Wirtschaft | Interview

“Wir sind nicht alleine schuld”

“Overtourism” ist für HGV-Präsident Manfred Pinzger das Unwort des Jahres. Was sagt er zum Tourismus-Stopp, der Konkurrenz aus der Landwirtschaft und dem Thema Flughafen?
Manfred Pinzger
Foto: HGV

Knapp 5.000 Mitglieder zählt der Hoteliers- und Gastwirteverband HGV. Präsident Manfred Pinzger verwehrt sich gegen Vorwürfe, die im Tourismus den Hauptverantwortlichen für zu viel Verkehr oder ausufernde Bautätigkeiten oder sehen. Es müsse nicht immer mehr sein – und sein Verband sei zu Diskussionen bereit. “Aber es geht immer um die Verhältnismäßigkeit”, sagt Pinzger.

salto.bz: Herr Pinzger, jedes Jahr weiß der Tourismus mit neuen Rekordzahlen aufzuwarten. Sie aber mahnen an, dass die Branche “kein Selbstläufer” sei. Mit welchen Herausforderungen sieht sich der Sektor konfrontiert?

Manfred Pinzger: Es braucht die Akzeptanz und die positive Einstellung zur Tourismusdestination der Allgemeinheit. Das ist für mich eine der wesentlichsten Herausforderungen. Denn wer macht gerne in einem Land Urlaub, wenn er das Gefühl hat, er ist nicht willkommen? Deshalb ist es für uns einfach wichtig, dass der Stellenwert des Tourismus und sein Beitrag zum Wohlstand des Landes entsprechend akzeptiert wird.

Sie haben jüngst gesagt, Sie sehen den Tourismus “pauschalen Anschuldigungen” ausgesetzt, weil er an verstopften Straßen und Autobahnen, der Zerstörung von Natur und Landschaft, der Zersiedelung und vielem mehr Schuld sein soll. Ist die Akzeptanz für den Tourismus in der Südtiroler Gesellschaft geschwunden?

Man kann schon alles schlecht reden, aber in Summe sehen die Leute trotzdem, dass der Tourismus zu den tragenden Säulen des Landes gehört. Wir haben vergangenes Jahr eine repräsentative Umfrage gemacht, die ergeben hat: Für 95 Prozent überwiegen die Vorteile des Tourismus in Südtirol und er ist wichtig für die künftige Entwicklung des Landes. Darauf bauen wir.

Jetzt ist es natürlich so, dass die ganze Diskussion mit dem Unwort des Jahres “Overtourism” nicht unbedingt dazu beigetragen hat, um in den letzten Wochen und Monaten Positivstimmung zu verbreiten. Als HGV sind wir nicht immer proaktiv mit unseren Meldungen hinausgegangen, um das eine oder andere richtig zu stellen. Aber leider Gottes müssen wir uns zunehmend in der Öffentlichkeit entsprechend positionieren. Zum Beispiel zum Thema Verkehr.

Bei uns würde man gerne alles reduzieren und “zomstutzen” – und auf der anderen Seite würde man dann doch noch einmal ein zusätzliches Tor aufmachen. Das kann es auch nicht sein.

Der starke Reiseverkehr sorgt immer wieder für Staus auf Autobahn und Straßen – und entsprechenden Ärger.

Man kann nicht einen Alleinschuldigen suchen. In den letzten 20 Jahren hat es eine starke Entwicklung nicht nur im Tourismus, sondern in der Wirtschaft insgesamt gegeben – während man bei der Infrastruktur stehen geblieben ist. Wir haben die MeBo bekommen – die würde sich heute wahrscheinlich niemand mehr wegdenken können –, einige Umfahrungen wurden gemacht. Aber – ob wir es wollen oder nicht – die Autos sind nicht weniger geworden. Dazu haben aber Entwicklungen in anderen Lebensbereichen beigetragen. Stichwort: E-Commerce. Kürzlich hat mir ein größerer Hotelier mit einhundert Mitarbeitern von 20 bis 30 kleinen Lieferwagen in der Woche berichtet. Einmal werden Badeschlappen geliefert, die online bestellt wurden, einmal ein Kamm – ich übertreibe jetzt etwas – und am nächsten Tag werden die Sachen wieder zurückgeschickt, weil irgendetwas nicht passt.

In vielen Haushalten gibt es mittlerweile mehrere Fahrzeuge. In Obstbaugebieten wie bei uns im Vinschgau hat es einen enormen Zuwachs in der Apfelproduktion gegeben. Damit ist auch der Verkehr gestiegen. Ich bin selbst viel unterwegs und sehe es ja mit eigenen Augen: Diese Bewegungen hat es früher nicht gegeben.

