Gesellschaft | Zeitgeschichte

Der Preis der Zivilcourage

Der Universitätsprofessor und Journalist Hans Karl Peterlini hat zum 90. Todestag von Josef Noldin in dessen Heimatgemeinde Salurn dem „Südtiroler Helden“ gedacht.
Noldin, Josef
Foto: noldinhaus.org

Wenn wir es mit Persönlichkeiten wie Josef Noldin zu tun haben, die vor über 100 Jahren lebten, vor 90 Jahren ist er gestorben, ist mehrfache Sorgsamkeit geboten, nämlich einmal, dass wir Menschen, die in einer ganz bestimmten Situation glaubten nicht anders handeln zu können, nicht als Vorbilder strapazieren oder gar missbrauchen, dass wir also aus einem Stoff, in dem Fakten und Deutungen zwangsläufig vermischt sind, nicht Helden kneten, die weder der damaligen Zeit noch unserer Zeit und auch nicht der konkreten Person gerecht werden, der wir heute gedenken.
Und als Kontrastfolie zum Gesagten müssen wir auch sorgsam sein, dass wir nicht ins Gegenteil fallen und der historischen Persönlichkeit das absprechen, was ihr ganz besonderer Beitrag in ihrem Dasein auf dieser unserer Welt war, die einzigartige Leistung, die nicht der Verklärung oder Erhöhung zum Heldentum bedarf, sondern auch in einer besonnenen, abwägenden Betrachtung – wenn ich etwas poetisch werden darf – Licht ins Dunkel unserer Zeit bringt, etwas hinterlässt, was Hoffnung stiftet und in diesem Sinne doch wieder beispielhaft sein kann.

 
Die einzigartige Leistung, die nicht der Verklärung oder Erhöhung zum Heldentum bedarf, sondern auch in einer besonnenen, abwägenden Betrachtung.
Ich denke, ich brauche Josef Noldin hier in Salurn, vor einem kundigen Publikum, nicht in minutiöser Auflistung seiner Lebensdaten vorstellen. Deshalb zunächst nur ein paar Streiflichter, mit denen ich auf das Thema unseres Abends hinleuchten möchte, zum Preis und zum Wert von Zivilcourage. 
Da haben wir zunächst die Eckdaten – geboren 1888, gestorben 1929, das sagt uns zunächst schon, dass es ein kurzes Leben war, 41 Jahre kurz, es hätte, wie für viele seiner Zeitgenossen noch kürzer sein können. Und schon hier stellt, sich die Frage, ob ein so kurzes Leben bereits den Preis für die Zivilcourage darstellt und ob, wenn es denn so wäre, dieser Preis es wert war.
So schnell stehen wir an der Kippe zur Heldenbildung – denn das Sterben für eine Sache, die als Wert angesehen wird, macht ja den Helden aus, der Heldentod. Die Geburt des Helden beginnt mit dem Tod des konkreten echten Menschen, auch am Beispiel von Josef Noldin noch am offenen Grab und von da an durch Geschichtsschreibung und Mythenbildung gleichermaßen geisternd.
So geschah es mit Angela Nikoletti, die ebenfalls hier im Unterland Repressalien der faschistischen Behörden erfahren musste und früh, noch früher, noch tragischer verstarb, hatte sie ihre vielen Hoffnungen, ihre vielen Träume, die sie dem Tagebuch anvertraut, gar nicht verwirklichen können. Noldin konnte, bevor er in den zermürbenden Kampf mit der faschistischen Staatsmacht geriet, studieren, beruflichen Erfolg erleben, heiraten, mit seiner Frau Kindern das Leben schenken, Angela Nikoletti starb, bevor sie so richtig ins Leben kam – war es das wert? In beiden Fällen wissen wir aus seriösen historischen Forschungen, dass die direkte Kausalität zwischen Repression und frühem Tod nicht haltbar ist, dass beide an Erkrankungen gestorben sind, die sich nicht einfach auf staatliche Gewalt zurückführen lassen, zumindest nicht in direkter und exklusiver Kausalität, da teilweise unerforschte, teilweise bekannte Ursachen gegeben waren; letzte Sicherheit lässt sich, zu komplex ist das Zusammenwirken so vieler Faktoren, die eine Erkrankung herbeiführen, zu wenig präzise die Diagnostik zur damaligen Zeit.
Sicher ist, dass der Faschismus die Menschen, die sich in Südtirol um den Erhalt ihrer Sprache und Kultur einsetzten, wohl drangsalierte und schikanierte, vorübergehend auch inhaftierte, psychisch unter Druck setzte, aber nicht deren Tötung, auch nicht deren längere Einkerkerung anstrebte: unschädlich machen schon, aber nicht ums Leben bringen. Da traf es andere vom Faschismus verfolgte Gruppen härter, und viel härter hätte es die Südtiroler getroffen, wenn sie nicht eine deutsche Minderheit in Italien, sondern eine andere Minderheit in Nazi-Deutschland gewesen wären. Wenn Noldin gegen den Nationalsozialismus so aufgetreten wäre, wie er es gegenüber dem Faschismus tat, hätte seine Geschichte noch früher, noch tragischer geendet. Das NS-Regime machte mit politischen Gegnern kurzen Prozess.
 
