Chronik | Bomben-Entschärfung

Moris Verdacht

Der Ex-Untersuchungsrichter und Waffenexperte Edoardo Mori hat die Aktion von Sonntag kritisch unter die Lupe genommen und kommt dabei zu einem spektakulären Schluss.
Bomba
Foto: Comune Bz
Der Mann kann weder als Verrückter noch als Verschwörungstheoretiker bezeichnet werden.
Edoardo Mori ist in Südtirol ein Begriff.  32 Jahre lang war Mori im Südtiroler Justizwesen in verschiedenen Rollen tätig. Als Bezirksrichter, als Untersuchungsrichter, als Voruntersuchungsrichter und als Vorverhandlungsrichter. Mit der Erreichung des 70. Lebensjahres ging der Bozner Richter 2010 in Rente.
Edoardo Mori ist aber auch einer der bekanntesten und renommiertesten Waffenexperten Italiens. Mori hat Dutzende Bücher über Waffen und Sprengstoffe geschrieben. Er hat in parlamentarischen Kommissionen zu diesem Thema mitgearbeitet und betreibt seit Jahren mit der viel beachteten Internetplattform „armi.it“ eine Art Enzyklopädie der Waffen.
 
 
Auf „earmi.it“ werden dabei auch immer wieder aktuelle Themen abgehandelt. Jetzt hat Edoardo Mori in diesem Blog eine lange Abhandlung zur Bombenentschärfung vom Sonntag in Bozen veröffentlicht.
Es ist eine fachliche, kritische Analyse der Entschärfungsaktion, die kein besonders gutes Haar an der Praxis des italienischen Militärs lässt. Vor allem aber spricht Edoardo Mori in diesem Text einen Verdacht aus, der noch für einige Diskussion sorgen wird.
Salto.bz gibt Moris Ausführungen übersetzt und leicht gekürzt wieder.
 

Die Bombe

 
Bei der am Sonntag in Bozen entschärften Bombe handelt es sich um eine 250 kg schwere US-amerikanische Fliegerbombe Auf der Skala der II Weltkrieg-Bomben (von ca. 100 kg bis 2.000 kg, aber auch 10.000 kg) handelt es sich also um eine kleinere Bombe.
Ich bin immer wieder sehr erstaunt über die Regeln, die die italienische Armee für die Entschärfung von Flugzeugbomben anwendet. Ich habe gelesen, dass mit einer Bruttobombe von 250 kg (140 kg Sprengstoff) die Schockwelle und die Splitter laut der Tabellen des italienischen Militärs bis zu fast 2 km (genauer gesagt 1830 m) tödlich sein können. Ich wäre gespannt, auf welcher wissenschaftlichen Grundlage diese Tabelle erstellt wurde. Ich habe Dutzende Bücher zu diesem Thema gelesen und studiert und noch nie etwas Vergleichbares gefunden.
Ich habe Dutzende Bücher zu diesem Thema gelesen und studiert und noch nie etwas Vergleichbares gefunden.

Beispiel Deutschland

 
In Deutschland, wo sie jedes Jahr mehr als 5000 nicht explodierte Bomben finden, hat man im Sprengstoffgesetz offiziell festgelegt, dass der Sicherheitsradius auch für die stärksten Bomben bis zu tausend Meter beträgt.
Die wichtigste Abhandlung über die Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg (Hampe: Der zivile Luftschutz im Zweiten Weltkrieg, Dokumentation und Erfahrungsberichte über Aufbau und Einsatz, 1963) legt fest, dass mit einer Bombe von 500 kg Sprengstoff, netto, ein Gebäude auf 50 Meter schwer beschädigt wird. Um ein Gebäude in einer Entfernung von 100 Metern zu beschädigen, müssen die Mengen aber sechsmal größer sein.
 
 
Es genügt eine kurze Internetrecherche zu den jüngsten Entschärfungen in Deutschland, um zu sehen wie groß dort die Evakuierungsbereiche sind. Wobei zu berücksichtigen ist, dass man unter Evakuierungszone einen Bereich versteht, aus dem sich jede Person entfernen muss und unter einer Sicherheitszone einen Bereich in dem die Menschen im Haus bleiben sollen. Man geht allgemein davon aus, dass diese Sicherheitszone einen doppelt so großen Radius wie die Evakuierungszone haben muss.
 
