Politik | EU-Spitzenpostenwahl

Plötzlich Kommissionspräsidentin?

Über die Wahl von Ursula von der Leyen als “geniale Kandidatin” und andere Personalbesetzungen an der Spitze der EU spricht Uniprofessor Bernhard Stahl.
Ursula von der Leyen
Foto: Bundeswehr/Martin Stollberg

Nach wochenlangen Verhandlungen im Europäischen Rat wurde die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen als EU-Kommissionspräsidentin vorgeschlagen. Der Posten des Ratspräsidenten ging an den ehemaligen belgischen Premier Charles Michel, die Vertretung der EU in der Außen-und Sicherheitspolitik übernimmt der spanische Außenminister Josepp Borells und an die Spitze der Europäischen Zentralbank wurde die Chefin des IWF, Christine Lagard gewählt. Über die außergewöhnliche und teilweise überraschende Personalbesetzung in Brüssel diskutierte salto.bz mit dem Professor für Internationale Politik der Universität Passau, Bernhard Stahl.

 

salto.bz: Prof. Stahl, die Wahl von Ursula von der Leyen als Nachfolgerin von Jean Claude Juncker an der Spitze der EU Kommission kam für viele überraschend. War ihre Nominierung zu erwarten oder woher entspringt diese plötzliche Entscheidung?

Bernhard Stahl: Diese Personaldebatten gab es schon immer in der Union. Durch zwei Aspekte sind sie nun aber um einiges komplizierter geworden. Zum einen wegen der Erstarkung des Europäischen Parlaments und dem daraus resultierenden Spitzenkandidatenprinzip. Es gibt jetzt sozusagen einen institutionalen Faktor mehr, den der Europäische Rat zu beachten hat. Zudem gibt es eine neue inhaltliche Facette, also nationalistisch ausgerichtete Positionen, die im Europäischen Parlament, aber auch in den nationalen Regierungen wie etwa in Italien, Einzug gehalten haben. Und diese müssen sich im Personaltableau auch abgebildet finden. Das Europäische Parlament hat seine Chance verspielt, weil es so zerstritten war und sich dadurch auf keinen Kandidaten einigen konnte. Somit ging der Ball wieder an den Europäischen Rat, der verschiedene Kandidaten abgewogen hat, um schlussendlich zu einem zu kommen, der mehrheitsfähig ist.

Von der Leyen verkörpert das Überlappen dieser einzelnen Meinungsspektren auf perfekte Weise. Das macht sie zu einer genialen Kandidatin.

Das heißt, Von der Leyen ist mehrheitsfähig?

Der ideale Kandidat muss natürlich in ein ganzes Gentlemenagreement-Proporzsystem passen und einen Ausgleich zwischen Ost- und West, kleinen und großen Staaten, Frauen- und Männer, katholisch und protestantisch, links und rechts usw. darstellen. Da ist es nicht ganz einfach jemanden zu finden. Von der Leyen verkörpert das Überlappen dieser einzelnen Meinungsspektren auf perfekte Weise.

Es gibt in dem Diskurs der Europäischen Union vier klassische außenpolitische Stränge: die Atlantiker, die Europäer, die Neutralen bzw. Pazifisten und, als neue Formation, die Nationalisten. Von der Leyen ist traditionell eine Atlantikerin, also pro-amerikanisch, was Polen und Italien wohl gesinnt ist. Gleichzeitig setzte sie sich für eine gemeinsame europäische Verteidigungsunion ein, und ist somit auch dem europäischen Lager, etwa Frankreich, nahe. Ein weiterer wichtiger Punkt ist ihr Einsatz, deutsche Streitkräfte routierend in die baltischen Länder zu schicken, obwohl der deutsche Außenminister zu der Zeit sagte, dass er dies für dummes Säbelrasseln hällt. Dass von der Layen sich für die Verteidigung der östlichen Staaten einsetzt und die „russische Bedrohung“ ernst nimmt, hat Polen und den baltischen Staaten natürlich sehr gefallen. Die Neutralen, also Irland, Schweden, Österreich werden tendentiell immer eine Deutsche wählen, weil Deutschland ohnehin im Ruf steht, pazifistisch zu sein. Man würde, glaube ich, von von der Leyen auf jeden Fall erwarten, dass sie die Welt stärkt: Institutionalisierung, mehr Geld für die UNO, Blauhelm-Unterstützung usw. – daher müssten selbst Pazifisten nichts gegen sie haben. Das macht sie zu einer genialen Kandidatin.

