Gesellschaft | Eisenbahn

AC/DC am Bozner Bahnhof

Kennt ihr das beklemmende Gefühl, eine ethische Entscheidung zu treffen, wenn man den Italo gen Süden oder die neue Bahnlinie in Richtung alter Kaiserstadt besteigt?
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Foto: bk

Es tut sich was im Bahnverkehr: Neue Zugverbindung Bozen-Wien. Neue Verbindung Bozen-Mailand. Bolzano-Napoli eingestellt. Bozen der Nabel der Welt, oder eher Italos letzte Bastions. Eine Provinzstadt, die an einer 150 Jahre alten Bahnstrecke liegt, die im Krieg so heftig bombardiert wurde, weil diese Nord und Süd verbindende Zugstrecke eben eine strategische Kontinentalverbindung ist. Dieser Provinzstadt wird immer mehr das logistische Schicksal eines Kopfbahnhofes angedichtet.  

Ohne gleich die Höllenglocken der gleichnamigen Rockband läuten lassen, kurz zu den Begriffen: AC steht für alternating current, also für Wechselstrom. DC steht für direct current, Gleichstrom. AC/DC spielt heute am Brenner. Während die Eisenbahn in Österreich wie auch in der Schweiz und in Deutschland mit Wechselspannung (15kV, 16⅔Hz) betrieben wird, hielt es Italien aus historisch-militärischen Überlegungen für angebrachter, die Lokomotiven mit Gleichspannung (3kV) zu speisen. Am Brennerpass im Herzen der Europaregion prallen also nicht nur Nationen, sondern auch Technologien aufeinander.

Auch wenn es mittlerweile Mehrstromlokomotiven gibt, gehört ein Pflichtstop am Bahnhof des Tausend-Seelen-Ortes Brenner zu den Annehmlichkeiten eines jeden Intercitys, Eurocitys und wie sie alle heißen. Die Strecke Lienz-Innsbruck wird gleich doppelt beglückt. AC/DC ist immer noch einer der Hauptgründe, warum die neue Strecke Wien-Bozen nicht schneller geworden ist, und warum es auch heute im Jahr 2019 – über zwanzig Jahre nach der Gründung der Europaregion – Regionalzüge gibt, die Innsbruck mit dem Brenner verbinden, die Bozen mit dem Brenner verbinden, anstatt schlicht Innsbruck mit Bozen zu verbinden. Angesichts der Technik steckt die Politik offensichtlich den Kopf in den Sand. Endstation. Alle aussteigen!

Leute, lasst uns doch aufhören mit diesem Unsinn! In Bozen muss sowieso jeder Zug stehenbleiben. Den Baulöwen werden wir schon noch das bissel Platz abringen, um am Bozner Bahnhofsgelände effizient die Lok wechseln zu können. Wipp-, Eisack- und Pustertal ließen sich auch mit Wechselspannung bereisen, würde man meinen. Dann könnte Bahnverkehr auch wieder international gedacht werden, ohne beklemmende Gefühle.

Angesichts des Brennerbasistunnels, dessen südliche Seite mit 25kV Wechselspannung bespeist werden soll, muss sich an der Infrastruktur ohnehin etwas ändern. Wenn wir aber derart lange warten müssten, wer zahlt für all die Arbeitsstunden, die beim Brenner und Winnebacher Pflichtstop bis dahin noch vergeudet werden?              

 

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Hartmuth Staffler Sa., 23.11.2019 - 16:34

Man könnte noch ergänzen, dass das Wechselstromsystem mit 15kV/16 ²/³ Hz vom Bozner Ingenieur Josef Riehl entwickelt und auf der Mittenwaldbahn erstmals angewendet wurde. Italien hat übrigens die erste Elektrifizierung der Brennerstrecke mit Drehstrom 3600 V/16 ²/³ Hz durchgeführt und erst 1960 auf Gleichstrom umgestellt. Heute sind die Systemunterschiede dank der Mehrsystemloks überwunden, der Halt am Brenner ist technisch überhaupt nicht notwendig und dient nur zur Bekräftigung des italienischen Anspruchs auf die "Heiligkeit" der Brennergrenze.

Sa., 23.11.2019 - 16:34 Permalink
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Benno Kusstatscher So., 24.11.2019 - 11:49

Antwort auf von Hartmuth Staffler

Ohne Riehls Verdienste schmälern zu wollen, war meines (amateurhaften) Wissens die erste 16,67Hz -Strecke jene zwischen Murnau und Ammergau. Die erste 15kV-Strecke mit selber Spannungsfrequenz war wohl jene zwischen Dessau und Bitterfeld. Freue mich über anderslautende Quellen.
Dass auch moderne Mehrstromzüge (es betrifft ja nicht nur die Lokomotiven) einfach mal so von einem Netz ins andere durchbrettern könnten, ist mir technisch unvorstellbar und wurde von Georg Lechner auch schon geklärt. Dass dabei die Nationengrenze etwas übertrieben zelebriert wird, den Eindruck kann man aber schon bekommen.
Übrigens, nur weil die ÖBB solche Züge für den Zweck einsetzt, kann man noch nicht darauf schließen, dass die in Italien derzeit erfolgreichen Züge (Italo und Frecce di qualsiasi colore) ähnlich fit für die Grenzüberwindung wären.

