Gesellschaft | Corona-Exit: wohin?

Welche Krise? Welche Normalität?

Wir sind in Krise, wir wollen wieder Normalität. Dabei dürfen wir die Natur dieser Krise nicht vergessen. Und die der Normalität, die uns jetzt so fehlt...
Hinweis: Dieser Artikel ist ein Beitrag der Community und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.

Wo Leute sich über die gegenwärtige Lage austauschen, geht es meist um zwei Dinge: Welche sog. Exit-Strategie (aus dem virusbedingten Stillstand) am besten ist und dass die Notmaßnahmen der meisten europäischen Regierungen, sehr vieler Staaten weltweit, die bürgerlichen Freiheiten unverhältnismäßig einschränken. Die Krise wurde dabei zuerst als sanitäre Krise wahrgenommen, jetzt beginnt man, vor allem die ökonomischen Folgen in den Mittelpunkt zu stellen. Dazu zuerst zwei Anmerkungen:

1. Die Coronakrise ist eine Krise des Kapitalismus. Nicht in dem Sinne, dass sie wie 2009 direkt von ihm hervorgerufen wurde. Aber: Wie so viele der neueren Seuchen ist sie wohl infolge der verschärften Ausbeutung natürlicher Lebensräume entstanden, der Einmischung in Umweltbereiche, die zuvor mit der menschlichen Sphäre nichts zu tun hatten, mit dem Ziel sie zu verwerten (Zoonose). Zweitens ist die Pandemie von einem eklatanten Marktversagen gekennzeichnet, hat offengelegt, wie fragil und ungelenk die „unsichtbare Hand des Marktes“ wirklich sein kann (siehe z.B. die Dynamiken rund um die Jagd nach medizinischer Ausrüstung). Drittens ist sie eine Krise im neoliberalen Kapitalismus: Zwar intervenieren die Staaten jetzt überall massiv in das Wirtschaftsgeschehen und schon prophezeien einige das Ende der „freien“, globalisierten Wirtschaft. Jedoch sind die Machtstrukturen unverändert geblieben und bei der Bewältigung der Krise wird man wahrscheinlich auf die bewährten neoliberalen Rezepte zurückgreifen, etwa: Kontrolle durch externe, wirtschaftsnahe Technokraten, Sparprogramme bzw. Sozialabbau. Übrigens: Nach dem II. Weltkrieg waren die europäischen Nationalstaaten extrem verschuldet, und die Staatsschuld wurde schlagartig über hohe Sonderabgaben auf sehr große Vermögen annulliert - das ist heute fast undenkbar, denn sie grenzten an Enteignungen. 

2. Die (dem Schutz von anerkannten Verfassungswerten dienende) zeitweilige Einschränkung einiger Grundrechte, wie sie in Ländern wie z.B. Italien, Deutschland oder Spanien zu beobachten ist, und die Geschehnisse in Osteuropa oder anderen Ländern weltweit sind nicht gleichzusetzen. Nur im zweiten Fall ist Corona der fadenscheinige Vorwand, ein antidemokratisches Programm der Entrechtung durchzusetzen. Es ist auch nicht zutreffend, den BefürworterInnen jener Regierungsmaßnahmen, die unter „lockdown“ zusammengefasst werden können, eine neue Lust an einer faschistoiden, unbeschränkten Macht der Exekutive zu unterstellen. Jene ItalienerInnen, jene SüdtirolerInnen, die trotz aller Entbehrungen die Entscheidungen eines Conte oder Kompatscher unterstützen, sind weder demokratiemüde noch im Begriff, in kindlich-dümmlichem Gehorsam die Demokratie zu verlernen. 

Aber wer sich in den vergangenen Wochen und Tagen gern als einsamer Rufer in der Wüste sah, der mag jetzt ohnehin beruhigt sein: Die allgemeine Stimmung kippt, Phase 1 hat sich zeitlich und moralisch bald verbraucht, neigt sich ihrem unweigerlichen Ende zu. Wir werden zur Normalität zurückkehren. Bloß - um welche Normalität handelt es sich eigentlich? Und inwieweit verdient sie es, zu ihr zurückkehren zu wollen? 

