Chronik | Justiz

Zio Alfonso – Die Rechnung

Die Ermittlungen um die unlauteren Machenschaften innerhalb der Gerichtspolizei weiten sich zu einem Machkampf im Gerichtspalast aus. Der Hintergrund
Es ist keine alltägliche Verhandlung, die am Montagnachmittag vor Vorermittlungsrichter Emilio Schönsberg stattgefunden hat. Im Zentrum des Verfahrens steht ein Mann, der jahrelang die Bozner Staatsanwaltschaft geleitet hat, dann fast zehn Jahre lang Richter am internationalen Strafgerichtshof ICC in Den Haag war und derzeit als stellvertretender Generalstaatsanwalt in Mailand tätig ist: Cuno Tarfusser.
Der ehemalige Bozner Chefstaatsanwalt wird an diesem Tag vor Gericht von seinem Anwalt Francesco Coran vertreten. Es geht dabei keineswegs um eine Anklage, sondern im Gegenteil um eine Archivierung. Genauer gesagt um die Art und Weise, wie eine Ermittlung, die gegen Cuno Tarfusser seit rund zwei Jahren läuft, zu den Akten gelegt werden soll.
Wegen einer etwa einen Kilometer weiten Fahrt in einem Dienstfahrzeug ist der ehemalige Leitende Bozner Staatsanwalt, Cuno Tarfusser, ins Visier der Justiz geraten“, schreiben Südtirols Gerichtsberichterstatter unisono am Dienstag in ihren Zeitungen.
Das allgemeine Rechtsbewusstsein dürften hier zum klaren Schluss kommen, dass man einen hohen Vertreter der Südtiroler Justiz doch nicht wegen einer solchen Lappalie belangen kann. Es ist eine durchaus vertretbare Meinung, wenn man – wie in der Berichterstattung dieser Tage – diesen Vorgang im luftleeren Raum betrachtet.
 
 
Doch dieses Verfahren gegen Cuno Tarfusser ist in Wirklichkeit nur ein Strang in einem weit größeren Ermittlungskomplex, in dem es um viel mehr geht. Etwa um das ordnungsgemäße Funktionieren einer Staatsanwaltschaft, die Wahrung des Ermittlungs- und Dienstgeheimnisses und vor allem die Frage, ob sich Ermittlungsbeamte jahrelang über geltende Gesetze und Bestimmungen ungestraft hinwegsetzen können.
Es ist eine Art Clash of Cultures, der sich im Gerichtspalast längst zu einem Machtkampf ausgeweitet hat.
Es ist aber auch eine Art Clash of Cultures, der sich im Gerichtspalast längst zu einem Machtkampf ausgeweitet hat, der mit harten Bandagen geführt wird.
Deutlich wird das, wenn man den Hintergrund dieses Verfahrens betrachtet.
 

Das Pizza-Essen

 
Ausgangspunkt ist eine Geschichte, die Salto.bz vor eineinhalb Jahren enthüllt hat.
Am 29. Dezember 2017 findet in der Pizzeria „Zio Alfonso“ in der Bozner Drususstraße ein besonderes Mittagessen statt, bei dem Cuno Tarfusser seine alten Mitarbeiter aus der Staatsanwaltschaft zusammentrommelt.
Cuno Tarfusser, der fast 25 Jahre lang als Staatsanwalt tätig war und davon neun Jahre an der Spitze der Bozner Staatsanwaltschaft stand, hat im Gerichtspalast eine eingeschworene Gemeinschaft zurückgelassen. Auch heute noch redet er, wenn er über die Gerichtspolizei spricht, gerne von „meinen Buam“. Vor allem mit dem höheren Beamten der Gerichtspolizei, Mario Andreoli, verbindet Tarfusser eine enge Freundschaft. „Jack“, wie ihn Tarfusser nennt, war jahrzehntelang Tarfussers Chefermittler und rechte Hand. Als Tarfusser Oberstaatsanwalt wird, ernennt er Andreoli zum Amtsleiter. Der Carabiniere wird dieses Amt auch später unter Guido Rispoli und dem amtierenden Oberstaatsanwalt Giancarlo Bramante bekleiden. Eine ebenso enge Freundschaft besteht zu Pasquale Sgura, Brigadier der Gerichtspolizei, der seit vielen Jahren auch als offizieller Chauffeur der Bozner Chefstaatsanwälte tätig ist.
 
 
Es sind jene zwei Carabinieri-Beamten, die an diesem Tag Ende Dezember Cuno Tarfusser und Renzo Caramaschi in einem Dienstwagen der Staatsanwaltschaft am Sernesiplatz abholen und zur Pizzeria bringen. Dort ist ein halbes Dutzend weiterer Mitarbeiter der Gerichtspolizei anwesend. Tarfusser hatte den Bozner Bürgermeister kurz vorher telefonisch eingeladen. Nach dem Essen bringen die beiden Gerichtspolizisten den Bozner Bürgermeister im Dienstwagen wieder zurück zu seinem Arbeitsplatz in der Gemeinde Bozen.
 

