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Brexit is happening, und nun?

Morgen findet die Leidensgeschichte Brexit ein Ende, vorerst. Das EU-Parlament stimmte dem Austrittsabkommen zu. Was die Beteiligten sagen und wie es jetzt weitergeht.
Brexit
Foto: Pixabay

Am heutigen Tag vor 48 Jahren erschießen britische Elitesoldaten 13 Demonstranten im nordirischen Derry. Unter dem Namen "Bloody Sunday" sollte der Tag als einer der unrühmlichsten in die jüngste Geschichte des Vereinigten Königreichs eingehen. Morgen um Mitternacht tritt Großbritannien offiziell aus der Europäischen Union aus, vermeintlich vergessene Gräben drohen damit wieder aufzubrechen. Wie die zukünftigen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Union und Königreich konkret aussehen werden, muss noch verhandelt werden.

Gestern hatte das europäische Parlament den letzten Akt des - in den letzten Jahren vorherrschenden - Politthemas Brexit beendet. Mit der finalen Billigung des Austrittsabkommen von Seiten der Abgeordneten, ist der Abschied Großbritanniens aus der Europäischen Union und der europäischen Atomgemeinschaft endgültig beschlossen. Eine klare Mehrheit von 621 der derzeit noch 751 Stimmberechtigten Parlamentarier stimmte für das Abkommen. Lediglich die formale Zustimmung der Regierungschefs in Form einer qualifizierten Mehrheit ist noch ausständig und wird heute erwartet.

 

Der ausverhandelte Vertrag sieht zunächst eine Übergangsperiode bis Ende des Jahres vor, in der es weder für die Länder noch die Bürger selbst zu drastischen Änderungen kommt. Alle wesentlichen Bestimmungen werden auch weiterhin volle Geltung haben. Reisen in das Königreich sind für EU-Bürger auch weiterhin ohne Visum möglich; Großbritanniens Zugang zum EU-Binnenmarkt bleibt aufrecht, genauso wie alle bisherigen Freiheiten des Geld- und Dienstleistungsverkehrs. 

Während der elfmonatigen Übergangszeit stehen dann wohl zähe Verhandlungen für die Zeit danach an, insbesondere was die künftigen Handelsbeziehungen anbelangt. Doch Großbritannien hat es eilig, lehnt eine mögliche Verlängerung der Übergangsfrist derzeit kategorisch ab. Diese könne einmal um ein bis zwei Jahre verlängert werden, aber die Entscheidung darüber muss vom Gemeinsamen Ausschuss der EU und des Vereinigten Königreichs vor dem 1. Juli getroffen werden.

Der für den Brexit zuständige EU-Chefverhandler Michel Barnier und der irische Premier Leo Varadkar wollten Großbritannien vor dem Start der Verhandlungen zu verstehen geben, dass diese durchaus herausfordernd werden würden. Varadkar vergleicht es mit einem Fußballspiel: „Die Europäische Union ist eine Union aus 27 Staaten, Großbritannien nur ein Land. Und wir haben eine Bevölkerung und einen Markt von 450 Millionen Menschen, Großbritannien hat rund 60 Millionen. Wenn das zwei Mannschaften wären, die gegeneinander Fußball spielen würden, wer hätte dann wohl das bessere Team?" 

Was hat Souveränität heute für einen Wert, in einer Welt, die völlig von Machtzentren wie China oder den USA dominiert wird? Europäische Länder haben ihre Souveränität schon vor langer Zeit eingebüßt. Europa ist nur ein Mittel, Souveränität zu behalten. Guy Verhofstadt 

In den Reden vor der Abstimmung in Brüssel, machte sich eine versöhnliche, fast nostalgische Stimmung breit, zumindest in den Reihen pro-europäischer Anwesender. Den Anfang machte der liberale Belgier Guy Verhofstadt, der seine britischen Kollegen nach eigenen Aussagen vermissen wird. Die Abstimmung sei ja keineswegs für oder wider Austritt, ansonsten hätte er ohne zu zögern mit Nein gestimmt. Für ihn habe der Brexit schon seit langer Zeit begonnen, nämlich an dem Tag, an dem man sich entschieden hatte, Großbritannien Ausnahmen und „Opt-Outs“ zu gewähren. Er sei aber ein Anlass, die Union zu reformieren und, so die Hoffnung Verhofstadts, Großbritannien eines Tages wieder in de EU begrüßen zu können. 

