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Wer bringt’s?

In Corona-Zeiten boomt auch in Südtirol der Onlinehandel. Waren geliefert zu bekommen, bringt viele Vorteile und kaum Zusatzkosten. Aber wie ist das möglich?
Food Delivery
Foto: Alessio Giordano

Ich sitze im Wohnzimmer und kaufe ein. In den Monaten des Lockdowns merke ich, wie wertvoll diese Möglichkeit ist, systemrelevant sozusagen. Heute suche ich nach Bettwäsche. Nicht nur die Qualität des Produktes, sondern auch soziale und ökologische Standards für Arbeiter*innen und die Umwelt sind mir wichtig. Dafür bin ich bereit, tief in die Tasche zu greifen. Die Lieferkosten hingegen sollten so gering wie möglich bleiben. Ich zögere. Wer wird meine Bettwäsche in „3-5 Tagen“ zu mir in den vierten Stock schleppen? Im Team machen wir uns auf eine Spurensuche.

von Judith Waldboth, Verena Gschnell, Alessio Giordano

 

Die Suche führt uns ins Wohnzimmer von Amandeep Singh nach Franzensfeste. Einige Jahre hat der Familienvater für einen italienischen Lieferdienst gearbeitet – für den nach wie vor viele Männer in der Gemeinde tätig sind. Ein Blick aus dem Fenster reicht, um das zu erkennen: Die roten Lieferautos des Unternehmens parken abends in der ganzen Nachbarschaft. Amandeep Singh war als Lieferant nicht direkt beim Unternehmen angestellt, sondern über Subunternehmen, sogenannte Systempartner. Dabei hat jedes Subunternehmen eigene vertragliche Bedingungen, den Gewerkschaften fehlt der Zugang. Nationale Standards werden so oft gezielt umgangen; für die Fahrer*innen bringt das finanzielle, gesundheitliche und soziale Nachteile mit sich.

 

Welche das sind, davon erzählt Habji*, der lieber nicht seinen richtigen Namen nennt. Der gebürtige Marokkaner arbeitet seit zwei Jahren bei einer Kurierfirma. Zu Beginn musste er 20 Tage gratis arbeiten, um – so erklärte man ihm – seine Auslieferzone kennenzulernen. Er hat einen unbefristeten Vertrag, erhält aber ein tägliches Fixgehalt. Wenn er mehr Stunden macht, bekommt er keine Überstunden ausbezahlt, Zeitausgleich ist keine Option. Anspruch auf Krankenstand und Urlaub hat er nicht. An einem Tag liefert Habji zwischen 80 und 100 Pakete aus. Sollte es passieren, dass ein Paket beschädigt oder gestohlen wird, muss Habji selbst für den Schaden aufkommen. Ein Kollege hat erst kürzlich ein Paket im Wert von 500 Euro nach Aufforderung der Käuferin vor dem Haus abgestellt. Es wurde gestohlen; die Kosten dafür trug der Lieferant. Es bedeutet einen großen Vertrauensvorschuss, wenn ein Lieferant das Paket vor der Haustür lässt. Andererseits sind sie jedoch gezwungen, die Pakete loszuwerden, sonst wird die Zeit am darauffolgenden Tag noch knapper. Auf die Frage, ob es nicht möglich wäre das Unternehmen zu wechseln, schüttelt Habji den Kopf. Die Null-Versandkosten-Mentalität der Konsument*innen führt zum Preisdumping bei den Anbietern. Die Konditionen sind bei fast allen gleich. Hinzu kommt, dass für viele ein Arbeitsvertrag nicht nur eine finanzielle Absicherung bedeutet, sondern auch für ihre Aufenthaltserlaubnis essenziell ist. Da es sehr viele Menschen gibt, die dringend und auch zu schlechten Bedingungen Arbeit suchen, können sich die Unternehmen darauf verlassen, dass der Nachschub an billiger Arbeitskraft nicht ausbleibt. Das Prekariat ist längst zu einem Teil des Geschäftsmodells geworden.

Die Null-Versandkosten-Mentalität der Konsument*innen führt zum Preisdumping bei den Anbietern.

