Kultur | der Sinn der Krise

Scheitern, besser scheitern!

In jeder Krise steckt eine Möglichkeit. Dies klingt sinnvoll, ist aber ein Widerspruch. Ob widersprüchlich oder albern: Krisen helfen uns zu leben!
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Zu behaupten, dass eine Krise sinnvoll sei, ist ein Widerspruch. Mancher sagt: Widersprüche sind möglich! Dies ist kein Widerspruch, aber eine Dummheit. Dennoch: Egal ob widersprüchlich oder albern, ohne Krise gibt es keine Entwicklung! Einige Schlaglichter auf die Geschichte der Krisen und auf das, was daraus entstanden ist.

Als das Königreich Juda durch Nebukadnezar II. 587 v. Chr. zerstört wurde, war dies für die Judäer nicht nur eine militärische Niederlage, sondern ein weltanschauliches Desaster. Die Babylonier hatten den König gestürzt und den Tempel in Jerusalem zerstört. Diese beiden Einrichtungen waren zusammen der Garant für die Existenz und das Wohlergehen des Landes – vergleichbar mit dem heutigen Wirtschaftswachstum und Fußball. Alle Gelehrten wurden deportiert und das Land stürzte in eine Krise, die es bisher nicht gekannt hatte. Im babylonischen Exil verfassten die Schriftgelehrten jene Texte, die bis heute als die wichtigsten Schriften des Ersten Testamentes gelten – dazu gehören auch das Buch Genesis und der Exodus. Fern von zu Hause, zutiefst verunsichert und gedemütigt entwerfen die Priester jene Figur, die zum Vater des Glaubens werden sollte: Abraham. Der Mann in der Wüste, ohne Heimat und ohne klares Ziel, ist das Fundament, auf dem der gesamte jüdische Glauben und später das Christentum errichtet wurden. Die spätere Figur Jesu ist die Fortsetzung dieser Theologie der Krise.

Der Eroberungsfeldzug Alexander des' Großen setzte im 4. Jh. v. Chr. der griechischen Polis ein Ende. Die Polis war ein Stadtstaat und bildete den Rahmen für das Zusammenleben im antiken Griechenland. Nur in der Polis gibt es Zivilisation, nur innerhalb der Stadtmauern kann es eine Ordnung geben, die dem Menschen das Leben ermöglicht. So die Meinung der großen zeitgenössischen Philosophen, Aristoteles und Platon. Nach Etablierung des hellenistischen Großreiches durch Alexander verlor der Mensch der Polis nicht nur seinen politischen, sondern auch seinen moralischen Bezugspunkt. Was ist nun gut, was ist nun schlecht? Wer sind meine Mitbürger? Mit solchen und ähnlichen Fragen trugen sich die Menschen, als die stoische Philosophie entstand. Diese Philosophie machte erstmals die Frage nach der Moral zu einer persönlich-individuellen Frage. Der Stoiker versteht die Moral zwar noch in Anlehnung an die geltenden Gesetze, doch ist diese Zustimmung nunmehr rechtfertigungspflichtig.

Unsere heutige demokratische und liberale Gesellschaft ist ebenso aus einer Krise hervorgegangen, genauer, aus einer Katastrophe, die ein Drittel der Bevölkerung Europas hinwegraffte: aus dem 30-jährigen Krieg (1618-1648). Nachdem die Religionskriege zwischen Protestanten und Katholiken auf so verheerende Weise Europa erschütterten, begann man die Verbindung von politischer Macht und Religion in Frage zu stellen. Man stellte institutionelle Macht prinzipiell in Frage. Dies schlug sich auch in den ersten großen politischen Abhandlungen nieder. Von Thomas Hobbes bis zu J. J. Rousseau: Alle beschäftigen sie sich mit der Legitimität von Macht. Seitdem ist Macht grundsätzlich rechtfertigungspflichtig. Doch was für uns heute selbstverständlich ist, bedurfte einer Katastrophe, um politische Realität zu werden.