Was bedeutet von der Leyens Kurs Richtung Westen und den USA für die künftige Beziehung der EU mit Russland?

Für Russland ist die Wahl eine schlechte Nachricht. Denn von der Leyen ist sehr eindeutig in ihrer Beurteilung der Lage, sowohl der russischen Außenpolitik allgemein, als auch darin, was Russland in Syrien und der Ukraine macht. Wir hatten im alten Tableau mit Jean-Claude Juncker und Donald Tusk ebenso zwei große Kritiker Moskaus. Nur Federica Mogherini war als Italienierin Russland traditionell etwas positiver gesinnt. Wir werden sehen, wie der neue Außenvertreter sich verhällt, jedenfalls wird die europäische Außenpolitik gegenüber Russland sicher nicht besser. Die Sanktionspolitik gegenüber Russland wird wohl mindestens gleich bleiben.

Wenn das Parlament diese Truppe ablehnt, was will es dann?

Nächste Woche wird das Parlament über die Besetzung der Komission abstimmen. Sie meinen, für von der Leyen sollte es kein Problem sein. Welche Hürden könnten sich eventuell doch noch aufzeigen und wie würde es dann weiter gehen?

Zum einen halte ich die Grüne Fraktion für ein dickes Fragezeichen. Ich vermute, dass es zurzeit große Diskussionen im Hinterzimmer gibt. Denn die Sozialdemokraten hatten zum Teil ja schon angekündigt, dass sie mit Nein stimmen. Ein zweiter Faktor sind die Populisten, die gemeinsam ja so groß sind wie die EVP, also gar nicht mal so klein. Die polnische PIS hat schon ihre Unterstützung für von der Leyen angekündigt. Die Frage ist aber, ob das Eurpäische Parlament wirklich mit Hilfe der Populisten die neue Kommission wählen lässt, oder ob es doch eine eigene Mehrheit mit moderaten Kräften gibt. Denn ein Deal mit den Populisten würde das Parlament in den Augen vieler schwächen. 

Das Parlament könnte natürlich in die Verfassungskrise gehen und das Personaltableau ablehnen. Da muss man sich aber bewusst machen, dass die Kommission – wenn man alle Gipfeltreffen zusammennimmt – eine Woche durchgängig getagt hat, um zu diesem Ergebnis zu kommen. Wenn das Parlament diese Truppe ablehnt, was will es dann? Der Europäische Rat kann jetzt nicht mehr zurück zu den Spitzenkandidaten. Daher wäre es für das Parlament ein großes Risiko, die Kandidaten abzulehnen.

Martin Selmayr, Generalsekretär der Europäischen Kommission, war kürzlich in Passau und sagte etwas sehr Interessantes: Das Personaltableau hat viel mehr Zustimmung als man denkt, denn selbst Großbritannien hat dafür gestimmt. Obwohl man erwartet hätte, dass das Land gegen alles stimmt. Auch Polen, Ungarn und Italien hätten dagegen stimmen können. Die einzige Regierung, die sich aber enthalten hat, war die deutsche. Ob das nun auf das angespannte Verhältnis zwischen Merkel und von der Leyen zurückzuführen ist, ist fraglich. Es ist aber Interessant, dass alle unsere „Problemländer“ diesem Kompromiss zugestimmt haben. Daher scheinen die Kandidaten eigentlich gute Chancen zu haben.

Ist es wirklich sinnvoll, dass die größte Fraktion automatische den Komissionspräsidenten stellt?

Die Wahl der EU-Spitzenposten wurden von vielen als undemokratisch bezeichnet, weil das Spitzenkandidatensystem nicht eingehalten wurde. Außerdem wurde eine fehldende Repräsentanz der Mitgliedsstaaten bemängelt, weil kein östliches Land einen Kandidaten stellen konnte. Ist diese Kritik berechtigt?

Ich würde mir natürlich abstrakt wünschen, dass das Parlament noch mächtiger würde. Aber da muss es zu einer würdigen Debatte über die Kandidaten auch innerhalb des Parlaments kommen. Diese habe ich nicht gesehen. Meistens wird nur gesagt, es ist alles demokratisch, was das EU-Parlament vorschlägt. Man muss aber auch über innerparteiliche Demokratie sprechen. Ist es wirklich sinnvoll, dass die größte Fraktion automatische den Komissionspräsidenten stellt? Sollte es nicht um seine Fähigkeit und Kompromissverkörperung gehen? Ich wäre für ein besseres Verfahren im Parlament, bei dem, unabhängig von der Fraktionsstärke, die Abgeordneten einen mehrheitsfähigen Kandidaten in einem Diskurs aushandeln, wobei der Rat natürlich beiteiligt werden muss. Diesesmal hat das Parlament seine Chance verspielt, denn es vermochte, wie bereits gesagt, keinen Kandidaten vorzuschlagen.

