Politik | Gastbeitrag

Weniger ist mehr – oder doch nicht?

Weniger Parlamentarier kosten tatsächlich weniger. Allerdings führt die zur Abstimmung stehende Verfassungsreform zur eindeutigen Schwächung des demokratischen Elements.
Montecitorio
Foto: camera.it

Am 20. und 21. September 2020 entscheiden die italienischen Wähler*innen im Wege eines Verfassungsreferendums über die Reduzierung der Mitglieder ihres aus Abgeordnetenkammer und Senat bestehenden Parlaments. Die Abgeordnetenkammer soll in Zukunft statt 630 nur mehr 400 vom Volk gewählte Mitglieder, der Senat anstelle von 315 noch 200 direkt gewählte Mitglieder aufweisen. Da die Anzahl der Mitglieder beider Kammern durch Artikel 56 Absatz 2 bzw. Art 57 Absatz 2 der italienischen Verfassung exakt festgelegt ist, erfordert die Verringerung der Volksvertreter*innen eine Verfassungsrevision.

Das Verfassungsgesetz zur Verringerung der Parlamentarier hatte am 8. Oktober 2019 bei der zweiten Abstimmung im Senat nicht die erforderliche Zweidrittelmehrheit erhalten, die Artikel 138 der italienischen Verfassung für ein sofortiges Inkrafttreten vorsieht. Das zur Erzeugung von Verfassungsgesetzen erforderliche Verfahren sieht vor, dass jede Kammer des Parlaments ein Verfassungsgesetz zweimal im Abstand von mindestens drei Monaten zunächst mit einfacher und dann mit zumindest absoluter Mehrheit annehmen muss. Erfolgt der Beschluss beim zweiten Mal nicht mit Zweidrittelmehrheit, können 500.000 Wähler, fünf Regionalräte oder ein Fünftel der Mitglieder einer Kammer eine Volksabstimmung darüber beantragen, ob die neuen verfassungsrechtlichen Regeln in Kraft treten sollen. Für die Gültigkeit des Referendums ist kein Mindestquorum vorgesehen. Die Fragestellung lautet, ob das vom Parlament angenommene Verfassungsgesetz zur Reduzierung der Anzahl der Parlamentarier angenommen wird. Beantwortet die Mehrheit der gültig abgegebenen Stimmen die Frage mit „Ja“, tritt das Verfassungsgesetz in Kraft. Die neuen Regeln werden entweder bei Ende der laufenden Legislaturperiode 2023 oder im Falle von vorgezogenen Neuwahlen Anwendung finden. Nachdem die Coronavirus-Pandemie den ursprünglich geplanten Abstimmungstermin am 29. März 2020 ebenso wie die Termine für eine Reihe von Wahlen auf Regionalebene und auf Gemeindeebene hinfällig werden ließ, wurden die verschobenen Urnengänge gemeinsam für das Wochenende vom 19. und 20. bzw. für den 20. und 21. September 2020 anberaumt, wohl in der Hoffnung, dass damit das etwas wahlmüde Volk zahlreicher zu den Urnen auch des Verfassungsreferendums strömen würde.

 

Zum (partei)politischen Hintergrund

 