In Sachen Verkehr wird uns Touristikern viel angekreidet. Aber das kann es nicht sein – da spielen mehrere Faktoren eine Rolle, es gibt viel hausgemachten Verkehr.

Sie werden aber nicht leugnen, dass mit der zentralen Bedeutung, die der Tourismus für Südtirol und seine Wirtschaft hat, auch eine gewisse Verantwortung für künftige Entwicklungen einhergeht?

Auf alle Fälle, das stimmt. Aber ich sage: Seien wir doch froh, dass wir insgesamt eine gesunde Entwicklung genommen haben, dass wir Arbeitsplätze vor Ort geschaffen haben, Südtirol von der Generation in den 1960er Jahren auch über den Tourismus mit aufgebaut haben. Und jetzt müssen wir uns halt gemeinsam den Herausforderungen stellen und damit auch sensibel umgehen. Damit bin ich vollkommen einverstanden. Mehr, mehr, mehr muss nicht sein. Da müssen wir uns schon Gedanken machen und wir stellen uns auch der Diskussion. Aber einen Sektor für alles im Land verantwortlich machen, was irgendwie stört, kann man nicht. Das geht einfach nicht.

Stichwort Arbeitsplätze: Aktuell bietet der Tourismussektor über 30.000 Menschen Arbeit.

Wir haben bis zu 37.000 Mitarbeiter – und mittlerweile lasse ich mir auch nicht mehr sagen, dass die unseren nicht interessante, zweitrangige oder nicht angesehene Sektoren wären. Wir haben höchst motivierte Leute. Es stimmt auch nicht, dass die Leute von den Hotelfachschulen alle abhauen. Wir haben Befragungen unter den Abgängern gemacht: Fünf Jahre nach Abschluss sind immer noch weit über 60 Prozent im Tourismusbereich tätig. Man soll den Sektor insgesamt nicht schlecht reden, der in Südtirol doch einen bestimmten Wohlstand gebracht hat – und dahingehend sicher auch die eine oder andere Problemstellung, das wissen wir. Aber vielleicht weniger als derzeit geredet wird.

Ich gehe davon aus, dass es Interesse geben wird, was Charterflüge anbelangt, mit uns zusammenzuarbeiten

Immer wieder und inzwischen immer lauter ist der Ruf nach einem Stopp im Tourismus zu vernehmen: Die Forderungen gehen von einer Bettenobergrenze bis zu einem Verbot von neuen Strukturen. Sie beteuern, dass der HGV immer bereit sei, über Steuerungsmechanismen im Tourismus zu diskutieren. Auf der anderen Seite zeigen Sie aber kein Verständnis für die Forderungen, einen Riegel vorzuschieben?

Es geht immer um die Verhältnismäßigkeit. Der letzte Riegel, den der Landtag vorgeschoben hat, ist komplett unnütz.

Sie sprechen von dem Stopp für die Ausweisung neuer Tourismuszonen bis zur Inkrafttretung des neuen Urbanistikgesetzes am 1. Jänner 2020, der vergangene Woche mit dem Omnibusgesetz beschlossen wurde?

Das ist komplett unnütz, ja. Da geht es ja nur um einen Aufschub von drei Monaten. Und wir müssen schon festhalten, dass der Landtag bereits im Juni 2018 Klartext geredet hat. Aus dem neuen Landesgesetz für Raumordnung und Landschaft geht klar hervor, dass neue Tourismuszonen auf der grünen Wiese in stark entwickelten und entwickelten Gebieten außerhalb der Siedlungszonen nicht mehr zulässig sind. Wir durften das Gesetz  mitgestalten und auch wenn es auch kein hundertprozentiges Einverständnis in unseren Kreisen gibt, sind wir mit dieser Regelung größtenteils einverstanden. Deshalb: Das ist das ja schon geregelt.

Warum, vermuten Sie, hat die zuständige Urbanistiklandesrätin Maria Hochgruber Kuenzer, dennoch den Antrag auf den Ausweisungs-Stopp vorgelegt?

Der Auslöser waren diese 46 Anträge für Tourismuszonen, die aufliegen. Wobei man schon wissen muss, dass, ich sage jetzt einmal “nur” zehn davon Anträge für eine neue Tourismuszone auf der grünen Wiese sind. Der Rest betrifft Tourismuszonen über bestehenden Betrieben. Wir sagen: Wenn ein bestehender Betrieb etwas macht – eine kleine Erweiterung im Eingangsbereich oder einen Speisesaal dazu bauen –, muss man großzügig sein. Den Rest regelt das Gesetz mit 1. Jänner 2020 schon klar.