Liegt die Normalität in der billigend in Kauf genommenen, schrittweisen Vernichtung der natürlichen Lebensgrundlagen unserer Spezies? Ist die Normalität in den Lagern Griechenlands zuhause, wo verdrängte Gestrandete dahinfaulen, oder im Mittelmeer, wo Flüchtende ertrinken und mit ihnen die Humanität des Abendlandes? Gehört die globale wirtschaftliche Anarchie zur Normalität, in der skrupellos-unzähmbare Konzerne Arbeiter, kleinere und mittlere Unternehmen, ja ganze Staaten in einem selbstzerstörerischen und gnadenlosen Wettbewerb vor sich her treiben? Ist der Zynismus normal, den Größtaktionäre, Konzerninhaber und Hasardeur-Investoren an den Tag legen, wenn sie schmutzige Milliarden mit Spekulation, Ausbeutung und Steuertricks machen, und sich zugleich als Helden des Fortschritts und Philanthropen beweihräuchern?

Wir müssen uns im Klaren sein, dass „zurück zur Normalität“ nicht nur bedeutet, wieder auf den Berg oder ans Meer fahren zu dürfen, ins Konzert oder Restaurant zu gehen; es impliziert auch, sich wieder mit voller Kraft einem System unterzuordnen, von dem wir durch die Coronakrise (in der subjektiven Wahrnehmung) ausgeklammert zu sein scheinen. Einem System, das auch ohne Covid-19 krisenhafter nicht sie könnte und außerhalb der Wohlstandsfestungen dieser Erde jegliche „Normalität“ lange schon verunmöglicht. Einem System, das uns hier die liberale Demokratie und Rechte beschert, den meisten Menschen aber vor allem Rechtlosigkeit und ein erbärmliches, geknechtetes Dasein. Mir ist diese Normalität zuwider. 

Der bekannte Soziologe Theodor W. Adorno prägte einst das Motto „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen.“ Ganz so stellt sich die Frage, ob es im Angesicht der Perversität der Welt eigentlich eine Normalität geben kann. Wenngleich die „Falschheit“ sich zugegebenermaßen dem ersten Blick entzieht, wenn man das Glück hat, in Südtirol zu leben. Und natürlich ist es kein Leichtes, die Auswirkungen einer global operierenden Ordnung in einer autonomen Musterprovinz aufzuspüren. Schon möglich, dass wir auf regionaler Ebene von den schlimmsten sozialen Verwerfungen verschont bleiben. Und doch, die auf Corona notwendigerweise folgenden Umwälzungen sind zu studieren, zu kritisieren. Wir alle warten sehnsüchtig darauf, unserer Bestimmung als soziale Wesen wieder folgen zu können, wie es uns immer lieb war. Zu Recht. Gleichzeitig müssen wir uns vor einer allgemeinen Romantisierung der „Normalität“ hüten, die, wie gesagt, einen teils sehr abnormalen Geschmack hat. 

Die allgemeine gesellschaftliche Debatte, die viele nicht zuletzt hier auf Salto.bz fordern und im Grunde schon angestoßen haben, ist tatsächlich von größter Bedeutung. Worauf es aber ankommt, sind die Inhalte der Debatte. Wir dürfen es nicht dabei belassen, über das Für und Wider der aktuellen Ausgangsbeschränkungen zu diskutieren oder unserem berechtigten Frust über die pedantische Haltung so mancher Bürgermeister und Ordnungshüter freien Lauf zu lassen. Wir dürfen nicht beim leidenschaftlichen Streit darüber stehen bleiben, welcher virologische Ansatz am effizientesten ist.

Wir müssen uns fragen, was für eine Zukunft eigentlich möglich ist, was für eine Zukunft wir wollen, und wie wir sie gestalten können. Die Kunst liegt freilich auch darin zu vermeiden, dass solche Diskurse in Wunschdenken ausarten und Utopismen Vorschub leisten. Mit der Zukunft zu beginnen - das heißt im Wesentlichen, solidarisch zu sein, wenn nach der akuten Krise all die Darbringer von „essenziellen Diensten“ für mehr Rechte und bessere Bedingungen kämpfen. Wachsam zu sein, wenn die Kosten der Krise wieder auf die sog. „kleinen Leute“ abgewälzt werden sollen. Es ernst zu nehmen mit der Stärkung der regionalen Wirtschaft, unseren Betrieben zu helfen, die ja echte Leistung erbringen und qualitätsvolle Arbeit sichern.