Die Reduzierung der Anzahl der Volksvertreter*innen ist ein Anliegen, das der Fünfsterne-Bewegung (MoVimento 5 Stelle) sehr wichtig ist. Entsprechend wurde dieses Ziel 2018 im „Vertrag für die Regierung des Wandels“ zwischen der Fünfsterne-Bewegung und der Lega Matteo Salvinis als Ziel des Koalitionsprogramms verankert. Dadurch sollte vor allem eine Kosteneinsparung für den schuldengebeutelten italienischen Staatshaushalt erzielt werden, aber auch die Arbeit des Parlaments effizienter und rascher gestaltet werden. Als weiteres zentrales Element der von der Koalition angestrebten Institutionenreform wurde die deutliche Stärkung der direkten Demokratie, auch durch die Einführung eines gesetzgebenden Referendums, vereinbart. Im Sommer 2019 kam es zu einem Wechsel in der Regierungskoalition unter Ministerpräsident Conte, die nunmehr aus der Fünfsterne-Bewegung und der Demokratischen Partei (Partito democratico) besteht und von Parlamentariern der linksgerichteten Liberi e Uguali und von Italia Viva des früheren Premiers Renzi mitgetragen wird. Auch diese Koalition zählt in ihrem Programm die Reduzierung der Parlamentarier unter ihren Zielen auf – obwohl die neuen Koalitionspartner in der parlamentarischen Behandlung bis zur Regierungsbeteiligung großteils gegen eine Reduzierung der Parlamentarier ohne weitere institutionelle Reformen eingestellt waren. Gleichzeitig wurde als Ausgleich für die Zustimmung der bisherigen Skeptiker der Start einer Wahlrechtsreform im Regierungsprogramm verankert, um das seit 2017 bestehende gemischte Wahlsystem (circa ein Drittel der Sitze werden im Mehrheitswahlsystem, der Rest mit Verhältniswahlsystem vergeben) zu ändern. Die Einführung verstärkter direktdemokratischer Elemente ist etwas verklausuliert durch das Ziel der Einführung von Instituten zur Wiederannäherung der Bürger*innen an die Institutionen verankert. In Folge stimmten in der zweiten Abstimmung in der Abgeordnetenkammer am 8. Oktober 2019 rund 88% der Parlamentarier zu, womit die Zweidrittelmehrheit erreicht wurde. Im Senat hingegen erreichte die Reform nur die absolute Mehrheit. Der paritätische Bikameralismus öffnete somit die Tür zur Beantragung eines Referendums, das von 71 Mitgliedern des Senats aus beinahe allen Fraktionen (bis auf die rechtsgerichtete Fratelli d’Italia und die Autonomiegruppe), vor allem aber von Parlamentariern von Forza Italia beantragt wurde.

Eine Reform des in der Verfassung von 1948 eingeführten sogenannten perfekten oder paritätischen Zweikammersystems Italiens ist allerdings kein neuer Gedanke. Zwei direkt gewählte, in ihren Befugnissen völlig gleichgestellte Kammern, die sich nur hinsichtlich des aktiven und passiven Wahlalters (18 bzw. 25 Jahre und 25 bzw. 40 Jahre), der Vorgabe der Wahl des Senats auf regionaler Basis sowie ihrer Zusammensetzung (nicht gewählte Senatoren auf Lebzeiten in Gestalt ehemaliger Präsidenten der Republik und von diesen ernannten Senatoren auf Lebzeiten) unterscheiden, führten seit den 1980er Jahren zu Reformüberlegungen und -vorschlägen. Zwei dieser Vorschläge wurden sogar im Rahmen umfassender Reformversuche durch die Regierung Berlusconi 2005 und durch die Regierung Renzi 2016 in Verfassungsgesetze gegossen. In beiden Fällen war die Reduktion der Parlamentarier jedoch von einer umfassenderen Reform des Aufbaus der italienischen Republik auch in Form einer Abkehr vom paritätischen Zweikammersystem begleitet. Insbesondere wäre der Senat in eine Vertretungskammer der nachgeordneten Gebietskörperschaften, insbesondere der Regionen, umgewandelt worden. Beide Reformen scheiterten an der Ablehnung durch die Wähler*innen im Rahmen von Verfassungsreferenden. Insbesondere die Ablehnung der Reform Renzi 2016 wurde dahingehend ausgelegt, dass aufgrund des Volkswillens zukünftige Reformen der Verfassung nicht mehr gesamthaft, sondern nur mehr in Teilschritten erfolgen könnten. Außer Acht gelassen werden bei dieser Interpretation allerdings einige politische Rahmenbedingungen dieses Referendum, insbesondere die enge Verknüpfung der Person des damaligen Ministerpräsidenten Renzi mit dem Erfolg oder Misserfolg der Volksabstimmung.

