Gesellschaft | salto Gespräch

“Die Jugend ist eine Chance”

Sein gesamtes Berufsleben hat er mit Jugendarbeit verbracht. Nun spricht Klaus Nothdurfter über die Herausforderungen für junge Menschen und die Südtiroler Gesellschaft.
Klaus Nothdurfter
Foto: Salto.bz

Seine Worte wählt er sorgfältig. Immer wieder legt Klaus Nothdurfter eine Pause ein, überlegt. Dann redet er bestimmt weiter. Häufig blitzen seine Augen auf. Man spürt: Hier spricht jemand nicht nur mit dem Mund, sondern auch mit dem Herzen.

Viele werden ihn vermissen. Ihn, der sich 40 Jahre lang im Amt für Jugendarbeit, das er ab 1993 als Direktor leitete, für die Belange junger Menschen im Land eingesetzt und die Jugendarbeit maßgeblich geprägt hat. Stets ein offenes Ohr und Herz für die Jugend hatte der heute 65-jährige Bozner. Am 1. Oktober geht Nothdurfter in Pension – “mit einem lachenden und einem weinenden Auge”, wie er gesteht.

 

salto.bz: Herr Nothdurfter, Sie haben Ihr gesamtes Berufsleben der Jugend gewidmet. Was fasziniert Sie an der Arbeit mit jungen Menschen?

Klaus Nothdurfter: Das ist eine schwierige, zugleich aber auch leichte Frage, die auf meine eigene Kindheit und Jugend zurückgeht. Ich war der älteste von sieben Söhnen und schon allein deshalb sehr stark mit jungen Leuten in Kontakt, meinen Geschwistern. Auch aufgrund der Lebensverhältnisse in der Stadt – wir haben zu siebt mit den Eltern in einer Stadtwohnung gewohnt –, hat es mich nach draußen gedrängt. Und wohin zog es einen in jener Zeit? Ein Teil des Lebens hat in der Pfarrei stattgefunden und in den zu Beginn der 70er Jahre entstehenden Jugendorganisationen. Ich war als Ministrant in der Pfarre tätig und engagierte mich in der Alpenvereinsjugend. Das war im Prinzip meine Lebenswelt außerhalb der Familie, die ich als Kind und Jugendlicher relativ rasch als ein positives Umfeld erlebt habe und in die ich dann hineingewachsen bin.

Jungen Leuten von heute fällt es vielleicht schwer, sich das vorzustellen: Um sonntags etwas miteinander unternehmen zu können, hat man sich irgendwo treffen müssen. Einer dieser Treffpunkte war die Vorabendmesse im Dom. Das war unser Leben damals!

Warum beschäftigt man sich auch als älter werdender, als erwachsener Mensch mit dieser Lebenswelt, mit jungen Menschen?

Für mich ist und bleibt die Jugendarbeit das wichtigste Lebensumfeld für junge Menschen. Jugendarbeit ist ein Bildungsbereich, der durch nichts anderes ersetzbar ist. Klarerweise gibt es viele Lebens- und Lernfelder für junge Menschen – die Schule, die Familie, die Clique, heutzutage sehr stark auch der mediale Bereich –, aber die Jugendarbeit, das Miteinander-tun-können, sei es im Jugendtreff, in der Jugendorganisation, in der Gruppe, bei den Ministranten, ist etwas Zentrales und Wesentliches und mit nichts vergleichbar.
Ich habe die Jugendarbeit immer als Chance verstanden, miteinander etwas zu lernen, mich entfalten zu können – Stichwort Empowerment: Als junger Mensch kriege ich Anerkennung und Kraft. Das zu fördern, das zu unterstützen, war mein Job und so gesehen eine Lebensaufgabe. Dass es schließlich so lange angedauert hat, ist tausend Zufällen geschuldet. Die Zeit vergeht schneller als man schauen kann.

Im Laufe der Jahre sind Sie für viele zum verlässlichen Ansprechpartner geworden, der stets ein offenes Ohr für die Anliegen von jungen Menschen und der Jugendarbeit hatte. Wie würden Sie selbst Ihre Rolle der vergangenen Jahre beschreiben?