 
Damit verweise ich auf eine weitere Sorgsamkeit im Umgang mit historischen Deutungen: Worauf berufen sich die Ehrbezeugungen denn eigentlich, wie werden menschliche Taten gemessen, auf dass sie des Erinnerns und womöglich des Verehrens, der Helden- oder Heiligsprechung für würdig befunden werden?
Bei Noldin ist es – zunächst – sehr einfach: Er ist für die deutsche Sache gestorben, das grassiert so durch Gedenkreden, Zeitungsartikel, Märtyrerliteratur. Aber was wäre, wenn er etwa für eine gerechte italienische Sache denselben Mut, dieselbe Hingabe, dieselbe Schonungslosigkeit gegen sich selbst gezeigt hätte? Für die Festschrift zur Würdigung von Hans Heiss habe ich den Versuch gemacht, mehrere Dissidenten aus unserer – im weiteren Sinn – Tiroler Geschichte in Beziehung zu setzen, nicht um ihre Schicksale zu vergleichen, sondern um den Blick zu öffnen für unterschiedliche Motive und Folgen von politischem Widerstand und auch deren Wahrnehmung je nach dem Standpunkt, von dem aus geurteilt wird. Da war zum Beispiel Cesare Battisti, der in etwa zur selben Zeit lebte, ebenso wie Noldin ein Kind der Donaumonarchie war, an unterschiedlichen Orten studierte und politisch wirkte, als Welschtiroler Abgeordneter und Intellektueller mehr Autonomierechte für das Trentino forderte, die lange verwehrt blieben, zwar nicht die Sprache, die in der Donaumonarchie sehr frei geregelt war, wohl aber andere Rechte, wie sie etwa Südtirol von Italien gefordert und bekommen hat. Diese Rechte wurde von der Monarchie zu spät, erst im Vorfeld des 1. Weltkriegs, und dann noch halbherzig gewährt, so dass Battisti die nationale Befreiung des Trentino über dessen Zugehörigkeit zur Donaumonarchie stellte und, nach dem Eintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg, sich zu den italienischen Truppen schlug, 1917 gefangengenommen und im Eilverfahren exekutiert wurde.
Ein sehr kurzer Prozess: Unmittelbar nach Battistis Verhaftung reiste der oberste Henker aus Wien Richtung Trient ab, man wollte verhindern, dass der Kaiser – wie es lange österreichische Praxis war – den Verurteilten womöglich begnadigen würde. Battisti musste zweimal erhängt werden, weil er nach dem ersten Mal noch röchelte, und als er endlich tot war, posierte der Henker für ein Bild neben dem zusammengesackten Körper mit dem herabhängenden Kopf – und grinste: ein Bild, das für Karl Kraus Sinnbild für die Verrohung der Monarchie in ihrer letzten Phase war. 
 