Und nicht zuletzt: Den Zusammenhang der Coronakrise mit der weltweiten  Wirtschaftsordnung sehen. Sich mit deren Charakter und deren Widersprüchen auseinanderzusetzen, sie kritisch zu hinterfragen. Sie mit dem abzugleichen, was uns eigentlich wichtig ist und was unsere Ziele sind. Friedrich Engels sagte dazu: „Die gesellschaftlich wirksamen Kräfte wirken ganz wie die Naturkräfte: blindlings, gewaltsam, zerstörend, solange wir sie nicht erkennen und nicht mit ihnen rechnen. Haben wir sie aber einmal erkannt, ihre Tätigkeit, ihre Richtungen, ihre Wirkungen begriffen, so hängt es nur von uns ab, sie mehr und mehr unserm Willen zu unterwerfen und vermittels ihrer unsere Zwecke zu erreichen.“ Erstaunlich, wie wahr das heute klingt. Heute, da wir von einer unsichtbaren Naturkraft ebenso akut bedroht sind wie von einer Kraft, die so mächtig scheint wie ein Naturgesetz, aber nichts als menschengemacht ist.

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Peter Gasser Mo., 20.04.2020 - 20:30

Im Beitrag steht:
“Wir werden zur Normalität zurückkehren”.
Wir sind erst am Beginn der Pandemie, wir werden noch lange nicht zur “Normalität” zurückkehren können.
Solche Seuchen gab es auch in der Antike, auch im Mittelalter, und all die Jahrhunderte herauf.
Diesmal haben zudem die politischen Strukturen massiv versagt: als Beispiel gelte die Demonstration mit 120.000 Teilnehmern Anfang März in Madrid - und das, was dann für Madrid folgte.

https://www.brennerbasisdemokratie.eu/?p=55426

Mo., 20.04.2020 - 20:30 Permalink
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Julian Nikolau… Mo., 20.04.2020 - 21:29

Antwort auf von Peter Gasser

Sie haben Recht: Natürlich dauert die Pandemie noch an, das habe ich nirgends bezweifelt. Der aktuelle Zustand wird sich aber nicht noch Monate lang fortsetzen. Ich meine auch nicht, dass Seuchen eine „Erfindung“ des Kapitalismus - und daher des 18./19. Jh - sind (so viel Geschichte ist mir dann doch bekannt). Er befeuert bloß ihre Entstehung, eben aufgrund des umfassenden und unkontrollierten Raubbaus an der Natur. Nun gilt das für auf den Menschen übertragene Tierkrankheiten im Allgemeinen, und Corona ist eben eine solche. Natürlich sind die genauen Umstände der erstmaligen Übertragung auf den Menschen noch nicht ganz geklärt. Abschließend: Ich habe nur festgestellt, dass die Machtstrukturen unverändert sind, nicht dass sie bestens funktionieren...Zumindest hätte ich nicht mitbekommen, dass es irgendwo zu geglückten Revolutionen infolge des Virus gekommen wäre, auch unsere geschätzten Katalanen haben das jetzt nicht geschafft.

Mo., 20.04.2020 - 21:29 Permalink
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Peter Gasser Mo., 20.04.2020 - 22:04

Antwort auf von Julian Nikolau…

Ich kann Ihren Gedankenstrag im Allgemeinen nachvollziehen und auch die Beschreibung/Bewertung der allgemeinen Situation.
Natürlich sind die Machtstrukturen unverändert, sie sind es wohl seit der neolithischen Revolution, diesem Drama des mit der Natur lebenden Menschen, in welchem der nun knechtende Bauer lernte, mit den Tieren zusammenzuleben, und deren Krankheiten - ungeschützt - zu übernehmen... die industrielle Revolution hat da nichts verbessert, das Informationszeitalter leider auch nicht... ich seh den Silberstreifen am Horizont nicht.

Mo., 20.04.2020 - 22:04 Permalink
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Julian Nikolau… Mo., 20.04.2020 - 22:35

Antwort auf von Peter Gasser

Ja sicher, da bin ich ihrer Meinung...Die Beziehung zwischen Mensch und Tier war immer ähnlich, sie hat sich aber m.E. durchaus weiterentwickelt im Laufe der Jahrhunderte - quantitativ (in Bezug auf das Ausmaß der Nutzbarmachung der Tierwelt) und qualitativ (von der Selbstversorgung und Versorgung von lokalen Höhergestellten, zu welchen man in einem Abhängigkeitsverhältnis stand, zur modernen Agrarindustrie). In dem Maße, wie sich auch die technischen Fertigkeiten des Menschen geändert haben. Bei den „Machtstrukturen“ habe ich mich auf die politisch-wirtschaftlichen Strukturen bezogen, auf die sozialen Herrschaftsstrukturen, die in der Sklavenhaltergesellschaft der Antike andere waren als im Feudalismus, und wieder andere bestehen seit dem Siegeszug der bürgerlichen Revolutionen ab 1789. Hier sehe ich durchaus einen erheblichen Wandel, diese Strukturen sind nicht seit der Sesshaftwerdung des Menschen gleich (nur einzelne Grundzüge höchstens).