Die Jugendarbeit steht heute auf drei Säulen: dem Jugendförderungsgesetz von 1983, dem Jugendförderungsprogramm und dem gemeinsamen Leitbild. Das Mitgestalten der letzten beiden Säulen war eine meiner wesentlichen Arbeiten. In den letzten zwei Jahren war die Herausforderung, das Jugendförderungsprogramm aus dem Jahre 1999 so fortzuschreiben, dass es den ganzen Bereich gut in die Zukunft bringt. Als letzten Meilenstein haben sich alle Basisstrukturen der Jugendarbeit – die Dachverbände der Offenen Jugendarbeit und der Jugenddienste, Jugendring, Forum Prävention und Jugendhaus Kassianeum – ein gemeinsames Leitbild gegeben, für das große gemeinsame Ganze. Insofern wird die Jugendarbeit heute von drei stabilen Säulen getragen – Gesetz-Leitbild-Förderungsprogramm – und so gesehen kann ich heute mit einer gewissen Leichtigkeit gehen. Durch Glück und das Engagement des Landesrates war auch die Ur-Idee realisierbar, ein gemeinsames Gebäude in Bozen zu realisieren, das Goethe-Haus. Auch das ist ein Beitrag in die Richtung zu einem Stück mehr Zusammenarbeit.

Die hat es im Bereich Jugendarbeit nicht immer gegeben?

Ich glaube, die Herausforderung der Zukunft ist, in dieser sich mikroskopierenden Gesellschaft das Miteinander-tun stärker in den Vordergrund zu stellen. Es geht darum, dass die sich die Jugendverbände und die Jugendzentren stärken, denn alle brauchen ihre eigenen Identitäten und ihre eigenen Visionen – aber die müssen getragen sein von einem starken Gefühl des Miteinanders.

Wenn junge Menschen auf die Straße gehen und sich dadurch sichtbar machen, senden sie letztlich einen Hilferuf aus.

Sie sprechen vom Miteinander, dabei gibt es nicht nur die unterschiedlichen Player auf deutschsprachiger Seite. Sondern auch die große Trennung zwischen deutsch- und italienischsprachiger Jugendarbeit. Warum ist das immer noch so? Braucht es diese Trennung?

Diese Trennung braucht es mit Sicherheit nicht. Die Trennung zwischen den Sprachgruppen – inzwischen muss man das noch weiter sehen, mit den neuen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die ins Land gezogen sind – muss nicht sein. Historisch hat das viele Hintergründe, aber die eigentliche Herausforderung ist, immer wieder zu versuchen, zueinander zu finden. Natürlich sind das Don-Bosco-Viertel in Bozen und Matsch im Vinschgau zwei verschiedene Welten – Welten allerdings, die wir bemüht sein müssen, stärker zusammenzuführen. Wir müssen dafür sorgen, dass junge Menschen im Don-Bosco-Viertel die Möglichkeit bekommen, zu erfahren, wie junge Menschen in Matsch leben und umgekehrt. Teilweise passiert das, aber die Arbeit am gegenseitigen Kennenlernen – und zwar im realen Leben, nicht im virtuellen – kann durchaus verstärkt werden.

 

Im Schlerngebiet hat die Causa Allesclub für viel Aufsehen und Unverständnis unter den Jugendlichen gesorgt. Der langjährige Trägerverein der Jugendarbeit, der für Offene Jugendarbeit steht, wurde von den verantwortlichen Gemeindeausschüssen hinausgedrängt und inzwischen vom Jugenddienst Bozen-Land abgelöst. Warum wird nicht jede Vision von Jugendarbeit gleich geschätzt und als gleichwertig behandelt?

Vielleicht ein bisschen auch deshalb, weil aus der Sicht der kommunalen Welt bzw. der Dorfwelt die einen als “braver” eingeschätzt werden als die anderen – was mir im Prinzip Leid und weh tut. Im Schlerngebiet wurde das Engagement der jungen Leute, auch wenn sie das eine oder andere nicht richtig gemacht haben, nicht als Chance genutzt, mit ihnen gemeinsam die gemachten Fehler zu verbessern und ihnen damit auch die Chance zu geben, etwas zu lernen. Sondern man hat – so mein Eindruck – die gemachten Fehler dazu verwendet, sie ins Abseits zu stellen. Es wird schon sein, dass nicht immer alles so leicht war. Aber es waren in meinen Augen keine gravierenden Fehler, die nicht hätten genutzt werden können, um konstruktiv darauf aufzubauen, anstatt sie an den Rand zu drängen. Ich finde das schade.