Die Osteuropäer haben sich selbst ins Knie geschossen. Denn sie haben Frans Timmermans verhindert, der ja aus einem kleinen Land stammt. Wenn kleine Länder Kandidaten aus kleinen Ländern abschießen, dann signalisiert das den großen Mitgliedern: Oh, dann sollten wir vielleicht darauf nicht so sehr Rücksicht nehmen, sondern machen unser Ding. Und so ist es letzendlich auch gekommen. Die Osteuropäer hätten gemeinsam mit Italien und Griechenland einen guten Kandidaten bringen können. Ich habe mich sehr gewundert, dass die baltischen Staaten, die sehr gute Politiker haben, in den letzten 10-20 Jahren nie zum Zug gekommen sind. Und auch in Rumänien und anderen östlichen Ländern gibt es einige gute Kandidaten.

Für Deutschland ist Christine Lagarde nicht ganz unproblematisch und es wird Konflikte mit Berlin geben.

Kommen wir zu der übrigen Postenverteilung: Josepp Borells in der Nachfolge von Federica Mogherini als EU-Außenbeauftragte. Der spanische Außenminister ist ein heftiger Kritikern von Kataloniens Unabhängigkeitsbewegung und hat daher auch die Unabhängigkeit Kosovos nicht anerkannt. Was bedeutet das für die EU-Vermittlungsrolle im Kosovo Konflikt?

Man kann es als Chance sehen. Denn Borells muss den neutralen Status der EU vertreten, was es für Serbien akzeptabler macht. Für den Kosovo ist es natürlich schwerer zu ertragen. Der ist aber in den letzten Jahren immer mehr von der EU weggerückt, hin zu den USA. Es gibt daher Diskussionen, dass die Vereinigten Staaten wieder auf den Balkan zurückkommen.

Die Ratspräsidentschaft soll von einem Belgier übernommen werden, dem Ex-Premier Charles Michel. Er ist europaweit nicht so bekannt. Dennoch eine gute Wahl?

Ja, eine sehr gute Wahl, weil er schon mal Belgien regieren durfte. Wer Belgien regieren kann, kann auch die Welt regieren. Belgien ist ethnisch zerstückelt, die Parteien sind völlig zerstritten, und dennoch schaffte Michel es, eine funktionsfähige Regierung zu leiten. Das heißt, was kulturellen Ausgleich, Ausloten von Schnittmengen und Kompromissuche angeht, ist er genau der Richtige – denn das sind die Fähigkeiten, die die Union braucht.

Zu guter Letzt kommt mit der Französin Christine Lagarde noch eine Frau an die Spitze eines wichtigen EU Posten, nämlich der Europäischen Zentralbank. Sie ersetzt somit den Italiener Mario Draghi. Was können wir künftig von Lagarde und der EZB erwarten?

Ich würde mal sagen, für Deutschland ist sie nicht ganz unproblematisch und es wird Konflikte mit Berlin geben, denn Lagarde ist eher dem französisch-italienisch-britischen Modell an der Zentralbank angehörig und nicht dem deutsch-niederländisch-finnischen Modell. In der Gesamtperspektive ist sie aber eine gute Wahl. Donald Trump würde sagen: „Sie hat Stamina“. Lagarde war IWF-Chefin, Kommissarin, hatte verschiedene Ministerposten in Frankreich inne. Sie hat also ein weltweites Netzwerk, was Wirtschaftsfragen angeht, versteht sich aber auch als Politikerin. Was mir positiv in Erinnerung bleibt, ist, dass sie in wichtigen Fragen der Euro-Schuldenkrise nicht schweigsam blieb, sondern sich traute, etwas zu sagen. Wir werden sehen, was mit Südeuropa passiert. Aber ich denke, sie wird dafür eintreten, die Geldpolitik stärker auf die Südländer und deren Bedürfnisse auszurichten. Denn Deutschland und Europa haben in der Vergangenheit große Fehler gemacht, was einen Teil des Populismus in diesen Ländern miterklärt. Und ich glaube, dass Angela Merkel, wenn sie geht, das auch einräumen wird.