Wie urteilen wir nun über Battisti, der letztlich für das Trentino nur das wollte, was Noldin für Südtirol verlangte – Rechte, Handlungsspielräume, Gerechtigkeit. Verräter oder Held?
Unter Österreich war es, was ungern erinnert wird, gerade hier in diesem Gebiet an der Salurner Klause, zu Bekämpfungen und Schließungen italienischer Schulinitiativen, Vereine, Kindergärten gekommen, weil Deutschtum und Italianità, die in Tirol über Jahrhunderte problemlos koexistierten, ja in fließenden und friedlichen Wechseln ineinander übergingen, sich nun plötzlich feindselig gegenüberstanden. Was der Faschismus Südtirol antun wird, die Bekämpfung und schließlich Verbietung des Deutschunterrichts, hat seine Matrix schon vorher in einem auch deutschen Nationalismus, der das Italienische nicht aufkommen und möglichst zurückdrängen wollte. Wie urteilen wir nun über Battisti, der letztlich für das Trentino nur das wollte, was Noldin für Südtirol verlangte – Rechte, Handlungsspielräume, Gerechtigkeit. Verräter oder Held?
Wie der zum Nationalismus gesteigerte nationale Gedanke ab der Mitte des 19. Jahrhunderts sich in die Tiroler Koexistenz unterschiedlicher Sprachgruppen mischt, zeigt sich an der Familiegeschichte von Noldin selbst.
Der Urgroßvater von Josef Noldin hieß Giuseppe Noldini und war aus dem italienischen Teil Tirols, dem Nonsberg, praktisch nur über die Sprachgrenze gezogen, die eben nicht so klar verlief und, um 1800, nicht als Trennlinie empfunden wurde. 1809 rückten auch die Welschtiroler Schützen gemeinsam in den Kampf ein, deutsche und welsche gemeinsam gegen Bayern und Sachsen, weil die Trennlinie nicht national, ethnisch oder sprachlich war, sondern dynastisch bestimmt.
Erst die liberalnationalen Bewegungen werden mit ihrer Infragestellung der dynastischen Ordnung die nationale Grenzziehung im Denken verankern, nämlich ob man zu den Deutschen oder den Welschen gehört. Aber bis es soweit kam, war die sprachliche Zuordnung eher eine Frage der Opportunität, der Lebenswege, der Begegnungen. Urgroßvater Noldini heiratete eine Deutschtirolerin, nichtsdestotrotz taufte er seinen Sohn Luigi, der dann aber wohl nicht zufällig ab 1840 – als Trennlinie Tirol langsam sprachlich-ethnisch zu teilen begann – seinen Vor- und Nachnamen eindeutschte und fortan mit Alois Noldin unterschrieb. 
 