Wer Sie in Ihrem Berufsleben kennengelernt hat, weiß, dass Ihnen das stets ein Anliegen war: jungen Menschen Verantwortung übergeben, ihnen etwas zutrauen, sie aber auch Fehler machen lassen – und sie bei Bedarf unterstützen und begleiten.

Das ist letztlich der wesentliche Kern des Jungseins und des Lebens: Durch das Mitgestalten von Gesellschaften – und Jugendarbeit ist ein Stück davon – lerne ich. Ich lerne für mich selbst, aber auch als Mitglied einer Gesellschaft oder einer Gruppe und gebe damit auch der Gesellschaft Lernchancen. Die Gesellschaft ist gefordert, mich als jungen Menschen wahrzunehmen und sich zu fragen, welches Potential sie jungen Menschen zugesteht – und es ist ein erhebliches Potential, das junge Menschen haben! Eigentlich ist es ja fatal, wenn Gesellschaften oder Gemeinschaften – und dazu gehören auch die Gemeinden und das Land – es nicht als Chance für die Gesellschaft insgesamt wahrnehmen, dass junge Leute Lust haben, etwas zu tun, sich zu engagieren, etwas zu lernen, etwas aufzubauen.

Oftmals wird jungen Menschen von Erwachsenen mit Misstrauen, Skepsis und der Haltung begegnet, “wir wissen es besser”. Fehlt es an Dialog auf Augenhöhe zwischen den Generationen?

In der Mehrzahl der kommunalen Lebenswelten von Jugendlichen findet tatsächlich ein Dialog auf gleicher Augenhöhe statt. Eine wichtige Errungenschaft der letzten Jahrzehnten war in dieser Hinsicht, dass – ausgehend übrigens von Landeshauptmann Magnago – die Gemeinden den Kompetenzbereich Jugend bzw. Jugendarbeit einem Gemeindereferenten bzw. einer Gemeindereferentin zugeordnet haben. Damit gibt es im Gemeindeausschuss, dem wirklich bestimmenden Gremium auf Gemeindeebene, einen Menschen, der sich darum kümmert, wie es den Jungen geht. Es gibt unglaublich viele tolle Jugendreferentinnen und -referenten, die mit jungen Leuten auf Augenhöhe argumentieren, diskutieren, überlegen, was sie miteinander tun können. Ganz viele von ihnen sind Ansprechpartner für junge Menschen nicht nur in institutioneller Hinsicht, sondern auch, wenn es um deren Anliegen geht. Sie erfüllen eine enorm wichtige Funktion und spielen für junge Leute landauf landab eine wichtige Rolle – ob es um einen Jugendtreff geht, das Thema Migration, um soziale Benachteiligung, um Schwierigkeiten, die junge Menschen haben oder auch machen.

Die Herausforderung für unsere Gesellschaft ist, wirklich dafür Sorge zu tragen, dass alle ein Stück Heimat finden.

Die Welt und das Südtirol von heute sind nicht mehr dieselben wie vor 30 oder 40 Jahren. Ist es leichter geworden, jung zu sein? Oder schwerer?

Das sind diese gefährlichen Fragen (lacht). Wenn ich mir den Wohlstand im Land anschaue, möchte man einerseits zum Schluss kommen, es sei leichter geworden. Ja, das stimmt in vielen Bereichen auch. Aber zugleich ist es auch schwieriger geworden. Wenn der Mensch eine Vielzahl an Wahlmöglichkeiten hat, ist die Verantwortung größer, die der Einzelne wie auch die Gemeinschaft hat, dass die richtige Entscheidung getroffen wird. Und so gesehen haben es Jugendliche heute nicht unbedingt leichter. Oder, sagen wir es positiv: Als junger Mensch bin ich heute vor größere Herausforderungen gestellt, ich muss mich mit vielen Dingen beschäftigen, mit denen ich persönlich in meiner Jugendzeit nichts zu tun gehabt habe – weil sie nicht vorhanden waren.