 

Die Gründe für das „Ja“

 

Als Gründe für die Reduzierung der Parlamentarier um 36,5% wird zunächst die Notwendigkeit einer Senkung der hohen Kosten genannt, die das Parlament mit seinen fast 1000 Parlamentariern verursacht. Gespart werden könne, so die Befürworter, rund 500 Millionen Euro pro Legislatur, allerdings weisen andere Zahlen auf ein weitaus geringeres Sparpotential von ca. 285 Millionen Euro hin, was 0,007 der öffentlichen Ausgaben entspricht.[1] Zudem gilt das Parlament aufgrund des durch das paritätische Zweikammersystem langen Gesetzgebungsverfahrens als ineffizient und zu langsam und deshalb auch aus dieser Perspektive als zu teuer. Weniger Parlamentarier, so der Gedankengang, würden nicht nur weniger kosten, sondern könnten auch rascher handeln, da weniger Mitglieder in vermutlich weniger Ständigen Ausschüssen weniger lang diskutieren und eher zu Mehrheiten finden würden. Manch einer hofft auch, dass sich die Parteien veranlasst sähen, für eine kleinere Anzahl von Sitzen besser qualifizierte Personen aufzustellen und damit die Qualität der Politik verbessert würde, was Hand in Hand mit einer nicht besonders hohen Meinung über das Modell der repräsentativen Demokratie geht, das die Verfassungsgebende Versammlung auch aufgrund der Erfahrungen mit dem Faschismus favorisiert hat. Für einige erscheint eine Zustimmung zur Reduzierung notwendig, weil eine Ablehnung als Bestätigung der mangelnden Reformfähigkeit des Parlaments gelten könnte. Andere sehen in einer Ablehnung der Reduzierung sogar eine Delegitimierung des Parlaments, dessen Entscheidung das Volk (schon wieder) nicht zustimmt. Als weiteres Argument wird vorgebracht, dass die repräsentative Demokratie keineswegs gefährdet sei, da sie auch durch die Wahlen zu den Regionalräten, die ebenfalls über Gesetzgebungsbefugnis verfügen, weiterhin ausreichend berücksichtigt sei. Zudem könnte ja im Zuge der Reform des Wahlrechts wieder ein reines Verhältniswahlrecht eingeführt werden, was auch kleinere Wählergruppen besser berücksichtigen würde.

 

Aber ist weniger tatsächlich mehr?

 

Weniger Parlamentarier kosten tatsächlich weniger – auch wenn sich die Einsparungen vermutlich vorwiegend auf die Bezahlung der Personen samt ihrer Taggelder beschränken würde, da die Aufgaben der beiden Kammern unangetastet paritätisch bleiben. Sollen aber auch die Ressourcen an Fachpersonal und -mitteln gekürzt werden, die für die Arbeit der Volksvertreter*innen erforderlich sind, führt dies jedenfalls zu einer Schwächung der Qualität der Arbeit des Parlamentes. Gerade weil sich nur die Anzahl der Parlamentarier ändert, das institutionelle Gefüge des parlamentarischen Regierungssystems und die Aufgaben des Parlaments aber gleich bleiben, erscheint diese Reform ohne einen umfassenderen Ansatz nicht zielführend. Zu den Aufgaben des Parlaments gehört nämlich neben der Gesetzgebung vor allem auch die Kontrolle der Regierungstätigkeit, entsprechend richtet sich Zahl und Aufgabenbereich der Ständigen Ausschüsse an den Aufgabenbereichen der Ministerien aus. Diese Aufsichtsfunktion ist umso wichtiger, wenn man bedenkt, dass die Gesetzgebungstätigkeit sehr häufig die Form von Akten mit Gesetzeskraft der Regierung annimmt, über die das Parlament eine Kontrolle auszuüben hat. Bedenkt man, dass in Zukunft gut ein Drittel weniger Parlamentarier diese Kontrolle vornehmen müssen, dürfte dies zu einer noch stärkeren Rolle der Regierung und einer Betonung des präsidentiellen Elements führen, was vielleicht auch intendiert ist.

