Politik | Kommissionspräsident

Undemokratische Uschi?

War von der Leyens Wahl tatsächlich derart undemokratisch? Oder toben sich da nur die EU-Gegner aus?
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Ursula von der Leyen
Foto: EU Parliament Photo
Jetzt ist sie EU-Kommissions-Präsidentin, die von der Leyen. Und das Bashing geht schon los. Undemokratisch! Kaum eine freut sich, dass erstmals eine Frau das Amt eroberte. Die Vestager wäre die Bessere gewesen. Vielleicht. Nur, man erkläre mir, wie viel demokratischer es gewesen wäre, wenn es eine Vertreterin der drittstärksten Fraktion geworden wäre? Vestager hatte sich im Wahlkampf auch nicht als Spitzenkandidatin exponiert, aber nur bei von der Leyen ist das Spitzenkandidatinnenprinzip als verfehlt zu definieren. Eine Vertreterin der stärksten Fraktion, der EVP, darf es nicht sein. Failed Europe! Failed democracy! 
 
"Non voterò mai più il parlamento europeo!" hört man empörte Demokraten der italienischen Vorzeigedemokratie rufen; unreflektiert, als hätte irgendjemand jemals Monti, Letta, Renzi, Gentiloni oder Conte auf einem Wahlzettel angekreuzt. Grad so, als hätte hierzulande ein Wahlkampf der Europa weiten Spitzenkandidaten stattgefunden. Wir wählten Dorfmann oder Holzeisen. Wer hier bitte wählte Weber oder Vestager? Wir wählten unsere Lokalvertreterinnen für das EU-Parlament, mit lokalen Scheuklappen übrigens. Wir wählten schlicht nicht die Spitzenkandidaten der Kommission, weder in Italien noch in Südtirol.
 
Nichtsdestotrotz lag der Versprechen der Spitzenkandidatenwahl unbestritten in der Luft. In Deutschland (und wohl nur dort) wurde es medial auch als solches inszeniert. Die zwei Phönixe aus der Asche. Da war der brave CSUler, der sich bewarb, als ginge es um eine Schwiegersohnbewerbung. Der europäischte einer Lokalpartei, die sich letztlich im politischen Handeln und Vokabular als die antieuropäischste Regierungspartei in Mitteleuropa schlechthin benahm. Da war der sicherlich vielverdiente Timmermans, der, seien wir ehrlich, vor der Kür zum Kandidaten den wenigsten von uns ein Begriff war. Der wegen seiner exzellenten Deutschkenntnisse in den diversen Talkshows und Konfrontationen nicht in seiner Muttersprache punkten durfte und, mit Verlaub, dabei nicht die emotionalen Worte fand, um die Herzen der Zuhörer auf seine Seite zu bringen.  
 
Das Spitzenkandidatenprinzip war eine Farse seit der Kür der Kandidaten. War nichexistent in unserem lokalen Wahlkampf. Es lohnt ein kleiner Seitenblick zu den Vorwahlen in den USA, um sich zu vergegenwärtigen, wie anderswo Spitzenkandidaten gekürt werden. Außerdem haben wir für die Kommissionspräsidentin nach wie vor keine Direktwahl wie etwa im Trentino, sondern lassen die Präsidentin vom Parlament wählen, eigentlich nicht ganz unähnlich zum Procedere der LH-Wahl in Südtirol. Wenn dabei nie was schiefgehen könnte, dann bräuchte es das Procedere gar nicht. Nun ist halt etwas schiefgegangen: Das EU-Parlament konnte sich nicht auf einen Kandidaten einigen. "Selber Schuld" sagen die einen, das Parlament wäre vom Rat geschwächt worden, sagen die anderen. Der Vollfall wird gleichfalls als undemokratisch als auch als höchst demokratisch eingeordnet.
 
Und genau hier hat die EU ihre Glanzkarte ausgespielt: Ihren Trumpf der Kompromissfähigkeit. Man nennt es Hinterzimmerentscheidungen, aber alle wissen, wer Weber verhindert hat, indem er nach 52 Jahren eine Deutsche, ein Frau, vorgeschlagen hat. Wer bitte könnte behaupten, dass jemand, der bereits drei Ministerien im größten Mitgliedsland geleitet hat, der zwischen drei Sprachen fließend wechseln kann und das Brüsseler Beamtenleben schon väterlicherseits schnupperte, wer könnte behaupten, dass von der Leyen schlechter geeignet sei als die Spitzenkandidaten?
 