Woran denken Sie konkret?

Geld zum Beispiel. Oder wenn ich denke, wo meine Tochter schon überall auf der Welt war… Meine erste Auslandsreise habe ich mit 18 Jahren nach Deutschland gemacht. Das Potential, die Möglichkeiten für junge Menschen haben sich vervielfacht. Damit aber auch Gefühle, die heute vielleicht stärker da sind als damals: Neid, Leistungsdruck – dem entsprechen zu müssen, was die diffuse Erwartungshaltung der Gesellschaft ist. Aber man muss die Dinge immer auch positiv sehen – und ich bin bemüht, sie immer wieder positiv zu sehen –: So sind die gestiegenen Herausforderungen umgekehrt auch Chancen, als Mensch zu reifen, zu wachsen und Dinge tun zu können, die für uns damals unvorstellbar waren.

Wir müssen dem hin und wieder laut werdenden Ruf nach einem “starken Mann” einen Gegenentwurf entgegenstellen.

Viele junge Menschen verlassen das Land oder kehren nach ihrem Studium nicht nach Südtirol zurück. Täuscht der Eindruck, dass es in Südtirol keinen oder nicht genügend Platz für junge Leute und ihre Ideen gibt?

Das erlebe ich durchaus – aber in beide Richtungen. Junge Leute finden an ihrem Studienort im Ausland attraktive berufliche Möglichkeiten, haben aber gleichzeitig auch mittelfristig den Wunsch, wieder in Südtirol andocken zu können. Die Welt ist ein Sehnsuchtsort, aber gleichzeitig ist auch die “Heimat” ein Sehnsuchtsort, wohin viele wieder zurückkehren möchten. Das aber stellt die Südtiroler Gesellschaft vor die Herausforderung, ein Lebensumfeld zu schaffen, das eine Rückkehr möglich macht. Das hat nicht nur damit zu tun, entsprechende Jobs zu schaffen, sondern auch damit, eine gewisse Offenheit vorzufinden, ein Gefühl von Freiheit, ein kulturelles Angebot, ein Grundgefühl von Solidarität.

 

Sie zitieren gerne den deutschen Neurobiologen Gerald Hüther, der sagt: “Eigentlich braucht jedes Kind drei Dinge: Aufgaben, an denen es wachsen kann, Vorbilder, an denen es sich orientieren kann und Gemeinschaften, in denen es sich aufgehoben fühlt.” Haben Sie selbst Vorbilder?

Ich hatte das Glück, auch für meine berufliche Entwicklung, einen Menschen erleben zu dürfen, der leider allzu früh verstorben ist: Herbert Denicolò. Er war für mich in jeder Hinsicht ein Vorbild, beruflich wie privat. Allerdings habe ich auch unglaublich viele junge Leute kennengelernt, die für mich in einem gewissen Sinne ein Vorbild waren. Auch meine Frau ist fü rmich ein Vorbild, wenn ich ihr soziales Engagement mit jungen Menschen mit Behinderung erlebe. Da kann ich mir einige Scheiben abschneiden.

Heute gilt die junge schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg mit ihrem Schulstreik fürs Klima Vorbild für viele. Auch in Südtirol sind junge Menschen im vergangenen Schuljahr mehrmals freitags auf die Straße gegangen, um für mehr Umwelt- und Klimaschutz zu protestieren. Zurecht? Oder gehören Sie zu jenen, die sagen, sie sollten lieber die Schulbank drücken?

Ich würde in diesem Zusammenhang nicht das Stichwort “protestieren” verwenden, das ist mir zu negativ besetzt. Sondern: Wenn junge Menschen auf die Straße gehen und sich dadurch sichtbar machen, senden sie in meinen Augen letztlich einen Hilferuf aus. In letzter Zeit ist ihnen das Thema Klima sehr stark ins Herz oder aus dem Herzen gewachsen – das bringen sie auf die politische Bühne. Ein Stück davon ist die Straße, ein Stück davon ist das Web, ein Stück davon auch das Jugendzentrum oder die Jugendorganisation. Das finde ich positiv und sollte auch von der Gesellschaft positiv wahrgenommen werden.

Warum?

