publikation an welcher Sie einen wesentlichen Beitrag geleistet haben?

Unsere Tätigkeit bestand ja in erster Linie darin, einen Internetkatalog der alten Bücher in Südtirol zu erstellen. Die Datenbank ist als Teil des Südtiroler Wissenschaftskataloges PRIMO online frei zugänglich. Die Publikationen liefern zusätzlich eine Dokumentation der geleisteten Arbeit. Bisher sind in dieser Reihe 12 Bände erschienen. Sie sollen auch einen Ansporn für weitere Forschungen bilden – beispielsweise Diplomarbeiten.


Wie war das Digitalisieren alter Bücher im Kloster?

Es war eine besondere Situation. Durch die Abgeschiedenheit haben wir vier Tage in der Woche durchgehend dort verbracht. Wir haben eigene Zimmer bekommen und waren somit viel stärker in den Klosteralltag eingebunden, wir haben mit den Mönchen und Klosterangestellten zusammen gelebt und gearbeitet. Dadurch haben wir ein besonderes Verhältnis zum Ort und den Menschen dort aufgebaut, das immer noch besteht.

Seit wann digitalisieren Sie historische Bücher? Welche Rückschlüsse offenbart Ihre Arbeit auf die Gegenwart?

Ich hatte vor Jahren bereits einen ähnlichen Studentenjob in Wien. Nach dem Studium bin ich 1998 nach Südtirol zurück und übe seitdem diesen Beruf aus. Ich habe diese Arbeit immer als Schnittstelle zwischen der alten Tradition der analogen Welt zur neuen digitalen Welt gesehen. Jemand muss die Daten der alten Welt in die neue Welt übertragen.

 

Ist das Digitalisieren von Büchern ein gutes Geschäft? Google scannt ebenfalls historische Bücher... 

Google scannt Bücher und häuft damit riesiges Wissen an, das online verfügbar wird. Sie versprechen sich dabei wohl einen großen Profit, wenn sie es gegen Bezahlung zur Verfügung stellen. Es gibt verschiedene Arten von Digitalisierung. Immer wieder begegnet uns das Missverständnis, dass EHB alle Bücher vollständig scannen und ins Internet stellen würde. Dem ist nicht so. Mit der Digitalisierung einer Bibliothek kann man einerseits die Volltextdigitalisierung verstehen oder andererseits die Erstellung eines digitalen Kataloges, der online verfügbar ist und in dem bibliographische Daten enthalten sind, also Autor, Titel, Titelzusatz, Umfang usw. aber auch die exemplarspezifischen Daten – Signatur, handschriftliche Notizen und Besitzervermerke, Exlibris usw.
EHB hat letzteres gemacht. Unsere Arbeit ist Teil der Gegenwart, ebenso wie die Klöster oder anderen Bibliotheksträger Teil der Gegenwart sind. Es ändern sich nur die technischen Hilfsmittel, aber das war immer schon so.

Sie haben diese Arbeit nun gut zwei Jahrzehnte durchgeführt. Wie kann man sich einen normalen Arbeitsalltag vorstellen?

In einem eigenen Raum, meist eines Klosters, hatten wir unsere Schreibtische und Computer aufgebaut. Durch das Internet waren wir mit dem Server verbunden, auf dem die Datenbank und unsere Bibliothekssoftware lief. Wir nahmen Buch für Buch nach wissenschaftlichen Kriterien auf. Da die Bibliotheken oft relativ ungeordnet waren, mussten wir vorher viel Sortierungs- und Aufstellungsarbeit leisten. Wir hinterließen so nach mehreren Jahren aufgeräumte Bibliotheken und eine Internetdatenbank, die inzwischen auf 850.000 Katalogisate angewachsen ist.
 


In Ihrer Freizeit katalogisieren Sie keine Bücher, sondern legen Platten auf Plattenteller. Ist die Tätigkeit als "DJ Veloziped" ein guter Ausgleich zu ihrer Arbeit?

