Chronik | wie lange noch?

“Disziplin von Erwartungen abhängig”

Je länger die Einschränkungen wegen der Corona-Pandemie dauern, desto weniger bereit sind die Menschen, sich daran zu halten. Südtirol hat 74 Tote und 1.292 Infizierte.
Mirco Tonin
Foto: unibz

Nicht nur Virologen beschäftigen sich derzeit mit den geeigneten Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Auch Ökonomen zeigen den politischen Entscheidungsträgern Szenarien auf, welche Folgen verschiedene Strategien mit sich bringen.

Vier italienische Wirtschaftsforscher haben eine Studie veröffentlicht, die aufgezeigt, dass die Einhaltung der von der Regierung auferlegten Ausgangsbeschränkungen in direktem Zusammenhang mit der Wahrnehmung steht, wie lange diese Maßnahmen andauern werden. Je länger die Einschränkungen dauern, desto weniger bereit sind die Menschen, sich daran zu halten.

Einer der vier Verhaltensökonomen, die sich gemeinsam mit Kollegen der Johns Hopkins University, der University of Chicago und der University of Toronto an der Studie beteiligt hat, ist Mirco Tonin von der Freien Universität Bozen. Er sagt: Die Politik soll bei ihrer Entscheidung über die Dauer der Einschränkungen “auch die Erwartungshaltung der Bevölkerung berücksichtigen”.

 

Isolation in Ungewissheit

 

Laut aktuellen Schätzungen sind derzeit weltweit rund zwei Milliarden Menschen rigorosen Isolationsmaßnahmen unterworfen, um die Ansteckung mit dem Coronavirus zu verlangsamen. Wie wirksam diese Restriktionen sind, hängt insbesondere davon ab, wie sehr sich die Bürger daran halten. Faktoren, die das Verhalten der Menschen beeinflussen, sind: das Risikobewusstsein; die Klarheit der Regeln; die Sanktionen bei Verstößen; das Vertrauen in die Behörden; die Bedeutung der wirtschaftlichen und psychologischen Kosten der Isolation; und eben auch die Erwartungen, wie lange das Kontaktverbot dauert.

Für Italien ist das noch nicht klar. Über 10.000 Menschen sind seit Beginn der Coronavirus-Pandemie bereits gestorben. 97.689 sind laut italienischem Zivilschutz infiziert. Doch die Zahl der neuen Infizierten stieg zuletzt langsamer als bisher. Dennoch fasst die Regierung eine Verlängerung der Ausgangssperre ins Auge. “Die Maßnahmen, die am 3. April auslaufen, werden unweigerlich verlängert”, sagt Regionenminister Francesco Boccia. Kolportiert wird eine Verlängerung um weitere zwei Wochen bis zum 18. April.

In Südtirol ist die Zahl der Todesopfer inzwischen auf 74 angestiegen. 1.292 Personen sind positiv auf das Coronavirus getestet worden, 51 Covid-19-Patienten werden auf der Intensivstation betreut. 107 Menschen gelten als geheilt, während die Anzahl der Mitarbeiter des Sanitätsbetriebs, die nachweislich mit dem Virus infiziert sind, auf 139 gestiegen ist.

 

Die Ungewissheit über die Dauer der Einschränkungen wirkt sich negativ auf die Bereitschaft aus, sich an die strengen Vorgaben weiterhin zu halten, wie in der Studie, an der Mirco Tonin mitgewirkt hat, festgestellt wird. Der Professor für Wirtschaftspolitik erklärt: “In einer gemeinsamen Umfrage mit dem Meinungsforschungsinstitut SWG haben wir eine repräsentative Anzahl von Italienern nach ihren Absichten befragt, sich an die Vorgaben zur häusliche Isolation zu halten. Dabei stellten wir drei verschiedenen Szenarien in Aussicht – eine Verlängerung der Maßnahmen um einige Wochen, um einige Monate oder auf unbestimmte Zeit. Die Ergebnisse zeigen, dass die Neigung zur Einhaltung der Regeln von den individuellen Erwartungen an eine mögliche Verlängerung der Einschränkungen abhängt.”

 

Je kürzer, desto disziplinierter

 

Fast alle Befragten erwarten, dass die Einschränkungen über den 3. April hinausgehen werden. Allerdings gibt es unterschiedliche Vorstellungen über die Dauer: Rund 40% erwarten, dass sie um einige Wochen verlängert werden, 20% gehen von einigen Monaten aus und 40% glauben, dass sie auf unbestimmte Zeit fortgeführt werden. Ältere Befragte haben tendenziell die Erwartung, dass die Maßnahmen früher enden.

“Bei einer positiven Überraschung, also einer Verlängerung, die kürzer als erwartet ausfällt, zeigten die Befragten eine größere Bereitschaft zur strengen Selbst-Isolation. Bei einer negativen Überraschung, sprich einer Verlängerung der Kontaktverbote, die über die eigenen Erwartungen hinausgeht, tritt der gegenteilige Effekt ein, und die Neigung, die häusliche Isolation beizubehalten oder noch konsequenter zu betreiben, sinkt”, fasst Tonin zusammen.