Herr Stahl, vielen Dank für das Gespräch.

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Frei Erfunden Do., 11.07.2019 - 11:52

Wie unterschiedlich liest sich hierzu eine alternative Einschätzung :

https://kenfm.de/tagesdosis-5-7-2019-von-der-leyen-hoffnungstraegerin-d…

Wem dient eigentlich dieses Vokabular der Russlandbedrohung? Dem militärisch industriellen Komplex. Aufrüstung ist wieder modern.

Christin Lagarde ist eine gerichtlich schuldig gesprochene Rechtsbrecherin und die mainstream Medien applaudieren zur Ernennung.
Bezüglich EU Schuldenkrise würde ich einem Professor ein objektives Urteil erwarten.
Griechenland wurde in die Knie gezwungen, enteignet, die Jugend ist abgewandert. Die Einschätzung des PROFESSORS klingt wie Hohn.

Do., 11.07.2019 - 11:52 Permalink
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Hartmuth Staffler Do., 11.07.2019 - 13:48

Dass dieser unsägliche Weber nicht als Kommissionspräsident vorgeschlagen wurde, ist zunächst einmal positiv. Frau von der Leyen ist zwar nicht viel besser, aber das bisschen besser ist zumindest ein Hoffnungsschimmer. Tragisch ist, dass der spanische Nationalist Borells, der Menschenrechte für überflüssig hält, als Außenbeauftragter vorgeschlagen wurde.

Do., 11.07.2019 - 13:48 Permalink
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ohne mit Do., 11.07.2019 - 15:11

Wieder so ein Professor, der die "russische Bedrohung" ernst nimmt. Wieder und immer wieder dieses Spiel mit Worten gegenüber Russland, wobei doch jede Bedrohung der letzten 20 Jahre von über dem Atlantik herkam. Die Kriegstreiberin Leyen mag dem Ami-Schmäh über die russische Bedrohung ja brav zujubeln, aber im Interview ist es der Professor, der sie "ernst nimmt". Dazu: https://www.rubikon.news/artikel/zweierlei-mass-2

Do., 11.07.2019 - 15:11 Permalink
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Klaus Griesser Sa., 13.07.2019 - 18:06

Der Herr Professor kann nicht verhehlen, dass die negative Haltung gegen Russland der Freundschaft mit den USA geschuldet ist. Das ist eine machtpolitische Entscheidung, die letzten Endes von Macron und Frau Merkel in Alleinregie entschieden wurde. Russland wird zwar von Oligarchen regiert, ebenso aber die USA. Doch die USA sind das mit Abstand größte politisch-militärische Imperium in der Welt, allerdings im Niedergang nach einer Reihe verlorener Kriege, und verzweifelt darum bemüht, seine Vormachtstellung in der Welt noch zu halten durch Handelskriege, Cyberattacken usw., spezifisch durch den geäußerten Zwang an uns Europäer, ihr Fracking- Gas anstelle des sibirischen zu importieren. Wie dumm wären wir Europäer wenn wir uns einem der beiden Oligarchen definitiv anschließen und gegen den anderen zu Felde ziehen möchten? Ist uns denn nicht Russland geografisch und kulturell näher? Es ist doch intelligenter, auf der Basis der Nichteinmischung Freundschaftskontakte mit unserem hauseigenen Nachbarn aufzubauen, was doch Gorbatschow, Brandt, Schmid und auch Kohl begonnen haben! Haben wir vergessen, dass in letzter Konsequenz die russische Armee (mit hunderttausenden von geopferten Soldaten) uns vom Naziregime befreit hat? Übersehen wir, dass die USA seit Ende des 2.WK mit Hilfe des Atlantikbündnisses die Welt mit stillen und lauten Kriegen überzogen hat, dass das US-Militär von Ramstein aus täglich Drohnenangriffe alleinherrlich und im Widerspruch zum Völkerrecht entscheidet und durchführt im fernen Osten?
Macron will Krieg an der Seite der USA, ebenso vdL. Das ist katastrophal für die Völker nicht nur Europas, wenn auch im Interesse der wahren Finanzmächte!
Nein, Herr Professor! Ich meine, diese Personalentscheidungen an den EU-Spitzen sind zutiefst undemokratisch und ich hoffe inständig, dass das Europaparlament noch die Macht hat, diese zurückzuweisen.

Sa., 13.07.2019 - 18:06 Permalink