Ich habe schon seit meiner Kindheit gerne gelesen und auch gerne Musik gehört. Beides waren schöne Möglichkeiten, aus der Realität zu flüchten. Ich bin einfach dabei geblieben. Als ich 1998 nach Südtirol zurückgekommen bin, war ich nicht zufrieden mit der Situation im Partybereich und wollte meinen Beitrag dazu leisten und mach es noch heute. Richtig zufrieden bin ich aber immer noch nicht.

Mit welchem Sound haben Sie angefangen die Leute zu unterhalten?

DJ-Musik hat mich schon seit meiner Teenagerzeit interessiert, es war die große Zeit der Afro-Cosmic-Mixtapes. Mit einigen meiner Helden von damals, etwa Beppe Loda, hab ich auch schon öfters zusammen aufgelegt, er ist jetzt über 60 und lebt diese Leidenschaft immer noch. In Wien hab ich dann in den 90ern die große Zeit von House und Techno mitbekommen, welche ja keineswegs von der Musik von vorher wie Jazz, Funk und Soul abgeschieden ist. Sie ist vor allem in Chicago und Detroit entstanden, wo das Erbe der Black Music mit Elementen europäischer Elektronik – etwa Krautrock – verbunden wurde und durch die Möglichkeit von neuen, günstigen Geräten wie Sampler oder Drumcomputer, etwas Neues geschaffen wurde.
Vor allem von der schwarzen Community in den USA, die mit großen Problemen – Arbeitslosigkeit, Rassismus, Kriminalität, Drogen usw. – kämpft, wurde großartige Musik hervorgebracht, bei der man die Leiden und Melancholie, aber auch die Lebensfreude und Begeisterung heraushört – wenn man ein Sensorium dafür hat.

 

Was macht Ihrer Meinung nach einen guten DJ aus?

Ein wenig auf die Leute eingehen, aber ihnen nicht „nach dem Mund reden“, sondern sie mitnehmen und ihnen auch mal neue Musik zeigen. Aber die Party macht nicht der DJ, sondern die Leute. Wer sich vom DJ Wunderdinge erwartet, wird enttäuscht. Die Leute sollten schon auch Lust auf Party haben und nicht immer nur das hören wollen, was sie schon kennen.

Wie beobachten Sie aktuelle Trends und die internationale DJ-Szene?

Ich beobachte sie schon. Es gibt seit vielen Jahren immer größere Verzweigungen und Mikroszenen. Große kommerzielle Events oder Festivals interessieren mich hingegen überhaupt nicht, eher kleinere Sachen an schönen Locations, wo noch ein direkter Kontakt zum DJ existiert. Die elektronische Musik kann Leute zum Tanzen bringen, sie ist aber auch gut zum Zuhören.


Welche Bücher katalogisieren Sie gerade in Ihrem beruflichen Alltag?

Momantan bearbeite ich das Archiv für Poesie von LiteraturLana. Das Archiv gibt es seit 1990 und wurde vom Verein der Bücherwürmer aufgebaut. Mittlerweile umfasst es über 7.500 Bücher und an die 600 Tonträger von Lesungen und anderen Veranstaltungen. Zudem werden Manuskripte und Briefwechsel mit Autorinnen und Autoren erfasst. Ein weiteres wesentliches Sammelgebiet bilden Veröffentlichungen in Kleinverlagen und andere – nicht nur regional – schwer greifbare Publikationsformen.

Bei welchem Song schwingt DJ Veloziped sein Tanzbein?

Kenny Dixon Jr.  – Moodymann – aus Detroit ist ein großes Vorbild.

Welche Bücher und Platten möchten Sie nicht missen?

Ich habe ja Germanistik studiert und viele gute Bücher gelesen. Besonders erwähnen möchte ich das Buch „Untersuchung an Mädeln“. Großartig, wie Albert Drach mit seinem Protokollstil die unerhörtesten Dinge abhandelt. Ich nenne auch eine Platte Moodymann: Don’t You Want My Love