Mo., 20.04.2020 - 22:35 Permalink
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Klaus Hartmann Di., 21.04.2020 - 20:10

Die Machtfrage muss immer wieder neu gestellt werden. Sie ist kein Naturgesetz. Da gebe ich dem Autor recht. Unsere Wirtschaftsordnung muss in Frage gestellt und neu definiert werden. Politik muss sich, und vielleicht ist das eine der Lehren die wir aus dieser Krise ziehen können, ihren seit Jahrzehnten an den "freien Markt" abgegebenen Handlungsspielraum wieder aneignen. Die allseits gepredigte Alternativlosigkeit ist ein Märchen dem wir aufgesessen sind. Politik muss wieder politisch werden. Wir müssen wieder politisch werden. Jahrzehntelang ging es uns um das ICH. Es wird Zeit dass wir und um das WIR kümmern. Politik müssen wir in Zukunft daran messen inwieweit sie das Gemeinwohl ins Zentrum ihrer Entscheidungen und entsprechenden Regulierungen und Interventionen stellt.
Wo ich dem Autor nicht folgen kann ist sein Hinweis, dass solche Diskurse nicht in Wunschdenken ausarten und Utopismen Vorschub leisten sollten. Wünsche drücken Bedürfnisse aus die durchaus in den Diskurs einfliesen sollten. Auch für Visionen und Utopien müssen wir uns wieder öffnen, weil sie der Treibsoff sind der uns über uns hinausführen kann.
"Die einzige Begrenzung, das Morgen zu verwirklichen,werden unsere Zweifel von heute sein." Roosevelt

Di., 21.04.2020 - 20:10 Permalink
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Julian Nikolau… Di., 21.04.2020 - 23:59

Antwort auf von Klaus Hartmann

Ich denke eben auch, dass das Primat der Politik über die Wirtschaft wiederhergestellt werden muss, besonders müssen wir jene Betrachtung der „Wirtschaft“ als sich selbst genügendem Wert, als Selbstzweck überwinden, die uns der Neoliberalismus aufzwingt (er ist nicht von ungefähr die Ideologie des Finanzkapitals). Das ist eine globale Aufgabe, es kommt hier darauf an, eine progressive Hegemonie im wirtschaftspolitischen Diskurs zu erlangen, nachdem sich seit einigen Jahren bereits in der Wirtschaftswissenschaft die kritischen Stimmen zum Marktradikalismus mehren.

Ich will auch gerne präzisieren, was ich mit der Ablehnung utopistischer Diskurse meinte: Selbstverständlich braucht es Fernziele und (ideologische/philosophische) Prinzipien, nur muss man sie laufend an die materiellen Bedingungen, an die vorgefundene Realität anpassen, um ebendiese Realität entlang der eigenen Ziele erfolgreich beeinflussen zu können. Visionen müssen das Hier und Jetzt fest im Blick haben, damit sie als Grundlage für zukunftsweisende Programme dienen können - jedenfalls dann, wenn es um die Revolutionierung der Verhältnisse geht, denn Änderungen müssen nunmal in der Gegenwart mit all ihrer Unzulänglichkeit beginnen.

Di., 21.04.2020 - 23:59 Permalink
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Profil für Benutzer Klaus Hartmann
Klaus Hartmann Mi., 22.04.2020 - 09:06

Antwort auf von Julian Nikolau…

Sie haben vollkommen Recht. Wir leben im Hier und Jetzt und wir haben nur diese eine Welt, was nicht bedeutet, dass wir sie nicht verändern könnten. Der Zugang zu Veränderung politischer Realität muss aber ein materialistischer sein. Die Ursachen des Dilemmas liegen in konkreten Verhältnissen begraben, die es zu verändern gilt. Es geht also um eine interdisziplinäre Analyse dieser Verhältnisse (Hier und Jetzt) und um die Frage wie wir in Zukunft leben und überleben wollen (Ziel). Danach sollte sich politisches Handeln ausrichten, ohne sich vom Mainstream wirtschaftspolitischer Dogmen den Wind aus den Segeln nehmen zu lassen.

Mi., 22.04.2020 - 09:06 Permalink