Die Bagage

“Die Bagage”, haben sie gesagt.

An einer Oberschule, wo ich an einer Podiumsdiskussion zu den Landtagswahlen teilnahm.
Hinweis: Dieser Artikel ist ein Beitrag der Community und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.

Wir am Podium plänkelten so vor uns hin, ein bisschen Zoff gegen die SVP, ein paar nette Ideen zur Jugendarbeitslosigkeit – und dann zog es uns rein in die Migrationsdebatte. Mit voller Wucht (der Wahlkampf ist ein wenig wie ein Wanderzirkus, wo wir immer wieder gemeinsam auftreten und langsam schon Rede und Widerrede einstudiert haben) stritten wir wieder einmal  zur Rolle der MigrantInnen in unserem Wirtschafts- und Sozialsystem. Pius Leitner und ich zogen unsere üblichen Zahlenreihen hervor und argumentierten zwischen Solidaritätspragmatismus und Allgemeinplatz hin und her.

Dann ergriffen die anfangs noch etwas schüchternen Jugendlichen das Wort. Die Aussagen schwankten dabei zwischen: „Sie schicken auch noch das ganze Geld nach Hause“ über „Sie nehmen uns die Erntearbeitsplätze weg“ und „Wir bezahlen ihnen das alles“ bis zu „Da können sie nach 5 Jahren immer noch nicht unsere Landessprachen!“.

Die Gegenmeinung gab es („Und wer würde diese Arbeiten machen, wenn nicht die Migranten kämen zum Pflegen, Bedienen und Klauben?“). Und es sprach auch eine perfekt dialektsprachige Migrantin, die entsetzt drauf hinwies, dass ihre Eltern beide arbeiten und keine Sozialschmarotzer seien.

Zum Schluss das Schlimmste.

„Das Blödeste sind noch nicht einmal die Ausländer, sondern die ganze Bagage, die sie dann mit ins Land bringen“, sagte eine junge Frau in der dritten Reihe.

„So gut wie bei uns geht’s denen doch nirgends. Wir schieben ihnen das alles in den Arsch“, legte eine zweite junge Frau nach.

Am Podium hatten Pius Leitner und Philipp Achammer einen harten Schlagabtausch zum Anschlag im Flüchtlingsheim in Vintl. Andreas Pöder,  in bester Populistenmanier, lobte die Anwesenden („Man muss das schon sagen dürfen!“). Dann hat die Zeit unsere Diskussion beendet.

Der Direktor war betroffen, ich auch.

Draußen stieß ich auf die junge, couragierte Frau, die in so perfektem Dialekt von ihrer Migrantenfamilie gesprochen hatte. Sie fühlte sich allein und verletzt.

Und zornig ob der offensichtlichen Ungerechtigkeit all dessen, was sie sich hatte in ihrer Schule anhören müssen. „Dabei können die alle nach 12 Jahren immer noch kein Italienisch!“, sagte sie. Zornig war sie auch auf die Politiker, die das alles zulassen.

Zu Recht. Auch in mir schwirrt immer noch die „Bagage“ herum, die wir zugelassen haben. Nein, Andreas Pöder, ich finde, das soll man nicht sagen dürfen. Die Mädels sind sich vielleicht nicht im Klaren, was das bewirkt, ein alter Politiker sollte wissen, was damit bewirkt wird.

Nach Jahren „Ausländer“-Diskussion bin ich immer sicherer: Debatte für Debatte, Tag für Tag verschieben sich Grenzen in uns.

Eine böse Ahnung hat sich heut bestätigt. Dass nämlich die Grenzen des Sagbaren tatsächlich auch die Grenzen des Denkbaren sind.

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Maximilian Ben… Mi., 02.10.2013 - 08:36

Auch weil die meisten dieser Maedchen keine Migranten wirklich kennen und jene die sie kennen, nehmen sie gar nicht als Migranten war (wie das Maedchen, das Dialekt spricht). Was bleibt sind abstrakte Bilder und alte Geier, die grinsen.