Weil sich junge Menschen mit einem Thema auseinander setzen, das nicht nur für sie, sondern für die gesamte Gesellschaft, für die Zukunft fundamental wichtig ist. Was wollen wir denn mehr, als dass sich junge Leute mit einem Thema beschäftigen? Auf der einen Seite wirft man ihnen vor, sie saufen und kiffen nur. Aber wenn sie sich dann mit einem Thema engagiert befassen, macht man ihnen Vorwürfe. Dass vieles an ihrem Engagement bruchstückhaft ist, kann ich ihnen nicht vorwerfen – dass ich gegen den Plastikmüll “demonstriere” und dann beim nächsten Automaten eine PET-Wasserflasche hole gehört eben zu den Widersprüchen im Leben! –, sondern muss das wiederum als Chance wahrnehmen, in den Dialog zu kommen. Ich mag Vorwürfe nicht. Es gibt in der Gesellschaft zu viel an Vorwürfen – damit können wir aufräumen. Wir sollten stärker ein Grundgespür dafür entwickeln, wie geht es dem anderen, weshalb verhält er sich so und nicht anders, die Frage nach dem Warum viel stärker stellen.

Durch das Mitgestalten von Gesellschaften – und Jugendarbeit ist ein Stück davon – lerne ich.

Eine Voraussetzung dafür ist, dass man sich für den anderen interessiert.

Ja. Und der andere oder die andere, das sind alle anderen – mit Betonung auf ALLE – und nicht nur eine ausgewählte Anzahl an Menschen. Die Herausforderung für unsere Gesellschaft – und das spüren junge Leute vielleicht mehr als alle anderen – ist, wirklich dafür Sorge zu tragen, dass sich in dieser Gesellschaft alle wohlfühlen können, einen Lebensraum haben, eine Grundakzeptanz erfahren, alle ein Stück Heimat finden, alle eine Aufgabe haben, alle ein Stück Gemeinschaft sind.

Sie sind überzeugt, dass das gelingen kann?

Überzeugt ist zu viel gesagt. Von einer großen Hoffnung beseelt, dass es passiert. Ich hoffe, dass der Mensch so gescheit ist und ein so weites Herz hat, dass er es hinbekommt. Wenn nicht, haben wir Schwierigkeiten.

Anlässlich 100 Jahre Südtirol bei Italien wird aktuell (wieder) über Identität, Zugehörigkeit, Zusammenleben gesprochen. Die heute junge Generation ist in einem Europa ohne Grenzen aufgewachsen. Wie aber können die Grenzen, die es in Südtirol selbst immer noch gibt, überwunden, wie mehr echte Begegnungen ermöglicht werden? Braucht es dazu die Politik, die z.B. beschließt, Schule, Kultur- und Jugendarbeit sprachgruppenübergreifend zusammenzulegen? Oder muss das Zusammenleben von unten wachsen und zunächst von der Gesellschaft vorgelebt werden?

Es kann von unten kommen. Aber es braucht immer auch Menschen, die Visionen entwickeln, damit das, was von unten kommt, ausreichend Andockmöglichkeiten hat. Dazu gehört auch, alles dafür zu tun, damit Demokratie und Beteiligung von Menschen wachsen kann. Wir müssen dem hin und wieder laut werdenden Ruf nach einem “starken Mann” einen Gegenentwurf entgegenstellen. Nämlich, dass es immer mehr darum geht, das Grundgefühl des Beteiligtseins zu vermitteln. Menschen müssen das Gefühl haben, dass sie ermächtigt sind, die Gesellschaft mitzugestalten. Ein schlimmes Gefühl für den Einzelnen ist das Gefühl von Ohnmacht. Wenn ich mich ohnmächtig fühle, ist es irgendwann auch nicht mehr so tragisch, was ich anstelle. Deshalb: Das muss sich gegenseitig ergänzen, befruchten, anstacheln – dass Ideen, die von unten kommen einen visionären Nährboden finden, wo Samen wachsen können.

Zu meiner Studienzeit in Innsbruck war der Brenner eine deutlich spürbare Grenze. Die gibt es nicht mehr.

Was werden Sie nach Ihrer Pensionierung machen?