Hier einige Beispiele: 

                                                       (Evakuierungs + Sicherheitszone)
 
Kiel (12-10-2019)                          250 kg Bombe             250 + 250 m 
Köln (14-10-2019)                         500 kg Bombe             500 + 500 m 
Bielefeld (07-10-2019)                  500 kg Bombe             500 + 500 m 
Gladbeck (31-1-2019)                   250 kg Bombe             250 + 250 m 
Dortmund (20-5-2019)                  250 kg Bombe             250 + 250 m 
Münster (6-3-2019)                       500 kg Bombe             500 + 500 m 
 
Zusammenfassend kann daher gesagt werden, dass in Deutschland (wo die Entschärfung privaten Unternehmen übertragen wird, die für jedes Risiko versichert sind und der Grundbesitzer alle Kosten tragen muss) für eine 250-kg-Bombe normalerweise eine Evakuierung im Umkreis von 250 Metern als ausreichend angesehen wird Meter, Zusätzlich einer weiteren Sicherheitszone von 250 Metern, in der sich Menschen nicht Freien aufhalten dürfen, weil die Gefahr besteht, dass Bruchstücke herunterfallen.
 

Die Entschärfung

 
Die am häufigsten angewendete und sicherste Entschärfungsmethode ist das Schneiden der Bombe mit einem Wasserstrahl und Sand bei einem Druck von 3000 bar. Damit kann bis zu 12 Zentimeter dicker Stahl geschnitten werden. Zur Sicherheit der Feuerwerker erfolgt diese Arbeit ferngesteuert. Diese Regeln entsprechen der wissenschaftlichen Analyse, die zur Aufstellung zuverlässiger mathematischer Formeln zur Berechnung der Auswirkungen einer Bombenexplosion führte (Gurneys Formel für Fragmente, Sadovski-Formeln für die Stoßwelle usw.).
Schäden und Gefahren entstehen durch die Erschütterung oder Druckwelle der Explosion, die in kurzer Entfernung ein Gebäude zerstören kann, sowie durch den Auswurf von Bruchstücken und Steinen. Die Stoßwelle, die mit einer Druckwelle, einem Wind oder einem Geräusch verglichen werden kann, nimmt mit zunehmender Entfernung vom Ursprungsherd schnell ab und wird von einem Hindernis oder einer Barriere gebremst oder abgelenkt.
 
 
Nach den allgemein gültigen Formeln von Sadovski bewirkt eine 250 kg schwere Bruttobombe einen Druck von ca. 0,5 at auf ein 100 Meter entferntes Gebäude. Es ist der Mindestabstand, den die Bombentechniker selbst einhalten müssen und der ein Gebäude schwer beschädigt.
Die Explosion derselben Bombe beschädigt die Blätter eines Baumes bis zu 30 Meter Entfernung. Wenn die Explosion innerhalb eines Gebäudes auftritt, ist der Effekt häufig viel größer. ...(...)...
Es ist daher klar, dass eine Reihe von Gebäuden, die direkt der Bombe gegenüberstehen einem hohen Risiko ausgesetzt sind. Die Gebäude dahinter sind aber nur einem sehr geringen Risiko ausgesetzt.
Der in Deutschland verwendete Abstand von 250 Metern ist daher vernünftig. Besteht zwischen der Bombe und einer Person ein Abstand von 250 Metern, reduziert sich die Stoßwelle auf 0,2 bar, ein Druck, dem auch das menschliche Trommelfell widerstehen kann.
Als sicher für den Auswurf von Bruchstücken oder Steinen gilt die Entfernung von 900 Metern. Dies ist der Abstand, der in jedem Handbuch für die Deaktivierung des Projektils angegeben ist. Das aber ist nur dann der Fall, wenn die Bombe auf den Boden liegt und damit die Splitter auch mit sehr hoher Geschwindigkeit ungehindert in die Luft geschleudert werden
Es eine Pflicht des Verteidigungsministeriums die wissenschaftlichen Grundlagen, der von ihnen verwendeten Evakuierungstabellen der Öffentlichkeit zu erläutern. Nur dann kann man die Unterstellung aus der Welt räumen, dass man die die Werte der Tabellen nur vervierfacht hat, um die absolute Sicherheit der Bürokraten zu gewährleisten.
Befindet sich die Bombe aber in einem Loch in der Erde, können die Fragmente nur nach oben geschleudert werden und sie gehen dann im Umkreis von einigen hundert Metern nieder, haben aber kaum zerstörerische Wirkung.
Die Erfahrung bei Terroranschlägen, bei denen ein Auto mit Sprengstoff gefüllt wurde, zeigt, dass bei 230 kg Sprengstoff in 30 m Entfernung tödliche Auswirkungen bestehen. Die einzuhaltende Mindestentfernung 100 m und die sichere Entfernung 320 m beträgt.
 