Die Landesregierung hätte meines Erachtens ohne weiteres über diese zehn Anträge entscheiden können. Denn es besteht ja kein Recht auf Ausweisung einer Tourismuszone, sondern es ist schlussendlich eine technische und danach eine politische Entscheidung. Die Anträge gehen zunächst durch die Kommission für Natur, Landschaft und Raumentwicklung – und man hätte sich noch weitere Gutachten einholen können. Und dann muss man halt einfach entscheiden: Hier geht es gut, hier geht es nicht gut. Und wenn es zehn Mal nicht gut geht, dann geht es eben zehn Mal nicht gut.
Deshalb: Ich war immer der Meinung, dass man bei den laufenden Anträge, die bis 31. Dezember laut altem Raumordnungsgesetz noch eingereicht werden, schon hätte Fall für Fall bewerten können. Aber ich kritisiere das nicht, ich stelle das nur fest.

Der letzte Riegel, den der Landtag vorgeschoben hat, ist komplett unnütz.

Verträgt Südtirol neue Tourismuszonen?

Zunächst sind wir der Überzeugung, dass es in strukturschwachen Gegenden für die Allgemeinheit insgesamt wichtig ist, durch touristische Entwicklung Arbeitsplätze vor Ort zu garantieren – dort, wo es notwendig ist.

Wenn Sie durch das Land fahren, werden Sie selbst sehen, dass in den letzten Jahren sehr vieles gebaut und viel zugebaut wurde. Aber Sie werden sich schwer tun, mir an drei Händen komplett neue Betriebe auf der grünen Wiese aufzuzählen. Wenn Sie von der Plose hinunterblicken, sehen Sie sicherlich genügend große Gewerbebetriebe. Oder vom Vinschger Sonnenberg – mein lieber Schwan! – Obstegenossenschaften, Gewerbebauten. Aber um Hotels zu sehen, brauchen Sie eine Lupe! Deshalb wehren wir uns schon auch ein bisschen.

In Latsch wurde im Frühjahr eine Tourismuszone für den Neubau eines Luxushotels inmitten von Obstwiesen ausgewiesen. Einen ähnlichen Fall gibt es in Feldthurns – zwei Beispiele für komplett neue Betriebe auf der grünen Wiese, gegen die unter anderem Umweltschützer und Opposition Sturm laufen.

Man muss schon immer auch schauen, wer dahintersteht. Wir sind absolut einverstanden, wenn eine gastgewerbliche Unternehmerfamilie dahintersteht und nicht Investoren, die einen Betrieb als Spekulationsobjekt errichten. Ich kenne den Fall in Latsch, weil er in meiner Nachbarschaft liegt. Da handelt es sich um eine Top-Hoteliersfamilie, die einen Betrieb und zwei tüchtige Söhne hat und entsprechend Interesse, einen zweiten Betrieb zu errichten. Alle zuständigen Gremien, von der Gemeinde bis zur Landesraumordnungskommission haben den Antrag positiv bearbeitet. Da glaube ich, brauche ich nichts mehr dazu sagen.

Der Antrag in Feldthurns war auf ein Zentralgebäude und circa 20 Chalets, die Landesregierung hat ihn auf insgesamt elf Gebäude reduziert. Auch dort handelt es sich um eine rührige Unternehmerfamilie – und ich habe mir das einmal angeschaut: So weit außerhalb vom Dorf, wie da immer gesagt wird, entsteht der Betrieb nun auch nicht.

Mehr, mehr, mehr muss nicht sein.

Noch aus einer anderen Ecke weht Gegenwind: Urlaub auf dem Bauernhof boomt mit inzwischen knapp drei Millionen Nächtigungen im Jahr. Neue Begehrlichkeiten könnte auch die Tatsache wecken, dass mit dem neuen Raumordnungsgesetz geschlossene Höfe auf bis zu 1.500 Kubikmeter erweitert werden dürfen – auch für die Vermietung von Gästezimmern und möblierten Ferienwohnungen. Was sagen Sie dazu, dass immer mehr Bauern den gewerblichen Beherbergungsbetrieben Konkurrenz machen?

Urlaub auf dem Bauernhof ist als touristisches Zusatzangebot positiv, aber eines muss klar sein: Urlaub auf dem Bauernhof muss ein Zu- und Nebenerwerb sein. Das ist auch gesetzlich so geregelt. Der Bauernbund hat seinen Einsatz in diese Richtung letzthin verstärkt und gesagt: Achtung, wir haben jetzt die Möglichkeit doch ziemlich viele Gäste unterzubringen, auch in mehreren Einheiten – aber es muss dann schon gewährleistet sein, dass das ein Zu- und Nebenerwerb ist. Leider Gottes ist es teilweise eben nicht der Fall, sondern Urlaub auf dem Bauernhof wird als Haupterwerb betrieben – mit allen steuerlichen und gesetzlichen Vorteilen. Es ist klar, dass unsere kleinen und Kleinstbetriebe da total in Konkurrenz stehen. Und das kann auch die Gesellschaft nicht immer positiv mittragen.

