Gesellschaft | Musiker, Freelance

Monotonie. Automatismus. Abwesenheit.

Alltag eines klassischen Musikers, der bislang als solcher überleben konnte, aber einer noch schwierigeren und unsicheren Zukunft entgegen blickt.
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Streicher salto
Foto: Matteo Bodini

Quarantäne-Alltag eines freischaffenden Musikers

09:30, fertig gefrühstückt, Nachrichten im Radio gehört. Ich beginne zu üben. Violoncello. Warum übe ich, hab ja nichts in Aussicht. Alles abgesagt. Ein bisschen Gymnastik muss sein. So nenne ich sie. Tonleitern, Dreiklänge, Quarten, Oktaven... meine Gedanken schweifen bereits bei der zweiten Tonleiter ab. Monotonie. Automatismus. Abwesenheit.

Jeder Tag ist gleich, jeder Tag ist ein verlorener Tag, jeder Tag kostet gleich, bringt aber nichts. Jetzt scheint letztere natürlich die Aussage eines Kapitalisten, in diesen Zeiten bedeutet Kapitalismus aber Realismus. „Do leb i, do kaf i“ schöne Worte, schöner Gedanke, aber man muss ihn vervollständigen. „Do leb i, do kaf i, wenn i mir sel leisten konn!“

Mittlerweile bin ich bei der fünften Tonleiter angelangt, meine Hände bewegen sich auf dem Instrument. Es ist der Autopilot, die Gewohnheit, es sind Instinkte und Reflexe. Ich könnte genauso gut gerade im Garten jäten oder ums Haus laufen. Monotonie. Automatismus. Abwesenheit.

Tag 51 des Lockdowns, seit dem 9. März verbringe ich meine Tage mehr oder weniger auf eigenem Grund und Boden. Wenige Ausnahmen, das Einkaufen ist das wöchentliche Highlight, trotz aller notwendigen Sicherheitsvorkehrungen. Chirurgische Maske, Handschuhe, Abstand halten, vor dem Supermarkt teilweise bis zu 45 Minuten Wartezeit bis man hinein darf. Aber egal. Was habe ich denn sonst zu tun? Eine Probe, ein Konzert? Fehlanzeige! Üben?

Aus Langeweile nehme ich bereits zum vierten Mal das Handy in die Hand. Beantworte zwei Textnachrichten, schaue kurz bei Facebook rein. Nichts Neues, was sollte denn auch geschehen außer einem neuen Kuchenrezept. Einem Kuschelfoto mit der Katze. Selbstgemachte Nudeln. Vollkommenes Familienglück. Monotonie. Automatismus. Abwesenheit.

Naja, wann ich anfange, ist nicht besonders wichtig, ich hab ja den ganzen Tag. Ob ich mehr üben sollte, das ist eine Frage mit der ich mich ziemlich häufig auseinandersetze. Ich habe bis heute, nach 51 Tagen, keine Antwort gefunden. Einerseits scheint es mir, als würden alle meine Kollegen und Freunde ihre neu gewonnene Freizeit vollkommen ins Üben investieren, andererseits bin ich überzeugt, dass dies nur einer der vielen Nebeneffekte der Socialmedia-Welt ist. Und als Musiker kann ich mir sehr genau vorstellen, dass es meistens nur ein trügerischer Schein ist. Um gut dazustehen, um vorbildlich und professionell zu wirken, um der Onlinewelt zu vermitteln, dass man immer an die Kraft der Musik glaubt. Philosophische Sätze, Gedichte, Fotos des Balkonausblicks sind häufige Begleiterscheinungen.

Die Quarten-Tonleitern sind für mich eine Art Qualitätskontrolle. Quarten sind das Grundgerüst der Intonation auf einem Streichinstrument. Ich spiele sie rauf und runter. Gebunden und nicht gebunden. In F-Dur und in H-moll. Über eine Oktave und dann über zwei. Monotonie. Automatismus, Abwesenheit.

Alles schön und gut, die Kunst hat eine unglaubliche Kraft, aber leider kann man davon nicht im Supermarkt einkaufen oder auf Amazon damit bezahlen. „Wählen Sie eine Zahlungsart: Visa, Paypal, Postepay, Sofortüberweisung.“ Kraft der Musik? Steht nicht zur Auswahl. Diese Quarantäne, der Lockdown, hat nichts Anderes gemacht, als uns freischaffenden Musikern schonungslos aufzuzeigen, wie uns die Menschen wahrnehmen. Im besten Falle als angenehme Begleiterscheinung. Bei Ausstellungseröffnungen oder Hochzeiten, im Radio, sogar bei Opernaufführungen. Dort stehen die Sänger im Mittelpunkt. Auf der Bühne. Im Rampenlicht. Das Orchester, unsichtbar im Orchestergraben. Und nun, alle Kunst der Welt gezwungenermaßen ausschließlich online. Für unser Publikum sehr vorteilhaft. Nämlich kostenlos. Ohne Anreise, ohne die eigenen vier Wände verlassen zu müssen. Auf der Wohnzimmercouch. Im Bett. Auf dem Balkon. Kostenlose Lieferung frei Haus. Warum aber schickt uns keiner Pizza einmal in der Woche? Pizza am Samstag. Eis am Sonntag. Am Freitag ein Fischgericht. Wär doch praktisch.