Zusammen mit den Systemen der Republik, der parlamentarischen Monarchie und später der Demokratie bildete sich allmählich auch ein freier Handelsmarkt. Auch dieser war keine Erfindung des Einzelnen, sondern ging aus zahlreichen Misserfolgen hervor. Die Unbilden des Reisens zu Land und zu Wasser sowie die ungewissen Zahlungsmittel – zumeist Silbermünze –, bewogen die Menschen allmählich dazu, sich abzusichern. Es bildeten sich die ersten Aktiengesellschaften, um Schiffsbruch eines mit Waren befrachteten Schiffes kollektiv zu schultern, Wechselscheine wurden an den großen Märkten Europas ausgegeben, um den problematischen Transport von Münzen zu vermeiden. Kollektiver Zusammenschluss wurde zum Königsweg, um wirtschaftliche Krisen abzufedern. Die große Stärke, ja die Krisenresilienz des Systems des freien Marktes bestand darin, dass sich die Kollektivität nicht über ein gemeinsames Ziel einig sein musste. Es ist mit anderen Worten ein System, das nicht nur unterschiedliche Zielsetzungen seiner Akteure akzeptiert, sondern das auf sich widersprechende Interessen gegründet ist. Das System akzeptiert Widersprüche und ist dynamisch, sodass Erfolge und Misserfolge an der Tagesordnung sind. Alois Schumpeter (gest. 1950), einer der Väter der kapitalistischen Doktrin, behauptete sogar, dass die Krise eine notwendige Begleiterscheinung wirtschaftlichen Fortschrittes ist: Ein Unternehmer stürmt mit prometheischem Optimismus voran und entwickelt ein neues Produkt oder eine optimierte Produktionsmethode. Die Konkurrenten werden ausgestochen und erleiden große Einbußen. È crisi! Wollen sie überleben, so müssen sie sich der novitè angleichen. Diese Angleichung führt wiederum zu einem temporären Gleichgewicht, bis eine neue Idee aufkommt und ein weiterer Unternehmer mit ihr die Flucht nach vorne ergreift. Krise und Innovation gehören notwendigerweise zusammen. Schumpeters „Ökonomie der Krise“ war das destabilisierende Gegenprogramm zum Modell des ökonomischen Gleichgewichtes, wie es von Léon Walras theoretisiert wurde. Die ständige Innovation – eine solche findet selbst dann statt, wenn sie kontraintuitiv erscheint – und der Wachstumszwang sind die Prinzipien unseres wirtschaftlichen Systems, obwohl dies meist hinter vorgehaltener konzediert wird. Schumpeters Theorie über den Kapitalismus kontrastiert auf frappante Weise mit unserem pronouncierten Bedürfnis nach Stabilität und Sicherheit. Egal ob im Baugewerbe, in der Gastronomie, oder in der Kinderbetreuung: in allen Bereichen steigen die Sicherheitsmaßnahmen. Ein ausgefeiltes Risikomanagement unter Einsatz moderner Technik auf der einen Seite, auf der anderen Seite eine Wirtschaft, die keinen Kulminationspunkt kennt und sich ständig destabilisiert und somit sich selbst in die Krise stürzt. Stabilisieren und Destabilisieren, Krise und Sicherheit gehören unzertrennbar zusammen. Dies sollte auch ein Licht auf einige Paradoxien der Corona-Krise werfen. Berkenswerterweise glaubte Schumpeter an einen Sättigungspunkt dieser rastlosen Entwicklung, irgendwann ist Schluss.

Die Krisen, von denen hier die Rede ist, betreffen Einzelne und gehören wesentlich zum System dazu. Gibt es zu viele Krisenherde, müssen neue Regeln, also Gesetze, Förderungen, Absicherungen usw. in das wirtschaftliche System eingeführt werden. Auch besteht die Möglichkeit des „Wegschauens“. Erst zehn Jahre nach der Immobilienblase 2007 begann die deutsche Bundsregierung ernsthaft über die Einführung regulierender Maßnahmen für die Vergabe von Krediten nachzudenken. Systemtheoretisch ist dies gefährlich, da ein flexibles System nicht von den eigenen Möglichkeiten der Selbstjustierung Gebrauch macht, oder wenn überhaupt, dann zu einem verspäteten Zeitpunkt.