Das Gesetz

 
Das Schöne ist, dass diese Daten und Fakten auch nach den offiziellen italienischen Bestimmungen und Gesetzen bestätigt werden.
Die Bestimmungen des Testo Unico des Gesetzes über die öffentliche Sicherheit legen fest, dass eine Ablagerung von 200 kg TNT einen Sicherheitsabstand von 215 Metern erfordert. Für 300 kg sind 260 Meter.
Bei der Entschärfung der Bozner Bombe wurde ein Sicherheitsbereich mit einem Radius von fast 2 Kilometern festgelegt. Das entspricht damit 30 Tonnen TNT.
 
 
In ähnlicher Weise sehen die internationalen Evakuierungsregeln für Angriffe durch Beladen eines Fahrzeugs mit Sprengstoff vor, dass bei einem LKW mit 30 Tonnen Sprengstoff die Gegend in einem Radius von 1600 Metern geräumt wird (siehe Paul Tasca, Bombs, IEDs, and Explosives: Identification, Investigation, and Disposal Techniquesm 2016.)
 

Mein Verdacht

 
Ich glaube an dieser Stelle, dass es eine Pflicht des Verteidigungsministeriums ist, die wissenschaftlichen Grundlagen, der von ihnen verwendeten Evakuierungstabellen der Öffentlichkeit zu erläutern.
Nur dann kann man die Unterstellung aus der Welt räumen, dass man die die Werte der Tabellen nur vervierfacht hat, um die absolute Sicherheit der Bürokraten zu gewährleisten. Ohne auf dabei die die Schäden, Unannehmlichkeiten und Ausgaben der Bevölkerung zu berücksichtigen.
Zudem habe ich einen begründeten Verdacht.
Das könnte aber bedeuten, dass die italienischen Streitkräfte eine amerikanische oder englische Tabelle verwendeten, ohne zu bemerken, dass die Werte in Fuß und nicht in Metern angegeben wurden.
Gehen wird vom seltsamen Wert von 1.830 Meter für die Sicherheitszone aus, den die von den Streitkräften verwendeten Tabellen angeblich anzeigen. Es ist bekannt, dass die amerikanischen und englischen Tabellen die Entfernung nicht in Metern sondern in Fuß (feet) ausdrücken. Der Zufall will es dass 1.830 Fuß genau jene 500 Meter sind, die international als Sicherheitszone angewandet werden (es sind ca. 557 m, A.d.A.).
Das könnte aber bedeuten, dass die italienischen Streitkräfte eine amerikanische oder englische Tabelle verwendeten, ohne zu bemerken, dass die Werte in Fuß und nicht in Metern angegeben wurden.
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Profil für Benutzer Sepp.Bacher
Sepp.Bacher Di., 22.10.2019 - 14:40

Köstliche Geschichte, wenn es wirklich so wäre. Bin gespannt, ob und wie die betroffenen Militärs, aber auch die politisch Verantwortlichen darauf reagieren?

Di., 22.10.2019 - 14:40 Permalink
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Michl T. Di., 22.10.2019 - 15:00

der Verdacht ist so verwegen wie jener, dass der amtierende italienische *Außenminister* Probleme im Englischen und in der Kommunikation mit seinen Amtskollegen hat :-O

Di., 22.10.2019 - 15:00 Permalink
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Daniele Menestrina Di., 22.10.2019 - 15:55

Erinnert ein wenig an die Geschichte der US-Sonde Mars Climate Orbiter, die 1999 auf dem roten Planeten zerschellte, weil man gewisse Parameter in Fuss/Pfund anstatt Meter/Kilo eingegeben hatte. Nur war der Spass damals ein klein wenig teurer.

Di., 22.10.2019 - 15:55 Permalink
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Hartmuth Staffler Di., 22.10.2019 - 16:43

Ich glaube nicht, dass man hier gespannt auf eine Antwort der Militärs und der politisch Verantwortlichen warten muss. Die werden sich alle in Schweigen hüllen und darauf warten, dass die Sache vergessen wird - wie so oft.

Di., 22.10.2019 - 16:43 Permalink
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Heinrich Zanon Di., 22.10.2019 - 17:22

Edoardo Mori hat sich nie gescheut, gegen den Strom zu schwimmen und unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Es ist davon auszugehen, dass er auch diesmal ins Schwarze getroffen hat.
Die Zeiten sind jetzt einmal so: jeder, der wie immer Verantwortung zu tragen hat, ist bestrebt, sich grundsätzlich so gut und so weit wie möglich abzusichern, und weit kann dann eben zu einem Sicherheitsabstand von 1.830 Metern werden.
Wenn man (abgesehen von den Unannehmlichkeiten und Ängsten für viele Bürger) die hohen Kosten und Schäden einrechnet, welche die praktisch stadtweit betriebene extreme Absicherung der Entschärfung mit sich gebracht, wäre es vermutlich weitaus billiger geworden, die Gefahrenzone realistischer einzugrenzen und die zur Deckung eventueller (höchst unwahrscheinlicher) Risiken außerhalb jener Zone eine Versicherungslösung anzustreben.