Nach den Quarten mache ich eine kurze Pause. Lenke mich kurz ab. Als würde ich das brauchen, ich war doch extrem konzentriert. Konzentriert an andere Sachen zu denken. Ich trinke einen Kaffee und esse einen Keks. Weiter geht’s! Schumann Konzert in a-Moll. Eines der Pflichtstücke bei den meisten Probespielen. Probespiele. Monotonie. Automatismus. Abwesenheit.

Das letzte Probespiel. In Heidelberg. 27.02.20. Da war die Pandemie schon längst in Europa angekommen. Ich war bereits mit einer Atemschutzmaske unterwegs. Hinreise mit dem Zug. 12 Stunden. Rückreise mit dem Flugzeug, von Stuttgart nach Bologna. Viele Städte habe ich auf diese Weise besucht. Egal ob Probespiel oder Konzert. Lange Anreise. Kurzer Aufenthalt. Ich könnte die schönsten Bahnhöfe und Flughäfen Europas rezensieren. Lonely Planet Verlag, seid ihr interessiert? Denn ernsthaft, ich überlege mir, wie es als Freischaffender in dieser Branche weitergehen wird. Bis jetzt, also vor dem Ausbruch dieser weltweiten Krise, konnte ich davon (über)leben. Werde ich als Freischaffender diese Krise überstehen und weiterhin meinen Beruf ausüben können? Wir freischaffende Künstler haben es geschafft davon zu leben, durch unsere Leidenschaft, unsere Liebe zum Beruf, unsere Aufopferung, unsere Anpassungsfähigkeit, unsere Flexibilität. Im vergangenen Jahr hätte ich, wenn ich gewollt hätte, einmal die Welt umrundet. Ich habe weit über 40.000 Kilometer zurückgelegt. Für Konzerte, Proben, Probespiele. Davon habe ich leben können. Sicherlich ohne ein luxuriöses Leben führen zu können. Aber wahre Erfüllung und Zufriedenheit kostet meistens nichts.

Das Schumann Konzert ist ein wunderbares Stück. Es ist mitreißend und zugleich sehr intim. Man kann viel von sich preisgeben, wenn man dieses Konzert spielt. Aber genug davon. Ich will noch ein bisschen Bach spielen. Etwas aus den Suiten für Violoncello. Die Bibel eines Cellisten. Das Grundgesetzbuch. Jeder einzelne Satz ist ein Meisterwerk. In sich stimmig, vollkommen, Aber am 51. Tag, gebe ich zu meiner Schande zu, kann ich dieser höchsten aller Künste nicht mehr gerecht werden. Monotonie. Automatismus. Abwesenheit.

Nach diesen Reisen ist man immer müde, man hat immer das Gefühl, man will nach Hause, das T-Shirt und die Hose aus einem Schrank entnehmen, nicht aus dem Koffer. Aber zu Hause...zu Hause kann ich Äpfel zupfn oder Erdbeer klauben. Aber kann ich da meinen Beruf ausüben, im reichen Land Südtirol, in einer der wohlhabendsten Regionen Italiens und Europas? Es war immer schon sehr schwierig. Höher, weiter, besser. Mir sein mir. Südtirol schmückt sich gern mit diesen Begriffen. Wohlklingende Worte. Realitätsfremde Worte! Bei gut 500.000 Einwohnern existiert in Südtirol ein halbes Orchester. Halbes deshalb, weil sich Südtirol dieses Orchester mit der Provinz Trento teilen muss. Haydn Orchester von Bozen und Trient. In einer vergleichbaren Region in Deutschland gäbe es allein in Südtirol mindestens 2 Orchester, angesichts des Reichtums, des Wohlstandes und des Tourismus eher drei. Wo sind wir besser? Dass Schlagermusikanten für Playbackauftritte 5 Mal so viel verdienen wie ein klassischer Musiker? Dass die Musikschulen unendlich lange Ranglisten in Kauf nehmen anstatt neue Lehrpersonen einzustellen? Oder stell dir vor, ich würde mit anderen klassischen Musikern „Nuijohr ounspielen“, im Streichquartett. Wäre komisch oder? Größere Alkoholmengen vertragen wir auch, an dem würde es nicht scheitern.

Es reicht für heute, ich habe lange genug so getan, als würde ich üben. Ich werde Mittag essen, am Nachmittag eine kleine Runde spazieren gehen, Netflixserien weiterschauen, im Garten meinen Eltern helfen. Dinge bei denen ich weniger abgelenkt bin als bei meiner Arbeit. Ich übe abgelenkt, bin aber beim Salat einpflanzen fokussiert. Eine paradoxe Situation. Sollte ich vielleicht eine Gärtnerlehre beginnen? Der Abend wird ebenfalls vergehen und ich werde schlafen gehen. Und der nächste Tag wird anbrechen. Monotonie. Automatismus. Abwesenheit.

Dieser Notstand wird irgendwann vorbei sein. Die Normalität wird in unser Leben zurückkehren. Theater werden wieder öffnen. Ob es dann noch freischaffende Musiker braucht, werden wir erst sehen, wenn es soweit ist. Denn schlussendlich kommt man immer zum selben Punkt: Kunst ist nur in der Quarantäne kostenlos und deshalb für ein breites Publikum plötzlich interessant. Sobald man dafür wieder bezahlen muss, riskiert sie eine verschwindend kleine und unbedeutende Nebenrolle. Schade!

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Max Benedikter Fr., 01.05.2020 - 21:43

Ich bin immer wieder über solchen Lesestoff, nein besser, Lesezuckerlen begeistert.
Bitter, sauer, zart und tief.
Viel Glück. Vielleicht solltest du mehr schreiben.

Fr., 01.05.2020 - 21:43 Permalink