Mi., 02.10.2013 - 08:36 Permalink
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Simon Lanzinger Sa., 05.10.2013 - 02:32

Antwort auf von Maximilian Ben…

Auch Sie scheinen nicht viele Migranten zu kennen. Es ist unabstreitbar, dass die meisten Migranten in Südtirol super integriert sind und auch einen wertvollen Beitrag zur Gesellschaft leisten, aber es gibt auch viele schwarze Schafe (nicht auf Hautfarbe bezogen :D ).
Ich kenne viele Migranten und schaffe es beim besten Willen nicht mir ein gutes Bild von vielen zu schaffen. Es ist zwar falsch die Problematik so zu vereinfachen und Ausländer zu pauschalisieren aber der derzeitige Weg, den unsere Politik einschlägt kann nicht der richtige sein.
Zudem wäre es übrigens einfach nur lächerlich wenn man behaupten würde, dass es auch unter vieln Südtirolern viele schwarze Schafe gibt. Einige mag es zwar geben, aber die Personen welche mich und viele andere beim Ausgehen mit Messern bedroht haben, waren bisser zu 100 % Migranten.

Sa., 05.10.2013 - 02:32 Permalink
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Frank Blumtritt Sa., 05.10.2013 - 20:27

Antwort auf von Maximilian Ben…

ich verstehe nicht, was Sie aus Ihrem letzten Kommentar schließen... dass "Migranten" von Haus aus, genetisch, a priori Messerstecher sind? Woher kommt denn das Böse, wenn nicht von sozio-ökonomischen Problemen? Wenn Sie den Südtirolern den Geldhahn zudrehen, dann greifen die auch zum Messer. Ist es so schwer zu verstehen, dass Migranten migrieren, weil sie dazu gewungen sind? Das einzige, was wir tun können, ist kurzfristig die Grundbedürfnisse der Migranten zu befriedigen (wobei zu diesen Grundbedürfnissen nicht nur Nahrung, sondern auch Respekt, Anerkennung, soziale Aufnahme gehören) und mittel- und langfristig helfen, die Probleme ihrer Herkunftsländer zu lösen, damit Migration für sie nicht mehr notwendig ist. Alles Andere verstößt ethischen, christlichen und gesetzlichen Normen und führt uns über kurz oder lang in den Abgrund. Die potentiellen Migranten sind logischerweise grundsätzlich in der Überzahl.

Sa., 05.10.2013 - 20:27 Permalink
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Simon Lanzinger Sa., 05.10.2013 - 23:04

Antwort auf von Maximilian Ben…

Ich spreche hierbei nicht von Migranten, die mit einem Fischerboot über das Mittelmeer nach Europa kommen und zu Kleinkrimminellen werden um irgenwie zu überleben. Ich spreche von Migranten (z.B. viel aus Osteuropa), welche schon in der zweiten Generation hier leben und meiner Meinung nach eine kranke Vorstellung davon haben inwiwweit man sich integrieren sollte und wie man sich an die einfachsten Gesetze hält. Anders kann ich mir ein Verhalten dieser Art nicht vorstellen.
Die meistern der Ausländer, auf welche ich mich beziehe, haben auch eine Arbeit wie tausenden Südtiroler auch. Also verstehe ich nicht warum sie sich gezwungen sehen ihr Einkommen mit dem Verkauf von Drogen und anderen Verbrechen aufstocken zu müssen.
Es ist zwar schwer eine passende Lösung für dieses Problem zu finden aber wenn Behörden dazu nicht in der Lage sind ist es Aufgabe unserer Politik eine Lösung zu finden.
Ich wiederhole, dass ich auf keinen Fall alle Ausländer in die selbe Schublade stecken will.

Sa., 05.10.2013 - 23:04 Permalink
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no name Mi., 02.10.2013 - 09:07

Vielleicht sollte sich mal wer fragen, welche Sorgen/Ängste/Interessen sich in dieser verquerten "Ausländerdebatte" artikulieren, anstatt Sprachverbote zu erteilen.

Mi., 02.10.2013 - 09:07 Permalink
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Brigitte Foppa Mi., 02.10.2013 - 09:27

Antwort auf von no name

richtig! Genau das haben wir gestern getan. Und dabei sind wir auf eine Fehlinformation nach der anderen gestoßen. Immer fest geschürt von unseren Populisten, die alles zulassen. Den Anlass haben wir auch genutzt, um zu erklären, wie streng das Boss-Fini-Gesetz die Familienzusammenführung (Bagage) regelt. Oder dass es 5 jahre Ansässigkeit braucht, um die "vielen" Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen. Wie der Stundenlohn für Erntehelfer aussieht. Wer rund um die Uhr unsre alten Eltern pflegt. Und so weiter.
Rationalen Sorgen und Ängsten kann man mit Information entgegnen. Der irrationalen Bagage-Denke aber, was setzt man der entgegen?