Ich habe viele Ideen, aber im Moment bewusst noch nicht so weit gedacht, dass ich diese Frage mit “erstens, zweitens, drittens” beantworten kann. Ich war sehr engagiert in meinem Beruf, habe einige Dinge vernachlässigt und hoffe, die nachberufliche Zeit als eine Zeit erleben zu können, wo ich mehr Spiel- und Freiräume habe.

Gehen Sie mit einem guten Gefühl oder sagen Sie sich, dieses oder jenes hätte ich gerne noch erreicht?

Ich habe hunderttausend Dinge nicht geschafft (lacht). Dafür bräuchte es noch dutzende Berufsleben. Aber ich gehe mit einem guten Gefühl. Die Jugendarbeit hat sich in den letzten vier Jahrzehnten gut entwickeln können und gute Chancen, die zukünftigen Herausforderungen relativ gut zu bewältigen. In diesem Zusammenhang möchte ich ein bisschen dem Bild widersprechen, dass ich so viel geleistet hätte. Ich war ein Rädchen von vielen – und die Zeit geht dann weiter, wenn die vielen Rädchen miteinander ein gutes Uhrwerk bilden. Das ist mein Bild von meiner beruflichen Zeit. Ich blicke mit einem positiven Grundgefühl zurück. Vor allem, weil heute viele engagierte Verantwortungsträgerinnen und Verantwortungsträger am Werk sind.

Eine letzte Frage: Was wünschen Sie den jungen Menschen, für die das neue Schuljahr, das am Donnerstag begonnen hat?

Ich wünsche mir für sie, dass sie die Schule als einen Ort erleben können, an dem sie spüren, dass Lernen Sinn macht und die Schule als wichtige Chance für ihre Zukunft sehen, nicht nur in beruflicher Hinsicht, sondern insgesamt. Umgekehrt wünsche ich mir auch, dass sie die Schule als eine Institution erleben, die in der Lage ist, über die eigenen Grenzen hinauszuschauen und wahrzunehmen, wenn junge Menschen ehrenamtlich engagiert sind. Ich wünsche mir, dass dieses Engagement, egal in welchem Bereich, auch in der Schule Anerkennung erfährt, nicht nur formal, sondern vor allem informell: Dass Lehrerinnen und Lehrer spüren, dass die Lebenswelt von Jugendlichen und jungen Menschen eine breite und vielfältige ist, in dem auch die Jugendarbeit für viele eine ganz wichtige Rolle spielt. Ich wünsche mir für diese jungen Leute, dass die Institution Schule das in dieser Tätigkeit innewohnende Potential an sozialem Engagement auch spürt.

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Karl Trojer So., 08.09.2019 - 09:53

Lieber Klaus,
erstmal sage ich Dir als Großvater vielen Dank für Dein wertvolles Engagement für unsere Jugend ! Wesentliche Voraussetzungen für das Gelingen eines errfüllten Lebens scheinen mir folgende zu sein: 1. eine nicht fremdbestimmte Würde, d.h. ein nicht von außen, von Lob und Tadel dominiertes Verständnis von Würde; Würde hat jeder Mensch aus seinem ureigensten Wesen; 2. Unsere menschliche Gemeinschaft ist nicht die Summe der menschlichen Individuen, sondern ein lebendiger Organismus dessen Wohlergehen sich wesentlich auf die Individuen niederschlägt. Dies vorausgesetzt, erscheint mir das Leben in Gemeinschaft als Voraussetzung für ein gelingendes Leben.

So., 08.09.2019 - 09:53 Permalink
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Christoph Wallnöfer So., 08.09.2019 - 11:30

Zitat Klaus Nothdurfter: "Dazu gehört auch, alles dafür zu tun, damit Demokratie und Beteiligung von Menschen wachsen kann. Wir müssen dem hin und wieder laut werdenden Ruf nach einem “starken Mann” einen Gegenentwurf entgegenstellen".

Die wirkliche (politische) Beteiligung von Menschen aller Altersgruppen kann über den Ausbau der direktdemokratischen Mittel ermöglicht werden. Die meisten "starken Männer" und "starken Frauen" in Südtirol haben derzeit wenig bis gar nichts dafür übrig, bzw. versuchen diesen verhindern. Damit hemmen sie auch die Entwicklungsmöglichkeiten unserer Jugendlichen.

So., 08.09.2019 - 11:30 Permalink