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Politik | Wahl-Turbulenzen

Wahlen und Volksabstimmung

Italien steuert auf wichtige und folgenreiche Entscheidungen zu: die Regional- und Gemeindewahlen und die Volksabstimmung zur Verkleinerung von Kammer und Senat.
Gegen Ende des turbulenten Covid-Sommers stehen in Italien wichtige Wahlen an. Gewählt wird am 20. und 21. September in 7 Regionen und fast 1000 Gemeinden. Gleichzeitig sind 51 Millionen Italiener dazu aufgerufen, in einer Volksabstimmung über die Reduzierung des Parlaments zu entscheiden: die Zahl der Abgeordneten soll von 630 auf 400 sinken, jene der Senatoren von 315 auf 200. Grösstes Fragezeichen bleibt die Wahlbeteiligung. Wieviele politikmüde Bürger etwa werden sich zum Referendum an die Urnen begeben, wenn sie nicht gleichzeitig auch ihre Gemeinde- oder Regionalräte zu küren haben? Sieben Regionen wählen ihre politischen Vetretungen: Venetien, Friaul, Ligurien, Marken, Apulien, Toskana und Kampanien. Zu den Gemeinden, in denen neue Stadtverwaltungen und Bürgermeister gewählt werden, gehören 18 Provinzhauptstädte – darunter neben Bozen und Trient auch Venedig, Arezzo, Mantua, Reggio Calabria und Agrigento.  In Südtirol wird bekanntlich in allen Gemeinden gewählt.
 
Über Monate hatte sich der Partito Democratico der Illusion hingegeben, mit dem in Rom regierenden Bündnis in vier der sechs Regionen zu gewinnen. Nun hat sich dieses Verhältnis genau umgekehrt: in den Umfragen führt das Rechtsbündnis mit 4 zu 2. Der Grund: Die Fünf-Sterne-Bewegung verweigert strikt jedes Wahlbündnis mit ihren Regierungspartnern des Partito Democratico.
Absolut unumstritten bleibt in Venetien der erwartete Sieg des amtierenden Präsidenten Luca Zaia, dem ein Ergebnis von über 70 Prozent zugetraut wird – ein fast surrealer Rekord in Zeiten wachsender Politikmüdigkeit. Zaia, der seine Laufbahn 1993 als Gemeinderat begann, ist ein bei seinen Mitbürgern beliebtes, politisches Urgestein und Initiator des erfolgreichen Referendums für die Autonomie der Region – ein Ziel, das er vor seinem Rückzug aus der Politik unbedingt verwirklichen will. Der trotz seiner langen Karriere erst 52-jährige kandidiert auf einer eigenen lista del governatore. Parteichef Salvini. – obwohl bereits Senator - hat  darauf bestanden, die offizielle Lega-Liste im Veneto anzuführen, auf der fast alle scheidenden Assessoren Zaias aufscheinen. Salvinis Initiative ist einmal mehr nichts anderes als sein permanenter Versuch, die eigene visibilità politica zu steigern.  Teilnehmen wird er bestenfalls an der Eröffnungssitzung, um ein paar TV-Interviews zu geben. Auf Melonis Fratelli d'Italia-Liste im Veneto kommen 25 von 55 Kandidaten aus anderen Parteien - ein purer Wettlauf um Zahlen, wo Inhalte  fehlen.
In Kampanien verlässt sich der Partito Democratico auf eine vorwiegend bei Komikern beliebte Kultfigur – den amtierenden Präsidenten und law-and order-Prediger Vincenzo De Luca, der es nach Umfragen des Corriere auf über 50 Prozent bringen könnte. De Luca hatte letzthin auf dem Höhepunkt der Epidemie damit gedroht, mit Panzerfäusten  auf Corona-Flüchtlinge aus dem Norden zu schiessen und ihren Autobussen die Reifen aufzustechen.
Die von Salvini angekündigte "Eroberung des Südens durch die Lega" erweist sich nach den letzten Umfragedaten als pure Erfindung. Gegen den Corriere, der ihr in Kampanien nur karge 3 Prozent prophezeite, erstattete die Lega gar Anzeige. Neben Kampanien dürfte die Toskana also die einzige linke Region bleiben – ausser der Emilia-Romagna, wo bereits vor Monaten
gewählt wurde.
Auch in Ligurien werden sich die Wünsche des PD kaum erfüllen. Dort liegt der amtierende Präsident Giovanni Toti bei fast 60 Prozent und kann einem ungefährdeten Sieg entgegensehen. 
Dabei galt In den roten Regionen Marken und Apulien ein  Sieg  der Linksallianz bis vor wenigen Wochen als sicher.
Doch die Fünf-Sterne-Bewegung liess sich nicht vor vollendete Tatsachen stellen. Sie weigerte sich, die bereits fixierten PD-Kandidaten zu wählen und reichte eigene Listen ein – mit chancenlosen Bewerbern. In Apulien setzt der PD auf die Wiederwahl des langjährigen Richters und Staatsanwaltes Michele Emiliano, der zehn Jahre als Bürgermeister von Bari und fünf Jahre als Präsident Apuliens amtierte – keine akzeptable Kandidatur für die Fünf-Sterne-Bewegung. Deren junge Kandidatin Antonella Laricchia lehnt Emiliano ebenso ab wie Berlusconis langjährigen Minister Raffaele Fitto, der sich erneut um die Präsidentschaft Apuliens  bewirbt - eine Parade von Uralt-Grsichtern. Und als zusätzlicher Spielverderber betätigt sich einmal mehr auch Renzis Partei Italia Viva, die das politische Tollhaus vervollständigt und mit Ivan Scalfarotto einen weiteren Konkurrenten gegen Emiliano ins Rennen schickt. Premier Conte lässt seiner Verärgerung freien Lauf: "Andare divisi è un'occasione persa."
 
Auch das Referendum über die Kürzung der Parlamentarier um rund ein Drittel sorgt für Verwirrung und Polemiken. Nach Umfragen entscheiden sich 66 Prozent der Italiener für ein Ja und 34 für das Nein. Vor allem die Verfassungsrechtler geraten sich in die Haare "Perché un terzo e non la metà?", fragt Sabino Cassese spöttisch. Zweifel kommen sogar aus den Reihen jener Parteien, die im Parlament für die Kürzung gestimmt haben – mit Ausnahme der Fünf Sterne. die den Antrag eingebracht haben. Der vom M5S zur Lega übergelaufene Senator Claudio Borghi spaltet gar sein eigenes Ich: "Da cittadino voterò no. Da politico ho detto sì." Selbst die ultrarechte Giorgia Meloni, die entschieden für das Ja geworben hatte, wird nun von Zweifeln geplagt. Dabei geht es nicht um Inhalte, sondern nur um politische Strategie:  "La vittoria del No sarebbe una mazzata al governo e alle 5 stelle."