 
Genau ab dieser Zeit wird die Frage immer wichtiger, auf welcher Seite man steht, bis diese Trennlinie zwischen Welsch- und Deutschtirol noch vor 1915 zur Feindeslinie wird. Noldins Vater hieß bereits Carl, aber mit „C“ und nicht mit „K“, ein Hinweis auf einen trotz allem noch unbeschwerten Umgang mit der sprachlichen Zugehörigkeit. Seinen Sohn Josef schickte Carl Noldin bewusst auf die Gymnasien in Trient, Feldkirch, Rovereto und Bozen, das Studium der Rechtswissenschaften absolvierte dieser in Innsbruck, zum Militärdienst rückte er bei den Kaiserjägern ein, sein erstes Anwaltspraktikum führte ihn nach Mezzolombardo.
Schon früh zeigt sich eine idealistische, soziale Haltung beim jungen Josef, die sich – in anderen Zeiten – auch ganz anders entfalten hätte können. Die Noldins waren sehr geschickte Wirtschaftler, vermehrten über Generationen ihren Besitz, er dagegen arbeitet als Anwalt für Habenichts auch unentgeltlich. Als er, zwar ausgemergelt aber anders als einer seiner Brüder lebend vom Krieg zurückkommt, hatten sich die Koordinaten verschoben, Südtirol war nun Teil Italiens.
Und spätestens dies kanalisiert seinen Idealismus in den Volkstumskampf, als Anforderung seiner Zeit, in der er lebt, in diesem Kampf kann sich sein Idealismus ausdrücken. Welchen Bedingungen wir im Leben ausgesetzt sind, welche Widerfahrnisse, widrigen Umstände uns begegnen, welche Anrufungen uns aus unserer Zeit Zivilcourage abverlangen, können wir nicht selbst entscheiden, sie sind die Gegebenheiten, die unser Handeln einbahnen und auch idealistische Haltungen in Beschlag nehmen. Wiewir darauf antworten, wiewir uns darauf einlassen, ist dann – immer auch in Begrenzungen – die Zutat, die ganz persönliche Gabe der oder des einzelnen.
Für Noldin war es diese Anrufung: Kampf für das Deutschtum im Unterland. Beim Unterlandler Volkstag in Neumarkt (gerichtet gegen die Abtrenung des Unterlandes vom Wahlbezirk Bozen und den Anschluss an den Bezirk Cavalese) verlas er die Resolution der im Deutschen Verband zusammengerückten Parteien. „Das Land nordwärts von Salurn ist deutsches Land, und wir sind der Abkunft und Gesinnung nach Tiroler.“ 
Das Besondere an ihm ist, dass er offen auftrat, sich nicht versteckte
Noch standen die faschistischen Assimilierungsmaßnahmen erst bevor, aber schon im Schuljahr 1922/23 wurde in den mehrsprachigen Gemeinden – insofern war es eben nicht nurdeutsches Land – vor allem des Unterlandes die deutsche Unterrichtsprache durch die italienische Sprache ersetzt. Zusammen mit dem Traminer Lehrer Rudolf Riedl wurde Noldin im Unterland zum exponiertesten Exponenten des (gewaltlosen) Kampfes um die deutsche Schule durch den Aufbau des Geheimunterrichts.
Das Besondere am Einsatz von Josef Noldin ist, dass er offen auftrat, sich nicht versteckte. Gegen Übergriffe der Behörden ging er als Anwalt vor, ließ sich von Drohungen nicht einschüchtern.
Ein erstes Mal wurde er wegen Amtsehrenbeleidigung zu fünf Tagen Haft verurteilt, begründet wurde das Urteil damit, dass er „eine antiitalienische und antifaschistische Agitation im ganzen Unterland betreibe und die Absichten der Regierung und deren Vertreter ständig durchkreuze“.Eine Handhabe gegen Noldin bot schließlich das 1926 erlassene Sondergesetz zur Verfolgung und Bestrafung unliebsamer Personen, das zuerst Verwarnung, dann Polizeiaufsicht, schließlich Verbannung vorsah; schon im Jänner 1927 wurden Noldin und Riedl verhaftet und konfiniert, Noldin auf Lipari, Riedl auf Pantelleria
 
 
In dieser Konfinierung, in der darauffolgenden und nur trügerisch glücklichen Heimkehr, im frühen Tod, in der Mythenbildung findet sich Noldins Geschichte mit der Geschichte eines anderen Dissidenten der k.u.k. Monarchie. Ich spreche vom tschechischen Dissidenten Karel Havlíček Borovský, der 1851-1854 in Brixen interniert war, dorthin verbannt von der österreichischen politischen Judikatur, der dieser Journalist, Schriftsteller und Politiker in Prag zu lästig und gefährlich geworden war. Auch Havlíček trotzte Verfolgungen, Nachstellungen mit ungebrochenem Mut, scheute das offene Wort  trotz Anzeigen und Strafen nicht, ging gewaltfrei vor, setzte Status und Kapital für seine Ideen ein, er forderte damit ein absolutistisches, den Menschen kontrollierendes und bevormundendes System heraus, wurde wider jedes Recht aus diesem Kampf herausgerissen und verbannt; eine Gemeinsamkeit liegt auch darin, dass er in einem System, das sprachlich-kulturell unter fremder Dominanz stand, für die Emanzipation seiner nationalen Gruppe kämpfte; das Nationale war in diesem Sinne auch Ausdruck einer Befreiungsidee. Das ist die Tücke am Nationalismus, dass er jene Gruppen, die er national unterdrückt, damit selbst in nationale und teilweise leider auch nationalistische Haltungen treibt.
Was Noldin und Havlíček zusätzlich verbindet – und für die Frage der Mythenbildung bedeutend ist – ist die Erfahrung des Exils, für beide traumatisch, nicht wegen der Leiden, die ihnen dort aufgebürdet worden wären, auch nicht wegen der unerträglichen Dauer. Noldins Konfinierung wird von fünf Jahren auf zwei verkürzt, obwohl er ein Gnadengesuch ablehnt, das ihn vermutlich noch glimpflicher davonkommen hätte lassen. Zu Weihnachten 1928 darf er heim, seine Frau Melanie hatte ihn mit dem ältesten Sohn schon zu Weihnachten im Jahr davor besuchen dürfen und bleibt eine Weile dort; neun Monate später, im September 1929, kommt in Salurn in Abwesenheit des Vaters sein dritter Sohn Werner, das vierte Kind des Paares nach Karl, Heinrich, Waltraud (der späteren Ehefrau von Alfons Benedikter und Mutter der Südtiroler Nachkommen Rudi, Heinz, Thomas, Susanne, Eva und Armin) und Werner; in Österreich und Deutschland setzte sich die Noldin-Linie mit Werners Tochter Judith und Karls Kindern Rainer und Barbara fort.
Auf Fotos aus der Zeit auf Lipari sieht man Frau und Sohn auf einer Terrasse mit Blick aufs Meer,die Wintersonne genießend, Bilder zeigen Josef Noldin auf der Terrasse in legerer Haltung, mit Pfeife oder einer dicken Virginia im Mund. Er gibt Deutschstunden für interessierte „confinati“, hat viel Zeit, Muse, diskutiert vor allem mit einem verbannten Freimaurer und einem oppositionellen Parlamentarier, beklagt sich über die fehlende Qualität aller Weine, die er verkostet. Als er die Nachricht erfährt, dass er binnen weniger Tage die Fähre Richtung Heimat besteigen darf, ist er zunächst beinahe benommen, dann freut er sich auf die „deutsche Weihnacht“; „ganz nass von unzähligen Küssen“ steigt er aufs Schiff, heimwärts, wo ihn die Buben „mit Indianergeheul“ empfangen. 
 