 

Die Neo-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen betont in ihrer Rede die Wichtigkeit einer zukünftigen Partnerschaft, auch in Anbetracht herannahender globaler Herausforderungen, nicht zuletzt dem Klimawandel. Von der Leyen meinte, dass seitens der Kommission ein Freihandelsabkommen ohne Zölle in Betracht gezogen werde, allerdings unter der Bedingung gleicher Wettbewerbsbedingungen für europäische und britische Unternehmen. Nichtsdestoweniger zeigte sich die Kommissionschefin aber friedliebend: „Wir werden unsere Freundschaft weiterhin aufrechterhalten und ihr könnt weiterhin auf uns zählen, genauso wie wir wissen, auf euch zählen zu können.“

Indessen sorgte aber einer der schärfsten EU-Gegner und Frontkämpfer der Brexit-Bewegung für gegenteilige Gefühle. Nigel Farages Worte bei seinem letzten Auftritt als Abgeordneter einer Institution, die er jahrelang zu bekämpfen versuchte, widersprachen dem zuvor Verdeutlichten zutiefst. Eine Chancengleichheit im Hinblick auf den Handel werde es keine geben, genauso wenig habe man vor, wiederzukommen: „Der 31. Januar 2020, 23 Uhr Londoner Zeit, markiert einen Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt. Einmal fortgegangen, kommen wir nie wieder zurück. Wir werden gehen und fort sein.“ 

We love Europe, we just hate the European Union. Nigel Farage

Weit weniger polemisch aber umso nüchterner verlautete Manfred Weber von der EVP: „Das Vereinigte Königreich wird ein Drittstaat sein. Die Regeln werden sich ändern. Wir werden nicht zulassen, dass die EU unter Druck gerät und ihr ein rasches Abkommen aufgezwungen wird.“ Um weitere Brexit-Debatten in Zukunft zu vermeiden, brauche es „eine handlungsfähige EU mit positiven Beiträgen zum tagtäglichen Leben der Bürger“.  Dass die EU viel Gutes für das scheidende Mitglied brachte, verdeutlichte Weber am Beispiel Nordirlands, das durch die Mitgliedschaft wesentlich gestärkt wurde.  

Eben auch lange der Knackpunkt früherer und auch jüngerer Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien war die Nordirland-Frage. Die Regierungen in London lehnten eine Trennung der Exklave vom restlichen Staatsgebiet durch Zollschranken lange ab. Premierminister Boris Johnson stimmte schlussendlich einer Lösung zu, die Warenkontrollen zwischen Nordirland und dem Rest Großbritanniens vorsieht.

 

Eine Grenzziehung auf irischem Festland wollte die EU mit allen Mitteln verhindern, zu groß sei das Risiko eines neuerlichen Entfachens des mit dem Karfreitagsabkommen 1998 eigentlich ad acta gelegten Konfliktes. Wie der Historiker und Irland-Experte Dieter Reinisch allerdings meint, bringe der Brexit den Konflikt in Nordirland nicht zurück; dieser sei in Wahrheit nie wirklich verschwunden. In Nordirland gebe es nach wie vor Bombenanschläge. Mit dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union drohe sich die Lage jedoch zuzuspitzen. Stimmen einer Wiedervereinigung mit der Republik Irland werden lauter.  