Diese Selbstimmunisierung des Systems kann nicht einzig raffgierigen Männern mit Anzug angelastet werden, die an den digitalen Schalthebeln sitzen und Milliarden Euro um die Welt schießen. Zu welchem Zeitpunkt in der Geschichte hat der Mensch allein aus Vernunft und Einsicht einen Schritt nach vorne getan? Selbst die Wissenschaft schreitet einzig durch das eigene Scheitern voran. Karl Popper (gest. 1994), der wohl bedeutendste Wissenschaftstheoretiker des 20. Jahrhunderts, machte den Wissenschaftlern zum Vorwurf, dass sie sich in ihren Theorien nicht exponieren, sondern selbstimmunisieren. Der Preis dafür sei, so Popper, dass wissenschaftliche Theorien nichts Interessantes über die Wirklichkeit aussagen. Nur eine Theorie, die einen hohen Grad unwahrscheinlich, also angreifbar sei und folglich möglicherweise falsch sei, hat einen Erklärungswert. Die Aussage „Entweder es regnet morgen, oder es regnet nicht“ ist sicher wahr, aber ohne Erklärungswert, ja banal. Doch der hochgesinnte Sir Karl Popper hat des Menschen Suche nach der Wahrheit wohl überschätzt. Dies wurde ihm von den Theoretikern der Frankfurter Schule im sogenannten Positivismusstreit auch zum Vorwurf gemacht. Der Mensch suche den ebenen Weg und das eigene Interesse, nicht die Wahrheit und erst recht nicht Fehlerquelle im eigenen System – so der Einwand gegen Popper.

Egal ob durch Ad-hoc-Lösungen nachjustiert oder durch Wegschauen ignoriert, es kann der Zeitpunkt kommen, an dem jeder Lösungsversuch für die Probleme eines Systems umsonst ist. Abriss und Neubau ist angesagt, die Spielregeln müssen neu Verhandelt werden. Es kommt zum sogenannten Paradigmenwechsel. Danach ist die Welt eine andere.

Der Leser sei zur Nachsicht aufgerufen, zumal wenn er an den eigenen biographischen Werdegang denkt. Er frage sich: Sind wir tatsächlich bereit uns zu ändern, wenn wir nicht zuvor gegen eine Wand gekracht sind? Ist es nicht vielmehr das Scheitern unseres persönlichen Lebensentwurfes, das Leiden und die Scham, die damit einhergehen, die uns anspornen einen neuen Weg einzuschlagen? Ich behaupte nicht, dass aus jeder Krise ein Fortschritt folgt, doch behaupte ich, dass ohne zu scheitern kein Schritt nach vorn erfolgt. Zum Glück ist es nicht so schwierig zu scheitern. Wir brauchen nur gleich weiter zu machen wie bisher.

 

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gorgias Do., 12.03.2020 - 22:27

Die Frage die man sich stellen sollte ist, wie man den Wachstumszwang der kapitalistischen Marktwirtschaft überwindet?

Was wir brauchen ist eine systemische Lösung und keine moralischen Apelle. Wir hatten doch genug Kriesen den letzten 20 Jahren.
Die New Economy-Krise im Jahre 2000, die Wirtschaftskrise 2008. Den Einsturz des Immobilienmarktes in den USA. Der Zusammenbruch des Derivatemarktes, die Euro-Krise.
Doch es geht gleich weiter wie bisher.

Wir leben in einem Wirtschaftssystem, das wachsen muss um zu funktionieren. Das kann aber nicht funktionieren und deswegen gibt es eine Krise. Nachdem man die Symptome überwunden hatte geht es gleich weiter ohne strukturelle Änderungen.

John Maynard Keynes sagte voraus, dass wir im Jahre 2030 nur noch 15 Stunden die Woche arbeiten würden. Etwas ist da schief gelaufen. Die gesteigerte Produktion durch technische Weiterentwicklung wurde durch Konsumsteigerung und Wegwerfprodukten kompensiert. So konnten wir eine 40 Stunden-Woche aufrecht erhalten. Was noch dazu gekommen ist, dass dank Haushaltsgeräten und geringere Kinderzahl auch Frauen immer mehr in den Arbeitsmarkt kommen ohne dass Männer dafür weniger einer Erwerbsarbeit nachgehen.

Das heisst es wird in der Gesellschaft pro Kopf noch mehr gearbeitet. Das erinnert mich an die Einführung der Kartoffel in Irland. Da die Kartoffel den vierfachen Ertrag der vorhergehenden Anbaupfanzen hatte, wurden die Parzellen der Pächter geviertelt, um diese wieder auf dem Subsistenzlevel zu halten.

Do., 12.03.2020 - 22:27 Permalink