 
Es ist ein kurzes Glück, Noldin – schon auf Lipari erkrankt – erholte sich nicht mehr, litt an Brechreiz, Übelkeit und Müdigkeit. Arbeit war ihm nicht nur gesundheitlich erschwert, sondern behördlich verboten, da ihm die Anwaltslizenz entzogen worden war, 1929 stellten die Ärzte eine chronische Verdickung und Verhärtung der Bauchspeicheldrüse sowie eine Gallenblasenentzündung fest, eine erste Operation brachte keine Besserung, eine zweite Operation im Grieser Hof förderte ein Sarkom zutage. Aber es war zu spät, am 15. Dezember 1929, genau ein Jahr nach seiner Entlassung aus Lipari, verstarb Josef Noldin im Grieser Hof in Bozen, 41-jährig.
Die Nachricht seines Todes wurde – wie übrigens auch bei Havlicek – von der Zensur stark eingeschränkt, dies konnte aber einen langen Trauerzug nicht verhindern. Krankheit und früher Tod gingen ein in die Erzählung seines Leidensweges ein, wurden bis in die Gegenwart – als „Todeskeim“, als „Mord“– zu Begründungen eines Martyriums.
Mit zurückhaltender Sorgsamkeit lässt sich überlegen, was das Schmerzhafte an einem Exil sein kann, das Privilegien gewährt und ein letztlich schönes Leben bietet, wenn wir an Dissidenten denken, die – etwa in Südafrika, etwa in Südamerika – Jahrzehnte in Gefängnissen Gewalt und Entmenschlichung erfahren haben, oder wenn wir an Guantanamo denken, oder im Falle Noldins auf die viel härtere Belastung von Körper und Psyche durch den Einsatz im Weltkrieg. 
Im Exil schmeckt die Freiheit schal, der Wein schlecht, das Leben fühlt sich gestorben an, lange bevor es zu Ende geht.
Auch Havlíček lebte in Brixen – er logierte im Elephanten, dann in einem niedlichen Häuschen – wie im Luxus, mit Muse und Zeit für Gedichte und Spottverse, Er schleppte offenbar eine verdeckte Krankheit fort und starb bald nach der Heimkehr. Heißt es bei Noldin, dass er dem schwülen Klima auf Lipari zum Opfer fiel, wurde über Havlíček gemutmaßt, er sei gestorben, „weil das rauhe Brixner Klima die Wurzel seiner Gesundheit verbrannt hatte und die frostige Luft seine Lungen zerriss“. Wenn, dann geht es um eine tiefere Ebene, die nicht monokausal ausgelegt und für Heldentod-Mythen missbraucht werden darf, nämlich dass das Exil die Menschen von ihren Wirkungsmöglichkeiten abtrennt, die für sie im Lebenszentrum standen, ihrem Leben überhaupt erst Sinn gaben.
Noldin und Havlíček konnten an den Stätten ihrer Verbannung einigermaßen gut leben, Havlíček sehnte sich, als er in Prag war, sogar nach Brixen zurück, aber im Exil schmeckt die Freiheit schal, der Wein schlecht, das Leben fühlt sich gestorben an, lange bevor es zu Ende geht. Hier sehen wir auch den hohen Preis der Zivilcourage, wenn sie auf ein einziges Lebensthema immer enger fokussiert wird, lässt sie neben diesem einen Thema keine Freude, keine Familie, kein Leben mehr zu. Auch das leider sehen wir oft an diesen Heldengeschichten, das alles, aber auch alles für eine Idee geopfert wird; wenn dann die Möglichkeiten, für diese Idee etwas zu tun, durch die Konfinierung nicht mehr gegeben sind, ist gar nichts mehr da, was Freude machen könnte; Noldin schreibt in sein Tagebuch, dass ihn nicht einmal die Nachricht von der vorzeitigen Heimkehr freuen konnte, wohl wissend, dass er den früheren Handlungsspielraum nicht mehr haben würde.

