Wirtschaft | Gastkommentar

Ischgl hat viele Seiten

Es gibt viel Schönes und Unschönes zwischen Himmel und Erde. Aber das Spiel zwischen moralischem Beschleunigen und Bremsen geht weiter und wird nie enden.
Ischgl
Foto: Alexander Sinn on Unsplash

Ich war in den 90er Jahren fünf Jahre lang Direktor des Tourismusverbandes Ischgl und ich habe die wohlbekannten Entwicklung miterlebt und intensiv versucht mit meinen Mitstreitern den Prozess zu lenken.

Wenn alle Mitbürger eines Ortes im Tourismus arbeiten – sogar der Pfarrer hatte damals Zimmer vermietet – dann hat man, sagen wir 500 Unternehmer, die alle eine unterschiedliche Vorstellung von Qualität haben. Alle auf eine Philosophie einzustimmen war kaum möglich. Damals hatten wir eine tägliche Schließung aller Après-Ski-Lokale um 19:30 Uhr vorgeschlagen. Wir waren erfolglos, weil Unternehmern die Entscheidung obliegt, welches Angebot sie ihren Gästen bieten und wie lange! Ein Angebot, für das es offensichtlich eine starke Nachfrage gibt.

Wer jemals in Ischgl Ski fahren oder wandern war, kann nur in höchsten Tönen von der hohen Qualität berichten. Es gibt in Ischgl wunderbare Hotels und ganz hervorragende Gastronomen und Gastgeber. In Summe ist es wohl der erfolgreichste Skiort in Österreich.

Ischgl hatte bereits zu meiner Zeit Musikevents inszeniert und wir hatten zahlreiche Musiker auf 2300 Meter Meereshöhe auftreten lassen. Eine Serie, die dann 1995 ihren vorläufigen Höhepunkt mit einem Konzert von Elton John auf der Idalp fand. Die Frage, ob man auf 2300 Meter Meereshöhe so was tun darf, kann man sich stellen und ist berechtigt, so wie die Frage, ob 500 Menschen gleichzeitig auf den Mount Everest gehen dürfen oder 10.000 an den Pragser Wildsee oder ob jeder dritte Ehemann ins Bordell gehen darf, oder ob wir mit unseren Autos jährlich 1,3 Millionen Tote und 4 Millionen Verletzte generieren dürfen, oder ob Großkonzerne kaum Steuern bezahlen müssen, oder Frauen für dieselbe Arbeitsleistung auch künftig weniger Geld erhalten sollen…

Und sind wir doch ehrlich: Ein bisschen Sodom und Gomorrha ist doch in uns allen.

Wie soll unser alpiner Tourismus in Zukunft aussehen? Wie sollen unsere Gäste anreisen und sich im Ort bewegen, wie sollen sich unsere Gäste im Urlaub verhalten dürfen? Braver, gleich oder weniger brav als zuhause? Welche Gäste mit welchem Psychogramm dürfen zu uns in die Berge?

Doch bei all den Fragen gebe ich zu bedenken: Sich zu berauschen, zu betäuben, sich abzulenken, sich gehen zu lassen, den eigenen Trieben nachzugehen ist tief menschlich und in allen Kulturen verankert. Teils frei auslebbar, teils gesetzlich oder religiös institutionalisiert und teils auch verboten.

Urlaubsorte, welche diese Bedürfnissen bedienen, kann man moralisch an den Kragen gehen oder man kann sie als Orte sehen, die aufgeschlossen und tolerant sind.

Allerdings, als Nichtalkoholisierter mit anzusehen, wie sich Betrunkene aufführen ist unerträglich. Gerät man selber in Feierstimmung – und fast jeden ist es wohl schon mal passiert –, dann ist plötzlich alles lustig und die Toleranzschwelle steigt und steigt.

Wenn jemand um 23 Uhr Abend in die Fußgängerzone kotzt und/oder pinkelt, dann widert mich das an, egal ob in Ischgl oder anderswo. So gesehen gibt es in Ischgl Auswüchse wie auch bei manchen unserer Dorffeste.

Und sind wir doch ehrlich: Ein bisschen Sodom und Gomorrha ist doch in uns allen. Ich habe Gäste – nicht nur in Ischgl – aus besten Hause erlebt, die sich gepflegt, sportlich und vorbildlich verhalten haben und wenn der richtige Moment gekommen war, sind sie in die Anonymität untergetaucht und haben sich vergessen.
Im alten Wien, Paris oder London gehörte es in gehobenen Kreisen zum guten Ruf, eine Geliebte zu haben. Freudenhäuser hatten Konjunktur und edler Wein oder schwarz gebrannter Whisky floss in Strömen. So gesehen hat sich seit der Antike nicht viel verändert, außer dass es nicht nur mehr ein Privileg der Reichen und Adeligen ist. Am Ende ist es immer ein Wechselspiel zwischen dem Puritanischen und dem Unerträglichen.