Unzweifelhaft wird die Vertretungsfunktion des Parlaments beschnitten. Es gibt zwar keine Zahl, die ein ideales Verhältnis zwischen Wähler*innen und Gewählten vorgäbe, aber die Zahl von 151.210 (anstelle von 96.006) vertretenen Einwohnern in der Abgeordnetenkammer würde im europäischen Vergleich die höchste Zahl bedeuten, im Senat bedeutet der Anstieg von 192.013 auf 302.420 vertretenen Einwohner pro Mitglied den zweiten Platz im Kreis der direkt gewählten zweiten Kammern.[2] Als Folge kommt es wieder zu jenem, vom Verfassungsgerichtshof in seinem Urteil Nr.1/2014 als verfassungswidrig bezeichneten überzogenen Auseinanderklaffen zwischen der zentralen Rolle des Parlaments und dem Wählerwillen, der das wichtigste Instrument der politischen Beteiligung des Volkes ist.

Zudem wird die Diversität des politischen Spektrums in der Arbeit des Parlamentes sicherlich eingeschränkt, nicht nur, weil vermutlich weniger Beiträge in Form von Gesetzesinitiativen, Änderungsanträgen zu Regierungsvorlagen, Anfragen und Interpellationen oder Entschließungen zu erwarten sind, sondern weil die politische Opposition schlicht numerisch überfordert sein wird. Ohne grundlegende Überlegungen zur Stärkung des Status der Opposition im Parlament führt diese Reform zu einer eindeutigen Schwächung des demokratischen Elements.

Hinzu kommt, dass gerade diese Reform keinen Beitrag zur Beseitigung eines wesentlichen Defizits der italienischen Verfassung leistet: Obwohl die nachgeordneten Gebietskörperschaften, insbesondere die Regionen als Gesetzgeber in der Reform von 2001 aufgewertet wurden, fehlt ihnen nach wie vor eine umfassende Teilnahme an jenen gesamtstaatlichen Entscheidungen, die ihre Gesetzgebungssphäre und damit ihre politische Autonomie betreffen. Es handelt sich dabei durchwegs um Entscheidungen, in denen der Gesamtstaat die regionalen Befugnisse häufig einschneidend beschränkt, etwa durch die Ausübung seiner transversalen ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz im Bereich des Schutzes des Wettbewerbs oder seine Vorgaben im Bereich der Koordinierung der öffentlichen Finanzen, was zu Konfrontation führt, wo Kooperation und Koordination zielführender wären.

Vor dem Hintergrund des Fehlens eines organischen Reformprojekts erscheint die Reduzierung der Parlamentarier nicht als Gewinn für das italienische Verfassungssystem, sondern als oberflächliche Korrektur ohne tatsächlichen Mehrwert, schon gar nicht aus der Sicht des demokratischen Elements.


[1] Zahlen laut Osservatorio conti pubblici italiani, https://osservatoriocpi.unicatt.it/cpi-archivio-studi-e-analisi-quanto-si-risparmia-davvero-con-il-taglio-del-numero-dei-parlamentari (02.09.2020).
[2] Senato della Repubblica, Dossier 25.06.2019, S. 27 f.

 

Dieser Beitrag ist im Blog des Innsbrucker Instituts für Föderalismusforschung erschienen.

 

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Federico.Rossi Fr., 11.09.2020 - 11:30

Top Analyse. Da es sich also um eine "Wischi-Waschi" Reform handelt, stellt sich nun die Frage, emotional wählen, d.h. weniger gut bezahlte Faulenzer = Besser; oder rational überlegen, ob damit die demokratische Beteiligung (vor allem von Südtirol) auf nationaler Ebene eindeutig leiden wird... für mich, sehr schwere Entscheidung.

Fr., 11.09.2020 - 11:30 Permalink
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Karl Trojer Mo., 14.09.2020 - 10:06

Den Sinn des Referendums sehe ich darin, dass ein "ja" die Regierung von Conte unterstützt, und ein "nein" die Lega von Salvini und Meloni stärkt. Sicher muss einer Reduzierung von Parlamentariern eine effiziente Reform des Wahlgesetztes mit Änderung des Senats ähnlich dem Bundesrat der BRD folgen; ein "nein" aber, garantiert nicht mehr Demokratie und schiebt diese unerlässlichen Reformen auf die lange Bank...

Mo., 14.09.2020 - 10:06 Permalink