 
 

 

Ist es dies Wert, in dieser Radikalität, in dieser Schonungslosigkeit gegen die eigenen Lieben und gegen sich selbst? Hier finden wir keine einfachen und schon gar keine allgemeingültigen Antworten, wir müssen uns diese Fragen immer neu stellen. Wenn wir uns die expliziten politischen Ziele anschauen, das Deutschtum für Noldin, die tschechischen Emanzipation für Havlíček, die Befreiung des Trentino für Battisti, dann scheint die Geschichte oft ein grausames Spiel zu treiben, als hätte es – im Rückblick – nur der Geduld bedurft, um das zu erreichen, für das sie sich aufrieben, oder wenn wir daran denken, wie viel Leid Tirol durch die Kämpfe von 1809 auf sich geladen hat für etwas, was zwar vorübergehenden Schlachtenjubel eintrug, dann bitter und blutig scheiterte in der letzten Bergisel-Schlacht – und dann nach grad ein paar Jahren wie von alleine kam, als Napoleon endgültig besiegt war. 
Als es Ketzerei war zu behaupten, dass sich die Erde um die Sonne dreht und nicht umgekehrt, landeten viele auf dem Scheiterhaufen, Galileo Galilei entzog sich – verdichtet von Bert Brecht in seinem vieldeutigen Drama – dem Heldentum und schwor seinen wissenschaftlichen Erkenntnissen ab, wissend, dass sie sich doch dreht, auch wenn er nicht sein Leben dafür opfert, eppur si muove. 
Der Wert der Zivilcourage liegt vielleicht im Tätigwerden selbst für jene Anliegen, die uns unsere Zeit abverlangt, der Glaube an etwas, der Einsatz für etwas, was wichtig ist. Der Preis ist abzuwägen: ist es zulässig, dass sich Menschen für eine Idee allein aufreiben, sich selbst wenn nicht um ihr Leben, dann um ihr Lebensglück bringen, ihre Familie und Angehörigen oder – im Falle Hofers, im Falle Battistis durch die Entscheidung für den Krieg – auch Anhänger ins Unglück stürzen? Wie sind Wert und Preis abzuwägen? Haben wir, tätig für unsere Überzeugungen und für das Recht eintretend, ein Recht und eine Pflicht auch, uns selbst zu schützen? Ich vertraue dies unserer Diskussion an.

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Michael Bockhorni Sa., 28.12.2019 - 15:01

sehr interessant und informativ, wenn auch etwas zu lang (für salto). Auch ein Beispiel für aktuelle Zivilcourage Noldin, Battisti, Havlícek und Hofer zu vergleichen. "Konfinierung" ist allerdings heutzutage im Deutschen nicht gebräuchlich, "Internierung" bzw. "Verbannung" (wie etwas weiter im Text gebraucht) ist verständlicher.

Sa., 28.12.2019 - 15:01 Permalink