Wenn jemand öffentlich kundtut "I like anal" oder den Tänzerinnen unters Röckchen schaut, dann ist das nicht meine Welt, aber ich kann es akzeptieren. Wenn jemand um 23 Uhr Abend in die Fußgängerzone kotzt und/oder pinkelt, dann widert mich das an, egal ob in Ischgl oder anderswo. So gesehen gibt es in Ischgl Auswüchse wie auch bei manchen unserer Dorffeste.

Brauchen wir solche Touristen? Wer von euch war schon im K1 oder im Gigger in Reischach? Dort trifft man neben Touristen vor allem "unsere" Kinder, sprich die Kinder der Einheimischen. Brauchen wir solche Kinder? Zu unseren Zeiten lautete das Freitagabend-Ziel Sand in Taufers: Sportcenter, PIK & Co.! Remember? Es gibt viel Schönes und Unschönes zwischen Himmel und Erde. Aber das Spiel zwischen moralischem Beschleunigen und Bremsen geht weiter und wird nie enden.

Urlaubsorte, welche diese Bedürfnissen bedienen, kann man moralisch an den Kragen gehen oder man kann sie als Orte sehen, die aufgeschlossen und tolerant sind.

Bzgl. Piefke-Saga ist es auch in Ischgl schon längst kein Thema mehr. Die Ischgler leben besser bzw. sind wohlhabender als die meisten ihrer Gäste und räumen nicht mehr das Kinderzimmer für den Gast der dringend ein Gästezimmer braucht. Alles ist hoch professionalisiert und zu meinem Erstaunen funktioniert das Sozialleben trotz allem erstaunlich gut. Ich beobachte ein reges Ischgler Vereinsleben und Ehescheidungen gibt es in Ischgl wie anderswo auch. Nicht mehr und nicht weniger!
Ob die Ischgler insgesamt glücklichere oder unglücklichere Menschen sind als andere Tiroler, müsste erst noch erhoben werden und das Gesamtprodukt Ischgl und seine Akteure mögen vielleicht langfristig unter all dem Geschehen leiden, aber auch das muss erst noch bewiesen werden.

Übrigens fällt mir noch ein: Norbert C. Kaser hätte einmal gesagt: "Würde man über Bruneck ein Dach geben, dann wär's a Puff!"

 

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Profil für Benutzer Christoph Tappeiner
Christoph Tappeiner Mo., 15.06.2020 - 17:15

Ich kann auch sehr gut mit Ischgl leben. In erster Linie indem ich dort nicht hinfahre. Sodann weil dort eine Menge Leute urlauben, deren Anblick ich mir anderswo gerne schenken möchte. Also möge Ischgl sein Ischglsein zelebrieren, während andernorts der Berg noch Berg sein darf. Was unsere Täler anbelangt, dann bin ich der Auffassung, dass die Situation in Gröden die Toleranzgrenze ebenfalls längst erreicht hat. Wieso man nun also auch Villnöß verliften muss, um es als Zubringer von der Plose zum ladinischen Skizirkus zu missbrauchen, geht mir nicht in den Kopf. Immerhin hat man's nun geschafft, mit St. Zyprian auch den letzten einigermaßen unberührten Rest des Rosengartens mit Drahtseilen zu verzieren. Zumindest ist in Langtaufers die Sache erstmal vom Tisch. Bleibt aber sicher nur eine Frage der Zeit, bis die Sache wieder auf die Tagesordnung kommt.

Mo., 15.06.2020 - 17:15 Permalink
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Salto User
Manfred Gasser Mo., 15.06.2020 - 19:07

Schön geschrieben Herr Götsch, Chapeau.
Nur das macht es nicht besser. Es erklärt höchstens, dass Geldgeilheit keine Grenzen des guten Geschmacks kennt. Und da Wirtschaft nie genug kriegt, und es nach oben keine Grenzen gibt, wird es, solange die Nachfrage da ist, so weiter gehen.
Es sei den Ischglern gegönnt, aber bitte nicht weinen, wenn die Bettenburgen irgendwann leer bleiben, und nur noch als Skelette die Natur verschandeln. Aber bis dahin wird noch viel Champagner fließen, zum Wohle.

Mo., 15.06.2020 - 19:07 Permalink