So., 24.11.2019 - 11:49 Permalink
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Hartmuth Staffler Mo., 25.11.2019 - 22:53

Antwort auf von Benno Kusstatscher

Die von Josef Riehl geplante Mittenwaldbahn war die erste normalspurige Eisenbahn in Europa, die ausschließlich für Elektrobetrieb geplant und gebaut wurde. Umrüstungen in kleinerem Umfang hat es auch früher schon gegeben, wobei mit verschiedenen Systemen geprobt wurde. Der Erfolg der Mittenwald-Bahn hat dazu geführt, dass sich Österreich, Deutschland und die Schweiz vertraglich auf das 15kV/16²/³ Hz-System geeinigt haben.

Mo., 25.11.2019 - 22:53 Permalink
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Christoph Moar Mi., 27.11.2019 - 08:20

Antwort auf von Manfred Klotz

Ich denke auch nicht, dass hier Nationengrenzen zelebriert werden. Es handelt sich um viele kleine Reibungen in technischen und administrativen Prozessen, um die sich bisher halt keiner übergreifend - und im Sinne einer schlanken und effizienten Bahnfahrt von Verona bis München - schert.

Ein Beispiel? Nach jahrelangen Verhandlungen ist es seit Mitte Juni 2015 in einem Pilotbetrieb (!) gestattet, von München bis Verona ein einheitliches (rot leuchtendes) Zugabschluss-Signal auf Güterzügen zu verwenden (https://www.bbtinfo.eu/verhandlungserfolg-am-brenner-einheitliches-zugs…).

Vorher war es gelebter Bruch, an der Brennergrenze das rot leuchtende Signal durch ein rot blinkendes Doppelsignal auszutauschen (ein 6.4kg schweres Teil das, aus Arbeitsschutzgründen, von zwei statt einem Bahnmitarbeiter ausgetauscht werden musste). Zeiteinsatz locker 15-20min.

Es hat natürlich alles seinen Sinn, Bahninfrastruktur ist kritische Infrastruktur, und wenn die Norm in bestimmten Ländern dummerweise Blinklicht vorsieht, das Rollmaterial von anderen Ländern aber Dauerlicht hat, dann kann nicht einfach ein Bahnmitarbeiter entscheiden, ach, ich lass einfach das andere Licht drauf, wird schon nicht so schlimm sein.

Wie von Benno angesprochen, wäre es an der Zeit, hier wirklich euregional an einen Strang zu ziehen, und solche (und andere) technische (Stromversorgung) und administrative (Fahrpläne, Dienstpläne, Einsatzorte) Inkompatibilitäten aus dem Weg zu räumen.

Mi., 27.11.2019 - 08:20 Permalink
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Benno Kusstatscher Mi., 27.11.2019 - 08:57

Antwort auf von Manfred Klotz

„Psychose“ ? Schmunzel, aber danke für den Weckruf. Im Ernst, jede Minute, die man unnütz an der Grenze herumsitzt, kommt man auf mehr dumme Gedanken. Jedes Mal, wenn es an der Grenze „Endstation“ heißt, wird der Geduldsfaden kürzer, verläuft die Suche nach vernünftigen Erklärungsversuchen tiefer im Sand, wird einem nach Jahren irgendwann bewusst, dass schlicht der Wille fehlt.

Mi., 27.11.2019 - 08:57 Permalink
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Benno Kusstatscher Di., 26.11.2019 - 08:19

Beides war gemeint, wobei Schnellzüge wohl durch den BBT fahren werden, aber die Pustertaler und Wipptaler Strecken ja samt Netzproblematik erhalten werden, es sei denn...

Di., 26.11.2019 - 08:19 Permalink
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Benno Kusstatscher Di., 26.11.2019 - 18:50

Ich danke dem auf Facebook erhaltenen Hinweis und möchte die verkürzt symbolische Darstellung des „Winnebacher Pflichtstops“ technisch richtigstellen, dass AC natürlich bereits heute bis Innichen reicht.

Di., 26.11.2019 - 18:50 Permalink
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Martin Aufderklamm Di., 26.11.2019 - 23:00

Alles sehr interessant, nur bezüglich Bozen ein bisschen kurz gedacht. Es gibt nicht nur den Fv (Fernverkehr), sondern auch den Nahverkehr und zum Glück haben wir durchgebundene Züge zwischen Brenner und Meran bzw. Verona und Bologna. Sonst müsste der Zwischenstopp in Bz eingelegt werden.
Übrigens: die Stopps in Brenner, San Innichen und Tarvisio Boscoverde dienen nicht nur dem Strom, sondern auch dem Personalwechsel (sowohl Lokführer als auch Zugbegleiter).
Weiters, noch viel wichtiger, dienen die Stopps auch um die Züge (vor allem jenes des Fv) in das jeweilige gegenseitige Taktfahrplansystem einzufügen.
Weiters, um Fahrkarten zu splitten und zu stückeln gibts es an vielen Grenzbahnhöfen in Europa Automaten der jeweiligen Bahnbetreiber.
Weiters gibt es auch viele andere technische Möglichkeiten: Strom-Gleisumschaltung je nach Bedarf zb. in Chiasso, fliegender Wechsel bei Fahrt zwischen Kufstein und Kiefersfelden (Spannung dieselbe, aber es wird runter-und raufgefahren), oder 2 mal wenn man Rom fährt (kurz nach Bologna und vor Florenz; von Gleich-auf Wechselstrom und wieder zurück).
Also Möglichkeiten gibt es genug.

Di., 26.11.2019 - 23:00 Permalink