 

Wer sich bereits heute an alle Vorgaben der Ausgangsbeschränkungen hält – laut Studie sind das rund 50% der Befragten –, ist eher dazu geneigt, dagegen zu verstoßen, wenn die Einschränkungen noch über die eigenen Erwartungen hinaus verlängert werden. “Das deutet auf drohende Ermüdungserscheinungen hin, also auf die Gefahr, dass nicht unbegrenzt auf die Disziplin der Menschen gesetzt werden kann, die sich derzeit besonders regelkonform verhalten”, so Tonin. Vor dem Hintergrund solcher Daten sollten die Behörden laut dem unibz-Professor im Rahmen der Krisenkommunikation ein besonderes Augenmerk auf die Dauer der Einschränkungen von persönlichen Freiheiten legen. “Es wäre angemessen, dabei auch die Erwartungshaltung der Bevölkerung zu berücksichtigen, denn eine unerwartet lange Verlängerung könnte die Bereitschaft der Menschen zur Einhaltung der Regeln verringern.”

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Peter Gasser Mo., 30.03.2020 - 11:55

“Die Politik soll bei ihrer Entscheidung über die Dauer der Einschränkungen “auch die Erwartungshaltung der Bevölkerung berücksichtigen”.
Ich möchte meine eigene Gesundheit und die meiner Familie nicht an ”die Erwartungshaltung der Bevölkerung” gebunden sehen, sondern an die Vorgaben der Mediziner und Virologen.
Hören wir zudem und besonders auf den Bürgermeister von Vó, also auf Menschen, die genau wissen, wovon sie reden.
Und bedenken wir, dass 50% der Infizierten keinerlei Symptome aufweisen.

Mo., 30.03.2020 - 11:55 Permalink
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Daniel Demichiel Mo., 30.03.2020 - 16:29

Der Mensch ist kein Roboter den man programmieren kann. Folglich muss man das Ergebnis der Studie beachten und in der Planung, Kommunikation berücksichtigen.

Ich kann mir schwer vorstellen, dass sich alle Bürger, Unternehmen, usw. an eine strikte Quarantäne halten werden, wenn es Wochen/Monate so weitergeht, wenn es um deren Existenz/Zukunft geht. Die fragwürdigen/undurchsichtigen Versprechungen der Politik, die Kontrollen der Ordnungskräfte, die Aussagen der Experten werden ignoriert. Aussagen "wir bleiben zu hause", "wir schaffen das" sind hinfällig, wenn Unternehmer 15.000€ pro Tag (Koch Tim Mälzer) an Spesen generieren.

Was soll die Politik tun, wenn 1000 Personen auf die Straße gehen und arbeiten? Soll das Militär einrücken und alle erschießen? Der Staat hat nicht das Geld alle Bürger über Wasser zu halten. Italien hat jetzt schon finanzielle Probleme.

Mo., 30.03.2020 - 16:29 Permalink
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Sepp.Bacher Mo., 30.03.2020 - 16:48

Antwort auf von Daniel Demichiel

Meines Erachtens sollte man die Maßnahmen lockern. Ich stelle mir vor, wenn am Mittwoch Masken verteilt werden, dann soll man schon - ausgerüstet mit dieser - unter Einhaltung von Distanz und Unterlassung von direktem Kontakt wieder frei zirkulieren dürfen! Alle nutzen diese Möglichkeit eh nicht, weil sie zu sehr Angst haben!

Mo., 30.03.2020 - 16:48 Permalink
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Erwin Demichiel Mo., 30.03.2020 - 16:54

Ein Lichtblick war heute das RA-Interview mit der Gemeindereferentin von Tscherms, Christa Ladurner.
http://www.raibz.rai.it/de/index.php?media=Pra1585570500&fbclid=IwAR0AE…

Hier zeigt sich, dass auf Gemeindeebene eine andere Art der Kommunikation mit den Bürgern und dadurch eine andere Art des Umgangs mit den staatlich verordneten Restriktionen möglich sind. Wenn man vom Staat, so wie er heute konstituiert ist, nichts anderes als ein undifferenziertes Zähnefletschen erwarten kann, dann können wir uns besinnen auf jene Ebene, die uns am nächsten steht, eben unsere Gemeinden. Je kleiner eine Gemeinde, desto fruchtbarer kann ein solcher Versuch sein. Er kann auch über Corona hinaus das Wachsen eines Selbstverständnisses dessen bedeutet, was es heißt mündige Bürgerin und Bürger zu sein. Wir werden den wirtschaftlichen und sozialen Wiederaufbau und Neubau auf Gemeinde- und Regionalebene gründen müssen.

Mo., 30.03.2020 - 16:54 Permalink