Ein anderer Auswuchs dieses Modells wird bei einem Gespräch in Bozen deutlich: Nach dem Lockdown beginnen sich auch hier die Straßen wieder zu füllen. Harun* ist ein „Rider“, ein Fahrradkurier. 2015 kam der 29-Jährige von Afghanistan über die Türkei und Griechenland nach Italien. Seit Anfang dieses Jahres arbeitet er für den Essenslieferservice „deliveroo“ und möchte unbedingt anonym bleiben. Neben der Warenlieferung hat auch der Essens-Lieferdienst während der Corona-Zeit einen besonderen Aufschwung erfahren. Die Möglichkeit, sich das Essen nach Hause zu bestellen, war in Zeiten der Ausgangssperre besonders wertvoll: Restaurants hatten geschlossen, der tägliche Einkauf wurde eingeschränkt und stellte für Risikogruppen eine Gefahr dar. Harun war einerseits froh, viele Aufträge zu haben und die Menschen in dieser schwierigen Situation unterstützen zu können, andererseits ergab sich für ihn eine paradoxe Situation: Er selbst hatte keine Zeit, sich im Supermarkt anzustellen, um sich etwas zum Essen zu kaufen, da jeden Moment eine Bestellung hätte reinkommen können. „Bänke waren gesperrt, Parks geschlossen – die Polizeikontrollen waren sehr streng. Mein mitgebrachtes Sandwich oder meine Pizza aß ich schnell im Stehen, fast heimlich“, erzählt er. Sein Arbeitstag umfasst 11,5 Stunden.

 

An vier Tagen in der Woche arbeitet er fix, die anderen drei Tage ist er in Bereitschaft, falls andere Rider ausfallen. Die Fahrer*innen sind virtuellen Arbeitsgruppen zugewiesen und können wählen, ob sie eine Verfügbarkeit angeben und Bestellungen annehmen oder nicht. Dabei gibt es Rankings: je größer die Verfügbarkeit, desto besser die Position in der Rangliste. Einige Zeitfenster aber sind „obligatorisch“: Freitag, Samstag und Sonntag von 20 bis 22 Uhr. Falls die Fahrer*innen in den ihnen zugewiesenen Zeiträumen nicht aktiv sind, werden ihre Stunden in der darauffolgenden Woche reduziert. Eine gute Position in der Rangliste erleichtert die Arbeit, sowohl in Form der Auftragshöhe als auch in der Vergabe von Aufträgen in der Nähe der eigenen Position, welche die Unternehmen mit Geolokation nachverfolgen. Im Schnitt bekommt Harun 3,80 Euro pro Lieferung. Dafür legt er auch schon mal acht Kilometer zurück. Sein Tagesrekord liegt bei 23 Zustellungen. Im Mai hat Harun so 180 Stunden gearbeitet. Sein Verdienst: 1100 Euro netto, Trinkgeld inbegriffen. Die Arbeiter*innen von „deliveroo“ sind nicht direkt beim Unternehmen angestellt, sondern arbeiten in sogenannter Scheinselbstständigkeit mit Honorarnoten. Wird das gesetzliche Limit von 5000 Euro überschritten, wird die App blockiert. Einzige Möglichkeit bleibt die Weiterarbeit mittels Mehrwertsteuernummer, was große zusätzliche Kosten verursacht. Ein Gesetzesdekret von 2019 soll diese Missstände abschaffen und derlei Arbeiter in Bezug auf Rechte, Entlohnung und Abgaben den Angestellten des Unternehmens gleichstellen. Im November sollte der Vertrag für Fahrradkuriere ausgearbeitet sein. Falls diese Frist verstreicht, wendet das Ministerium für Arbeit den Mindestlohn in diesem Sektor an, mit 10 Prozent Zuschlag für schlechte Witterung sowie Nacht- und Feiertagsdienste. Diese Nachricht gibt Grund zur Hoffnung, birgt aber auch die Gefahr, dass neue Subunternehmen entstehen, die die vertraglichen Standards wiederum verwässern.

