Gesellschaft | Beeinträchtigung

“Mir sein stuff!”

Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung und psychischen Erkrankungen sind in der Corona-Krise kein Thema, klagen Betroffene und fordern: “Wir wollen wieder arbeiten!”
Fragile
Foto: Pixabay

“Normalerweise arbeite ich mit 73 Menschen mit Behinderung und psychischen Erkrankungen zusammen.” Doch momentan muss Sara alleine arbeiten – “leider”, schreibt sie in einer Mail an die salto-Redaktion.

Sara ist eine der Mitarbeiter von gwb. Hinter dem Kürzel, das für “Genossenschaft. Werkstätten. Begleitung.” steht, steckt eine private Genossenschaft, die zwei Werkstätten in Bozen und eine in Meran führt.

Der Auftrag der gwb: Menschen, die wegen einer Behinderung und/oder psychischen Erkrankung nicht oder noch nicht für die selbstständige Arbeitswelt gerüstet sind, einen, zum Teil geschützten, Arbeitsplatz bieten.

In den Werkstätten werden handwerkliche Arbeiten verrichtet, unter anderem Holzartikel oder Teppiche hergestellt. Aber auch Verpackungs-, Montage- oder Sortierarbeiten gehören zu den Arbeitsaufträgen, die die gwb-Mitarbeiter von bis zu 70 privaten und öffentlichen Betrieben täglich erhalten.

Doch seit zwei Monaten steht alles still, die Werkstätten sind geschlossen – und den Mitarbeitern mit besonderen Bedürfnissen fällt die Decke auf dem Kopf. Sie fühlen sich alleine gelassen, von der Politik vergessen. Was für viele mit den Lockerungen des Lockdowns wieder selbstverständlich möglich geworden ist, ist es für einige nicht: “Wir wollen uns wieder frei bewegen können, wir wollen arbeiten gehen und Kontakte pflegen!” gwb-Mitarbeiterin Sara hat Meinungen und Aussagen von Kolleginnen und Kollegen gesammelt und in einem Text zusammengeschrieben, den wir in vollem Wortlaut veröffentlichen:

“MIR SEIN STUFF!

MIR, Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen arbeiten normalerweise in einer Werkstatt der gwb Genossenschaft. Die gwb ist für uns Arbeitsplatz und Familie. Seit dem 12. März müssen wir wegen des COVID19 zu Hause bleiben, so wie alle anderen auch. Nur mit dem kleinen Unterschied, wir sind immer noch zu Hause und unsere Zukunft hängt noch immer in der Luft. Über komische Langhaarfrisuren und wilde Bärte wird ständig berichtet. Aber uns hat Herr und Frau Politik sowie Herr und Frau Öffentlichkeit vergessen. Nie wurde über uns und unsere Bedürfnisse gesprochen. Niemand hat sich auch nur einmal laut darüber Gedanken gemacht. ‘Ich darf seit dem 12. März nicht mehr die Wohngemeinschaft, in der ich lebe, verlassen. Nicht mal um den Häuserblock darf ich spazieren. Meine Betreuer haben zu viel Angst, dass ich mich und meine Mitbewohner anstecken würde’, erzählt ein Mitarbeiter bei einem Telefongespräch.

DAS AUFGESCHIEBE IST DAS SCHLIMMSTE

Immer und immer wieder dieselbe Nachricht, von unseren Begleiterinnen und Begleiter: wir müssen noch zu Hause bleiben! Es gibt auch keine Informationen darüber, ob und wann wir wieder zur Arbeit dürfen. Es gibt keinen Plan für uns und unsere Rückkehr in unsere Normalität. Auch wir haben das große Bedürfnis wieder ein normales Leben zu führen und unserer Arbeit nachzugehen!
‘Wann darf mein Bruder endlich wieder in die gwb zur Arbeit fahren? Ich halte es nicht mehr aus! Er hat schon unsere halbe Wohnung kleingeschlagen!’, teilt eine verzweifelte Angehörige mit.

UNSER GLÜCK DAS HOMEWORKING

Wir haben das Glück, dass unsere Begleiterinnen und Begleiter der gwb Arbeitspakete zusammenstellen und vor unsere Haustür stellen. Wenn wir möchten, haben wir also eine sinnvolle Beschäftigung und können auch weiterhin unsere Arbeitsaufträge und unseren Arbeitsplatz sichern. ‘Ich habe heute wieder Arbeit zu Hause geliefert bekommen, darüber freue ich mich sehr! Jetzt ist mir nicht mehr langweilig! Ich würde aber lieber wieder in der gwb arbeiten, weil ich dann während dem Arbeiten auch noch ratschen könnte’, erzählt Sarah. Wir brauchen nach zwei Monaten Heimarbeit wieder einen geregelten und normalen Tagesablauf und wir wollen und können einen wichtigen wirtschaftlichen Beitrag leisten! Martina sagt: ‘Ich bin den ganzen Tag alleine in meiner Wohnung. Mir fehlt die gwb-Familie und ich habe große Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren.’

WIR WOLLEN WIEDER TEILHABEN

‘Ich habe Waltraud Deeg geschrieben, dass sie sich um unsere Arbeitsplätze kümmern soll. Sie hat mir geantwortet, dass es in Ausarbeitung ist’, sagt Patrick, ein Mitarbeiter der gwb. Mir sein stuff! Wir wollen uns wieder frei bewegen können, wir wollen arbeiten gehen und Kontakte pflegen! Wir werden die Sicherheitsbestimmungen einhalten: Wir können Mundschutz tragen, wir können den Sicherheitsabstand einhalten, auch wir schaffen das!

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Priska Spitaler Di., 12.05.2020 - 19:31

Respekt, ein beeindruckender und aussagekräftiger Artikel. Ich habe auch eine Schwester mit Beeinträchtigung, die "normalerweise" in einem Sozialzentrum arbeitet und die sozialen Kontakte zu ihren Kollegen und Betreuern dort vermisst. Ich kann sehr, sehr gut verstehen, dass ihr stuff seid und wünsche euch von Herzen, dass ihr Gehör findet und dass auch für euch eine gewisse "Normalität" wieder einkehrt. Bleibt dran und seid mutig, geht euren Weg konsequent weiter. Ihr seid wichtig für unsere Gedellschaft!!!!

Di., 12.05.2020 - 19:31 Permalink
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Michael Bockhorni Do., 14.05.2020 - 09:04

Wir hören in der Allianz für Familie vom AEB leider von sehr ähnlichen Situationen. Danke salto, denn viele große Medien haben trotz Angeboten nicht über die Situation von Menschen mit Beeinträchtigung und deren Familien berichtet bzw. sie interviewt. Im Sinne der Menschenrechtskonvention und der Nicht Diskriminierung sind natürlich diese Personen genau so in die Maßnahmen zur Lockerung der Corona Schutzmaßnahmen einzubeziehen.

Do., 14.05.2020 - 09:04 Permalink