Mi., 02.10.2013 - 09:27 Permalink
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no name Mi., 02.10.2013 - 10:07

Antwort auf von no name

Nein, liebe Brigitte. Es geht hier nicht um "Fehlinformation" vs. Aufklärung - dieser Ansatz verfehlt sein Ziel. Dass es sich hierbei um "Einbildungen" handelt, ist doch klar. Ich sehe diesen Rassismus/Nationalismus für ein Produkt der nicht-adäquaten Artikulation der Klassengegensätze in Südtirol, um das mal auf old school zu sagen. Ich will jetzt nicht deterministisch klingen, aber es ist doch klar dass sich hier wirtschaftlich-politische Probleme in Form des "Einheimische-Ausländer"-Gegensatzes ausdrücken.
Die Frage ist also: Wie thematisiert man diese ökonomischen Fragen, die die zunehmende soziale Ungleichheit, Wirtschaftskrise, ect. stellen, auf eine "progressive" Art?

Mi., 02.10.2013 - 10:07 Permalink
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Brigitte Foppa Mi., 02.10.2013 - 11:42

Antwort auf von no name

Was die „elitären Grünen“ anbelangt, bin ich ganz deiner Meinung, werte/r Anonyma/us.
Womit ich nicht ganz einverstanden bin, ist das Erklärungsschema der "guerra tra poveri".
Die SchülerInnen kommen nicht aus armen Familien. Der "Ausländer-disagio" ist ein "disagio di agiati". Alles andere würde ich noch verstehen und auch anders angehen.
Noch ein Wort zum „Redeverbot“. Das habe ich nicht auferlegt. Im Gegenteil, erst wenn wir von den Meinungen hören, können wir auch einen Umgang damit finden.
Für eine achtsame Sprache bin ich trotzdem, und die meisten salto-User sind das wohl auch. Und bestimmte Begriffe vermeiden, weil sie verletzen, verunglimpfen oder Ungerechtes weiterschreiben oder –sagen, gehört zum demokratischen BürgerInnensein dazu.

Mi., 02.10.2013 - 11:42 Permalink
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Benno Kusstatscher Mi., 02.10.2013 - 09:21

Wie traurig, dass die heutige Jugendgeneration mit solchen künstlich geschürten Ängsten konfrontiert ist, anstatt mit Make Love and Peace eine bessere Welt einläuten zu dürfen. Es ist erschreckend, dass nicht einmal mehr die aus tiefschwarzen Familien entstammenden Jugendlichen erkennen, wenn dem Stimmenfang die fundamentalsten christlich-europäischen Grundwerte geopfert werden. Wenn ich mir anschaue, wie viele der hiesigen Parteien sich entsprechender Rhetorik bedienen, ist es wohl kein Wunder. Brigitte, bezeichnenderweise sind es weder laue Parteiprogramme noch verrückte Visionen, sondern ein Mindestmaß an menschlichem Anstand, das dann letztlich doch all jene zusammenschweißt, die stolz auf etwas sein möchten und sich nicht ständig für unaufgeklärtes Gedankengut in unserem Land schämen wollen. Eine notwendige, defensive Reaktion, die der demokratischen Pluralität und dem programmatischen Fortschritt leider nicht dienlich ist. Aber was soll’s? Ohne festen Stand bringt die nächste Seillänge halt nix.

Mi., 02.10.2013 - 09:21 Permalink
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Salto User
Manfred Gasser Mi., 02.10.2013 - 15:54

Antwort auf von Manfred Gasser

Leider ziemlich nahe an der Realität, wenn man dem Stammtischgeschwätz zuhört. Und ich befürchte, wenn die letzte Hürde genommen ist, wenn der erste Stein geworfen ist, erst dann werden wir sehen, WIE VIELE Menschen hier in unserem schönen, reichen Land wirklich ausländerfeindlich sind, und ich befürchte leider SEHR VIELE!!