Seit Jahren läuft eine Diskussion über Urlaub auf der Alm und Camping am Bauernhof, vorangetrieben vom Bauernbund. Landesrätin Hochgruber Kuenzer hat den Vorhaben, die sie als Vertreterin der Landwirtschaft in der vergangenen Legislatur politisch unterstützt hat, vorerst eine Absage erteilt. Der HGV ist klar dagegen. Warum?

Mit Urlaub auf der Alm waren wir von der ersten Minute an nie einverstanden und haben immer davor gewarnt, Almhütten in kleine Beherbergungsbetriebe umzuwandeln. Genauso ist es bei Campingplätzen an der Hofstelle. Camping als zusätzliche Schiene geht in Ordnung – und ist im Land geregelt. Aber wir meinen einfach, es reicht jetzt. Es ist schon klar, dass nicht wir entscheiden. Aber auf der einen Seite würde man gern bei uns alles reduzieren und “zomstutzen”, wie wir Vinschger sagen. Und auf der anderen Seite würde man dann noch einmal ein zusätzliches Tor aufmachen. Das kann es auch nicht sein.

Gilt diese Haltung auch für die Buschenschänke, an denen erst vorige Woche im Landtag Kritik geübt wurde, weil sie inzwischen vielfach wie regelrechte Restaurantbetriebe ohne gewerbliche Lizenz geführt würden?

Ja sicher. Unsere einfachen Dorfgasthäuser und Gasthäuser, die vielen urbanistischen, steuerlichen und sanitären Bestimmungen unterworfen sind, haben damit natürlich viel Konkurrenz. Den Buschenschank hat man inzwischen aufgeweicht, so mussten zum Beispiel früher 70 Prozent der Produkte aus Eigenproduktion stammen, heute sind es 50 Prozent. Der Bauernbund leistet hier gute Arbeit, klärt die Leute auf und versucht, mit der Marke Roter Hahn die Qualitätskriterien zu stärken. Aber eine Frage ist: Wer kontrolliert?

Das Unwort des Jahres “Overtourism” hat nicht unbedingt dazu beigetragen, um in den letzten Wochen und Monaten Positivstimmung zu verbreiten.

Ein weiteres heißes Eisen bleibt der Bozner Flughafen. Seit Anfang der Woche ist er in den Händen von privaten Betreibern. Was erwarten Sie sich von denen?

Ich war gestern (vorgestern, Anm.d.Red.) bei einer Tagung der vier Handelskammern Bayern, Trentino, Tirol und Südtirol in Innsbruck. Dort ging es um Tourismus und Erreichbarkeit. Professor Siller vom MCI hat mit Zahlen dargelegt, was der Flughafen Innsbruck mit mittlerweile über einer Million Passagieren im Jahr direkt und indirekt für die Destination Innsbruck bringt. Das hat uns klar vor Augen geführt: Wenn der Betrieb gut funktioniert, dann lässt sich schon etwas machen.

Ich kenne die Pläne der neuen Eigentümer bzw. Betreiber des Bozner Flughafens nicht. Doch ich gehe schon davon aus, dass es, was Charterflüge anbelangt, Interesse geben wird, mit uns zusammenzuarbeiten – aber immer in einem bestimmten Rahmen. Aufgrund der geografischen Gegebenheiten inmitten der Berge bin ich überzeugt, dass man hier immer mit kleinen Maschinen auf regionaler Ebene arbeiten und nie Zahlen wie in Innsbruck anpeilen wird. Für uns aber bietet der Flughafen auf alle Fälle eine zusätzliche Möglichkeit, den Leuten einen internationaler aufgestellten Tourismus anzubieten. Im HGV sehen wir das daher größtenteils positiv.

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kurt duschek Fr., 20.09.2019 - 07:43

“Overtourism” ? ....und Schuld hat jetzt niemand! In Südtirol wird den Hotelstrukturen (siehe 4 und 5 Sterne Hotels) zu viel Priorität geschenkt. Die sprichwörtliche Gastfreundschaft der 60 bis 80er Jahre ist leider dem schnöden Mammon geopfert worden.

Fr., 20.09.2019 - 07:43 Permalink
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Martin Daniel Sa., 21.09.2019 - 08:53

“Wir sind nicht alleine schuld”, das werden in ein paar Jahrzehnten alle sagen, nachdem die Klimakatastrophe außer menschliche Kontrolle geraten sein wird. In der Zwischenzeit lobbyiert der Tourismus nicht nur für den Flughafen, sondern ist ganz alleine für die zunehmende Zahl an Spaß-Hubschrauberflügen im Lande verantwortlich. Neueste Bedrohung: Lufttaxis von Meran ins Passeiertal!

Sa., 21.09.2019 - 08:53 Permalink