Alle wissen wir aus den Hinterzimmern, dass es die Osteuropäer waren, die Timmermans verhindert hatten, dass die "NATO-Uschi" ein Kompromiss zwischen West- und Osteuropa war. Und da haben wir jetzt die EVPlerin, die sich mit linksgrünen Zielen eine knappe Mehrheit in der politischen Mitte erkämpft hat und sich gleichzeitig, osteuropäisch legitimiert, als Garantin für Rechtstaatlichkeit und Neuverhandlung des Dublin-Abkommens präsentiert.  
 
Ausgerechnet dafür, dass sie sich ehrgeizige Ziele gesteckt hat, die den Grundtenor der europäischen Volksparteien rechts liegen lassen, wird sie jetzt kritisiert. Ich könnte mir freilich noch ehrgeizigere Ziele vorstellen und habe bei von der Leyens Bewerbungsrede viele Themen, die mir persönlich wichtig sind, vermisst. Gemessen an den vor der Wahl verbreiteten Hiobsbotschaften, finde ich aber die fehlende Unterstützung seitens der Grünen etwas zu prinzipienhaft, ideologisch und kompromisslos. Als hätten sie die Idee der Konsenspolitik nicht verinnerlicht. Allein das Faktum, dass Weber, Timmermans und Vestager allesamt von der Leyer unterstützten, zeigt doch, dass so undemokratisch der Prozess nicht gewesen sein kann.
 
Wünsche der Präsidentin ein besseres Händchen als im Verteidigungsministerium und viel Erfolg bei der Umsetzung ihrer ambitionierten Versprechen, inklusive der Überarbeitung des Spitzenkandidatenprinzips. Möge sie es den Basherinnen so richtig zeigen. Aus demokratiepolitischer Sicht, finde ich, haben die Verantwortlichen innerhalb des noch nicht ganz fertigen EU-Gebäudes in kurzer Zeit Großartiges geleistet und bin wieder ein bissel stolz drauf. Zuversichtlich sowieso.
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Benno Kusstatscher Mi., 17.07.2019 - 20:25

Die Frage, ob "Verteidigung" als unmittelbare Landesverteidigung zu verstehen ist, ist interessant, aber etwas off topic. Als Familienministerin hat von der Leyen jedenfalls etliche Gelder für Soziales und auch Bildung aufgebracht. Sie jetzt rein an ihrer letzten Ministerialaufgabe abzuurteilen, greift zu kurz. Außerdem hatte Deutschland wenige rühmliche Verteidigungsminister, oder sticht irgend ein Name positiv hervor?

Mi., 17.07.2019 - 20:25 Permalink
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gorgias Do., 18.07.2019 - 19:14

Ach lassen wir doch dieses Spitzenkandidatengekasperle doch sein. Es ist nicht in den Verträgen vorgesehen und macht bei einem solchen Wahlsystem keinen Sinn. Nebenbei hält sich der Einfluß des Kommissionpräsidenten in Grenzen.

Do., 18.07.2019 - 19:14 Permalink
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Benno Kusstatscher Do., 18.07.2019 - 21:34

Antwort auf von Martin Oberund…

Meines Wissens wird sie durchaus so genannt. Sogar der Eintrag im Bundestagsverzeichnis liefert mit “Uschi” den Treffer. Freilich wird der Spitznamen mit negativ annotierten Präfixen gerne wenig despektierlich benutzt, auf was ich irgendwie anspielte. Spätestens seit dem Uschi-von-der-Leyen-Lied wird das Uschi aber auch öfters mal die n den Medien benutzt, ohne irgendeinen bösen Hintergedanken.

Do., 18.07.2019 - 21:34 Permalink
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Christian Mair Sa., 31.08.2019 - 18:37

Tatsächlich braucht es aber transnationale Wahlkreise- und listen, um eine wesentliche Demokratisierung der EU voranzutreiben. Und daneben sollte man nicht darauf vergessen, dass erst eine Abstimmung von Fiskal-und bankenunion eine demokratischere Situation ermöglicht.
Wie soll eine Union entstehen, wenn sich Deutschland mit Negatvzins entschulden kann und Länder wie Griechenland dafür zahlen müssen.

Souverenität aufzugeben ist dabei nicht nur auf U-Ebene schwer, auch der Stillstand auf Euregioebene zeigt wie schwer dieser Weg ist.
Ideen wären so einfach:
- gemeinsames Gesundheitssystem
- gemeinsame Zug-Jahreskarte
- Investition in regionale Landwirtschaft
...
Aber:
Uschi ist eben eine vortreffliche glatte Gallionsfigur, dahinter in der Kajüte lassen sich weiterhin vortreffliche Lobbyentscheidungen treffen.
Populismus, nein, leider nicht. Siehe: Agrarindustrie:
https://www.daserste.de/information/politik-weltgeschehen/europawahl-20…

Sa., 31.08.2019 - 18:37 Permalink