Mi., 02.10.2013 - 15:54 Permalink
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ulrike spitaler Mi., 02.10.2013 - 10:01

Es ist schlimm, was im Moment zu diesem Thema an Gemeinplätzen und Menschenverachtung zu hören ist. Und am schlimmsten ist es, dass in der Vorwahlzeit viele Politiker diese Stimmung ganz offen ausnutzen - Kriegsflüchtlinge und andere Ausländer so im allgemeinen - und die meisten der anderen mit minimal mehr Schamgefühl schweigen ganz einfach dazu, wenn sie gewählt werden wollen.
Wir sind auf jede vernünftige oder einfach nur nicht pauschalisierende Stellungsnahme zu diesem Thema dringend angewiesen.
Leider. Danke

Mi., 02.10.2013 - 10:01 Permalink
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Peter Righi Mi., 02.10.2013 - 10:07

Immer wieder wird das Ausländerthema politisch und populistisch genutzt. Wie man sieht, ... wirkungsvoll.
Leider hatten und haben viele Südtiroler/innen nie die Chance wahrgenommen in einem anderen Land "Ausländer" zu sein. Die Ansichten ändern sich schnell, wenn junge Menschen ihren Horizont erweitern und mal eine bestimmte Zeit im Ausland verbringen.

Mi., 02.10.2013 - 10:07 Permalink
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Benno Kusstatscher Mi., 02.10.2013 - 10:08

Oliver, schön theoretisch Deine an sich richtige Aussage. Ich kenne fast mehr Parteien als Menschen, die auf Feindbilder projizieren und sich auf diffusen Ängsten sonnen, sofern sie schon existieren und sonst halt bewusst welche schüren. Natürlich gibt es da anzusetzen, aber wessen Pflicht ist es denn, bitte? Haben die einen das Recht, die Gräben zu öffnen? Müssen Brigitte & Co sich darum kümmern, gegenzusteuern, anstatt sich der eigenen Themen zu widmen? Geben die Populisten die Marschrichtung vor und die anderen müssen statt zu gestalten Feuerlöscher spielen? Fordern wir nur von einer Seite Verantwortung ein?

Mi., 02.10.2013 - 10:08 Permalink
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Sylvia Rier Mi., 02.10.2013 - 12:28

Grundeinkommen? Eine mögliche Antwort auf diese und andere (Zukunfts-)Ängste der "Bagage"-Sager?! Wenn das eigene Morgen und die eigene Zukunft gesichert sind - wäre dann mehr Großzügigkeit und mehr Großmut auch anderen gegenüber denkbar?!

Mi., 02.10.2013 - 12:28 Permalink
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Profil für Benutzer Sabina Frei
Sabina Frei Mi., 02.10.2013 - 18:01

Wäre es - um meine Vor-SchreiberInnen zu zitieren - denk-, sag- und machbar, dass Menschen das Recht haben, hier ein menschenwürdiges Leben zu führen, einfach weil sie Menschen sind? Unabhängig davon, welchen Dialekt sie sprechen, seit wann und ob sie hier arbeiten oder wie tüchtig sie dabei sind.
Die Frage ist keineswegs rhetorisch gemeint und ihre Beantwortung führt – ganz konkret – in sehr unterschiedliche (auch sozialpolitische) Richtungen. Und, damit das auch gesagt ist, sie hat auch nichts mit Sozialromantik, Gutmenschentum und derlei mehr zu tun…es geht, ganz einfach, um Menschenrechte.
Ich gebe Brigitte recht, wenn sie sagt, dass sich „Debatte für Debatte, Tag für Tag (…) Grenzen in uns (verschieben)“. Und genau deshalb ist es wichtig, dass wir Gespräch für Gespräch, Tag für Tag, dem etwas entgegensetzen, das über blanken Pragmatismus hinausgeht.

Mi., 02.10.2013 - 18:01 Permalink
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Frank Blumtritt Mi., 02.10.2013 - 19:19

ich denke, das ist ein ganz natürlicher Entwicklungsprozess, in dem Südtirol einfach noch ziemlich am Anfang steht. Ausländer waren hier eben in den letzten Jahrzehnten nur Touristen. Und selbst in Deutschland, wo ich bereits in den Sechzigerjahren türkische Nachbarn und Ausländerkinder in der Schulbank hatte (und das auf dem Land..!), gibt es heute noch solche Sprüche, obwohl die Gesellschaft dort eindeutig multikulti geworden ist und viele Probleme gelöst sind, die sich hier noch nicht einmal gestellt haben. Es gibt einfach noch sehr viel zu tun, von politischer Seite, aber vor Allem innerhalb der "società civile". Nur haben wir heute viel weniger Zeit für diesen Paradigmenwechsel, als Deutschland oder Frankreich in der Nachkriegszeit hatten...

Mi., 02.10.2013 - 19:19 Permalink