 

Amandeep Singh aus Franzensfeste hat seinen alten Job gekündigt und arbeitet seit mittlerweile acht Jahren für die deutsche Logistikfirma „X4U express for you“. „Zu meinem Arbeitgeber in Augsburg habe ich ein sehr gutes Verhältnis und ich bin sehr dankbar für diesen Job“, sagt er. Als italienischer Staatsbürger, der die deutsche und italienische Sprache beherrscht, hat er in der Branche gute Chancen. Hauptsächlich beliefert er Unternehmen und größere Firmen. Die meisten privaten Haushalte hingegen werden immer noch von Zustellfirmen beliefert, die ähnlich konzipiert sind wie jene, bei der heute noch viele Nachbarn von Amandeep Singh arbeiten. Privatkonsument*innen schätzen im Unterschied zu Unternehmen in erster Linie nicht die Effizienz, sondern die niedrigen Kosten der Hauszustellungen. Weil weder Anbieter noch Käufer*innen dazu bereit sind, die realen Kosten für die Lieferung zu bezahlen, schlägt sich das dann auf die Arbeitsbedingungen der Fahrer*innen nieder. Amandeep Singh ist direkt bei der Firma angestellt, hat einen unbefristeten Vollzeit-Arbeitsvertrag mit ausbezahlten Überstunden und 14 Gehältern. Er ist renten- und krankenversichert und hat Anrecht auf Urlaub. Mit seinem Gehalt kann er seiner Familie ein würdiges Leben bieten. Er wohnt mit Frau und zwei Söhnen in einer gemütlichen Wohnung, im Sommer geht es ein paar Tage ans Meer. Eigentlich nichts Besonderes, möchte man meinen.
 

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gorgias So., 12.07.2020 - 11:29

> Die Null-Versandkosten-Mentalität der Konsument*innen führt zum Preisdumping bei den Anbietern. <
> Privatkonsument*innen schätzen im Unterschied zu Unternehmen in erster Linie nicht die Effizienz, sondern die niedrigen Kosten der Hauszustellungen. <

Hier wird suggeriert, dass der Konsument etwas ausrichten könnte. Was wäre die Lösung? Nicht mehr Online betellen? Dann hätten diese Personen keinen Job mehr. Bei Amazon oder dem Lieferdienst anfragen einen Aufschlag zahlen zu dürfen? Dem Lieferant ein kleines Trinkgeld (oder besser gesagt Almonsen) zu geben?

Das sind alles keine Lösungen, denn es hängt nicht von den Preisen der Produkte ab, ob Arbeiter oder Zusteller gerecht entlohnt werden. Denn auch Luxusmarken und alle geläufigen Sportmarken die in Entwicklungsländer ihre Ware herstellen lassen würde es einen geringen Aufpreis bedeuten die Arbeitsbedinungen zu ändern. Doch es wird einfach aus der ökonomischen Logik der Gewinnmaximierung nicht gemacht. Außer es bricht ein Gebäude zusammen das hunderte von Näherinnen begräbt, dann wird mal was getan. Natürlich sind das PR-Kosten um einen Umsatz nicht zu gefährenden.

Doch anstatt dem Konsumenten ein schlechtes gewissen einzureden, damit er nach dem Einkauf im Supermarkt einer Person die am Eingang steht 3 Euro gibt, sollte man den Bürger aufklären und die systemischen Zusammenhänge und die Lösungsansätze aufzeigen.

Dort wo man ansetzen müsste wurde im Artikel zwar angesprochen, dass es Schlupflöcher und ungenügende Gesetzgebung gibt, die den Arbeitnehmerschutz umgehen lassen. Hier sollte man anstetzen und hier sollte man einen Apell machen.

Doch dann wird es auch unangenehm, weil systemrelevante Änderungen anstehen, die eine Reihe von Dienstleistungen und Produkten teurer machen würden. Es würde die Kaufkraft sinken, die wiederum Lohnanpassungen nötig machen würden und das würde für viele Unternehmer Gewinnschmälerungen bedeuten.

Aber es ist auch eine Frage mit wen man es sich anlegen möchte.

So., 12.07.2020 - 11:29 Permalink