We will always love you and we will never be far.  Ursula von der Leyen

Unabhängigkeitswünsche hegt indes auch die Scottish National Party vermehrt wieder. Nach dem, eigentlich bereits richtungsweisenden Referendum 2014, im Zuge dessen sich die Mehrheit der Schotten für die Einheit unter der Flagge des Union Jack aussprachen, pocht die schottische Premierministerin Nicola Sturgeon auf die Durchführung einer zweiten Volksabstimmung.  Bestärkt wurde sie durch die Erfolge bei der letzten Wahl zum britischen Unterhaus. Großbritannien steht also vor einer ungewissen Zeit innenpolitischer Prekarität, auch wenn sich die konservative Regierung auf eine beruhigende Mehrheit im Parlament stützen kann.

Für die EU bedeutet der Brexit den Verlust einer wichtigen Wirtschaftsmacht, mit London als finanziellem und kosmopolitischen Zentrum, und eines nicht zu unterschätzenden Einflussfaktors im Hinblick auf geopolitische Angelegenheiten. Im Europäischen Parlament werden mit dem Austritt konkret 73 Sitze vakant. Ein Teil davon, nämlich 27 werden auf 14 Mitgliedsstaaten aufgeteilt. Der Rest wird für mögliche Erweiterungen unbesetzt bleiben. 

 

„Es stimmt mich sehr traurig, dass es so weit gekommen ist [...]. Fünfzig Jahre Integration wird man nicht so leicht entflechten können. Wir alle werden hart arbeiten müssen, um eine neue Beziehung aufzubauen, wobei die Interessen und der Schutz der Bürgerrechte immer im Mittelpunkt stehen werden“, versichert David Sassoli, Präsident des Europäischen Parlaments. „Es wird nicht einfach sein und es wird schwierige Situationen geben, die unsere künftigen Beziehungen auf die Probe stellen werden […]. Ich bin jedoch sicher, dass wir in der Lage sein werden, alle Differenzen zu überwinden und immer einen gemeinsamen Nenner zu finden.“ 

 

 

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gorgias Do., 30.01.2020 - 21:35

Als Befürworter der europäischen Einigung sehe ich die Mitgliedschaft des Vereinigten Königreiches schon länger Zeit mit Skepzis. Die Briten sind historisch die größten Bremsklötze, wenn es darum geht die Union zu vertiefen. Beigetreten sind sie erst als sie gesehen haben, dass sie mit ihrem Gegenentwurf der EFTA, die keine eine politische Einigung anstrebt, sondern lediglich eine Freihandelsinstitution, die Europäische Union nicht aufhalten konnten.
Durch ihre Führungsrolle im Commonwealth of Nations, ihrem ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und der special relation mit den Vereinigten Staaten, hatte man fast das Gefühl dass sie sich weniger als Mitglied der EU sehen, sondern mehr die EU als Anhängsel des United Kindom, dem man Einhalt gebieten muss, damit deren bürokratische und undemokratische Strukturen nicht auf die Insel herüberwuchern, genauso wie Winston Churchill als er von der Gründung der Vereinten Staaten von Europa sprach nicht intendierte, dass sein eigenes Land beitrete, sondern eine Art Patronage übernehmen solle.

Doch ein so großes Land wie das VK, das nie mit dem Gedanken der europäischen Einigung warm wurde und es bald nach dem Beitritt es wieder bereute stellt langfristig eine Belastung dar. Das schlimmste Ergebnis das aus so einem Referendum kommen konnte, wäre ein knappes Ja fürs bleiben. Denn das hätte bedeutet, dass bei einem so gewichtigen Mitglied fast 50% der Bevölkerung
eine antieuropäische Grundhaltung hätten. Die Kommission hatte bei einem Dableiben weitere Sonderregelungen versprochen, was den dahinwursteln der letzen 10 - 15 Jahre entsprochen hätte. Cameron, Johnson und Farange spekulierten alle, dass das Referendum für den Verbleib abstimmen würden. Cameron hoffte die antieuropäischen Kräfte der eigenen Partei Einhalt zu gebieten. Johnson spekulierte sich als Fürsprecher der Euro-Skeptiker zu festigen. Und Farange ist wie ein Prophet, der vom gelobten Land spricht, aber dort nicht ankommen will, damit er nicht damit konfrontiert werden will, wenn dort nicht Milch und Honig fließt. So sah man sowohl Johnson als auch Farange am Tag nach der Wahl wie zwei begossene Pudel drein. Man konnte ihnen ansehen, dass sie damit nicht gerechnet haben und dass sie keinen Plan hatten.
Für die EU war es ein Schock. Und man kann auch sagen ein Heilsamer. Denn man hat sich zu keine falschen Kompromisse verleiten lassen und Einigkeit gezeigt. Rechte die mit ihrer eigenen Variante des Brexit liebäugelten wurden Kleinlaut. Norbert Hofer sprach bei der Wiederholung der Stichwahlen nicht mehr vom Öxit. Das Auseinanderbrechen der EU wird endlich als reale Möglichkeit ernst genommen.