Di., 22.10.2019 - 17:22 Permalink
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Profil für Benutzer Karl Egger
Karl Egger Mi., 23.10.2019 - 09:59

Interessanter und unterhaltsamer Artikel! Kein Wunder dass die Tageszeitung mal wieder ohne Verweis abschreibt...

Mi., 23.10.2019 - 09:59 Permalink
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Profil für Benutzer Edoardo Mori
Edoardo Mori Mi., 23.10.2019 - 17:44

Danke für die Wertschätzung
Gestatten Sie mir eine kleine Ergänzung

Am 28. August 2012 wurde in München, Stadviertel Schwabing, eine 250 kg schwere Bombe an Ort und Stelle gesprengt, da sie nicht deaktiviert werden konnte. Die Bombe wurde mit Tonnen von Strohballen bedeckt. In einem Radius von 300 Metern wurden etwa 2500 Menschen evakuiert; keine Sicherheitszone. Siebzehn Häuser um die Explosion herum wurden beschädigt, die Fenster wurden auch hinter der ersten Häuserreihe eingeschlagen, Splitter von feurigem Stroh verursachten kleine Brandstellen, es gab keine Verletze (https: // www. thelocal.de/20120828/44617).

Gibt es einen besseren konkreten Beweis dafür, dass es über 300 Meter keine Gefahren bestehen?

Mi., 23.10.2019 - 17:44 Permalink
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Profil für Benutzer Klemens Riegler
Klemens Riegler Sa., 26.10.2019 - 10:43

Das Schöne und Gute an der Bombenentschärfung - bzw. auch der 1830 "Fuß" großen Sicherheitszone - waren sicherlich die Luftwerte. Ich denke, diesbezüglich war es für Bozen der beste Tag des Jahres. Und nebenbei war es ja so unglaublich still, ruhig und leise. Einzigartig für Bozen!

Sa., 26.10.2019 - 10:43 Permalink
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Profil für Benutzer Heinrich Zanon
Heinrich Zanon Sa., 26.10.2019 - 14:57

Ein schöneres, stilles und ruhiges Bozen könnte man ja auch billiger - ohne Bombenentschärfung und ohne Evakuierungen und Hausarreste - durch mehr verordnete Radlertage mit hundsgemeinen Fahrverboten für Motorfahrzeuge haben.

Sa., 26.10.2019 - 14:57 Permalink
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Profil für Benutzer Peter Gasser
Peter Gasser Sa., 26.10.2019 - 15:35

Antwort auf von Heinrich Zanon

da haben Sie recht; aber wenn Sie dort wohnen und plötzlich heim müssten oder von zuhause weg müssten, was dann?
Ist mir einmal passiert: Morgens raus, Wanderung, Platzregen, alle patschnass, und nun stehst du um 15:30 Uhr an der Sankt-Anton-Brücke und darfst nicht nach Hause fahren. Das Kind, nass, hustet und rotzt, und du stehst da, und appellierst an den Hausverstand gesetzestreuer Polizisten...

Sa., 26.10.2019 - 15:35 Permalink
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Profil für Benutzer Heinrich Zanon
Heinrich Zanon So., 27.10.2019 - 07:59

Die 1.830 Meter haben mich verfolgt und so habe ich selbst nochmals nachrechnen wollen.
Ein englischer bzw. amerikanischer Fuß ("foot") entspricht 0,3048 Metern.
Die Multiplikation 600 x 0,3048 ergibt 1.828,8, aufgerundet also 1.830. Wieviel mehr Beweise brauchen wir also noch?
Ein Sicherheitsradius von 600 Metern hätte also wohl dem internationalen Standard endsprochen.

So., 27.10.2019 - 07:59 Permalink
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Profil für Benutzer Martin Aufderklamm
Martin Aufderklamm Sa., 12.09.2020 - 18:22

In ein paar Wochen haben wir dieselbe gelbe Zone von 1.830 Metern wie im Oktober 2019.

Hat sich in der Zwischenzeit jemand darum gekümmert?
Offensichtlich nicht.

Zum Schämen!

Sa., 12.09.2020 - 18:22 Permalink