Vieleicht werden sich die Briten besinnen und in 20 - 30 Jahren nochmals der EU beitreten. Diesmal aber in einer, in der die Mitgliedstaaten nicht mehr alles blockieren können, sondern in der das Parlament die Macht hat.

Und hier noch was zur Auflockerung: https://www.youtube.com/watch?v=ZVYqB0uTKlE Am Ende wird es richtig interessant. Noch ein Hinweis: Die Briten waren die größten Befürworter der Osterweiterung.

Do., 30.01.2020 - 21:35 Permalink
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Peter Gasser Fr., 31.01.2020 - 07:33

nein, denn die EU war der letzte Raum, in den die Briten als Heuschrecken einfallen konnten: abgrasen, was geht, und dann wieder gehen... aber diesmal: wohin...?
Es ist nichts mehr da auf dieser Erde, in das man nun Einfallen kann -> DAS wird die schreckliche Erkenntnis der neoliberalen Truppe sein.
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(Daher wird man es als Steueroase und Gaunerfluchtort versuchen müssen).
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In Europa hat jeher die Gemeinsamkeit Frieden und Wohlstand geschaffen, die Zersplitterung aber Krieg und Elend.

Fr., 31.01.2020 - 07:33 Permalink
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19 amet Fr., 31.01.2020 - 10:05

Antwort auf von Peter Gasser

So ist es. Jahrhundertelang haben sie ihre Kolonien ausgeraubt, und dabei gut gelebt. Als die Völker sie hinausgeworfen hatten, ist das Land verarmt. Ausser London ist England in einem Zustand wie vor 100 Jahren. Die Industrien in Mittelengland nicht mehr existent, oder in ausländischer Hand. Welche englischen Produkte konsumieren sie täglich ? Ich den Tee, aber der kommt aus Indien. Und sie werden sich wundern.
Wie sagte doch der japanische Premier Abe zur May. "Sie dürfen nicht hoffen dass wir mit ihnen denselben Handelsvertrag abschliessen wie mit der EU. Diese ist ein Markt von 450 Millionen Konsumenten, sie sind dann aber ein kleines Land, das 10% davon einbringt"

Fr., 31.01.2020 - 10:05 Permalink
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Karl Trojer Fr., 31.01.2020 - 16:47

Es gilt , auch innerhalb der weiterbestehenden EU den Neoliberalismus zu überwinden. Solidarität und Gemeinwohl vor Eigennutz muss zur Maxime für alle EU-Staaten werden; dafür bedarf es wohl einer Europäischen Union der zwei Geschwindigkeiten.... und ausreichend "nit lugg lossen"...

Fr., 31.01.2020 - 16:47 Permalink
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Peter Gasser Sa., 01.02.2020 - 16:56

Die EU wird alles unternehmen, damit der Brexit ein *Erfolg* wird: für die EU.
Eozu sonst wählen wir das EU-Parlament, wenn es nicht für uns arbeiten würde.
Ihr Beitrag ist grotesk - die EU auffordern, gegen Ihre eigenen Wähler und für einen „Dritt-Staat“ zu arbeiten...

Sa., 01.02.2020 - 16:56 Permalink