Problem Tenti

 
Fast vier Monate später, am 6. April 2018, berichtet Salto.bz über das Pizza-Essen im „Zio Alfonso“. Der Grund ist eine Episode, die sich am Rande des Mittagsessens abgespielt hat. In der Pizzeria taucht auch Katja Tenti auf. Die ehemalige Abteilungsleiterin und rechte Hand des damaligen Wohnbau-Landesrates Christian Tommasini steht zu diesem Zeitpunkt wegen Amtsmissbrauch und Verletzung des Amtsgeheimnisses in Bozen vor Gericht. Sie wird zusammen mit Unternehmer Antonio Dalle Nogare später auch verurteilt werden.
Tarfusser und Tenti verbindet eine Freundschaft. So hören die Ermittler auch Telefongespräche ab, in denen Tenti Tarfusser ersucht, sich bei „seinen Männern in der Staatsanwaltschaft“ über jene Beamte zu informieren, die gegen sie ermitteln.
Der Ankläger im Verfahren gegen Tenti ist der leitende Staatsanwalt Giancarlo Bramante. Es dürfte verständlich sein, dass der Bozner Chefstaatsanwalt diese Rolle seines Vorgängers nicht goutiert und noch weniger die Vorstellung, dass sich leitende Ermittlungsbeamte mit der Angeklagten treffen.
 
 
Lange vor dem Salto.bz-Artikel sickern die Details des Essens bis in den Gerichtspalast durch. Giancarlo Bramante erklärt deshalb einige Wochen später Mario Andreoli, dass er sich keine weitere Zusammenarbeit mehr vorstellen könne. Der Chefstaatsanwalt lässt drei Beamte aus der Staatsanwaltschaft versetzen, darunter auch Tarfussers rechte Hand Mario Andreoli. Pasquale Sgura verlässt freiwillig die Gerichtspolizei. Beide sind seitdem im Carabinierikommando im Dienst.
Gleichzeitig beginnt an der Staatsanwaltschaft aber eine Ermittlung gegen mehrere Beamte der Gerichtspolizei. Es geht dabei um unerlaubte Nutzung der Dienstautos, Verletzung des Amtsgeheimnisses und um eine mögliche illegale Weitergabe von Daten aus den Datennetzen des Gerichts und der Polizei.
 

Die falschen Dienstfahrten

 
Diese Ermittlungen sind inzwischen formal abgeschlossen. Die ermittelnden Staatsanwälte Igor Secco und Andrea Sacchetti haben dabei Beweismittel zusammengetragen, die äußerst schwerwiegend erscheinen. Nach der Darstellung der Staatsanwaltschaft haben Mario Andreoli und Pasquale Sgura im Bozner Gerichtspalast jahrelang getan, was sie wollten und dabei augenscheinlich gegen die Bestimmungen und das Strafgesetz verstoßen.
Andreoli war in seiner leitenden Funktion auch für den Fuhrpark der Gerichtspolizei verantwortlich. Die Ermittler haben zwischen 2013 und 2017 60 Fahrten mit sieben verschiedenen Dienstautos nachgewiesen, die von Andreoli und Sgura zu rein privaten Zwecken gemacht worden sein sollen. Darunter Fahrten in Südtirol zu Trainingsspielen von Fußballmannschaften, zu Einkäufen oder Essen, aber auch Dutzende Fahrten nach Trient oder Verona. Dabei wurde auf der Autobahn natürlich auch der Telepass der Carabinieri verwendet.
Da es Vorschrift ist, für jede Fahrt ein Formular auszufüllen, hat man diesen „foglio firme“ und die vorgesehenen Eintragungen ins Matrikelbuch „memoriale di servizio“ in vielen Fällen gefälscht. So steht bei diesen Fahrten als Grund nicht nur „institutionelle Zwecke“, sondern man ist auch einen Schritt weitergegangen. Weil der extensive Gebrauch der Dienstwagen durch dieselben Beamten aufgefallen wäre, hat man in vielen Fällen kurzerhand andere Kollegen der Gerichtspolizei als Nutzer angegeben und deren Unterschrift gefälscht.
 
 
Durch den Vergleich der Dienstpläne, der GPS-Daten und der Telefondaten haben die Ermittler aber auch Dutzende von abgerechneten Überstunden nachgewiesen, die in Wirklichkeit nie abgeleistet worden sind. Ebenso konnte man beweisen, dass beide während der Arbeitszeit – als sie angeblich im Bozner Gerichtspalast zu tun hatten – in Wirklichkeit „blau“ machten. So war Andreoli etwa im Hotel des AS Roma, der in Reischach sein Trainingslager absolvierte, oder für private Zwecke in Verona oder Trient. Auch hier haben die Staatsanwälte über zwei Dutzend konkrete Fälle aufgelistet.
Bei einer Hausdurchsuchung stellte man zudem Falschgeld sicher, das ein Bozner Diskotheken-Besitzer an den leitenden Gerichtspolizisten übergeben hatte, das aber nie formal Eingang in die Akten der Staatsanwaltschaft fand. Andreoli hätte das Falschgeld abgeben müssen. Auch haben die Beamten etwa bei der Durchsuchung des Büroschreibtisches von Sgura im Carabinierikommando in der Bozner Dantestraße 9.000 Euro an Bargeld gefunden und beschlagnahmt. Der Brigadier erklärt, dass es sich um sein personlich erspartes Geld handle. Es gilt natürlich die Unschuldsvermutung.
Doch die Beweise gegen die zwei Ordnungshüter sind so erdrückend, dass die Staatsanwaltschaft demnächst die Einleitung des Hauptverfahrens gegen die beiden Carabinieri fordern wird.
Aber es gibt noch einen zweiten Ermittlungsstrang, der für die beiden Betroffenen weit schwerwiegender werden könnte.
 

Lukrative Nebenbeschäftigung?

 
Mitte September 2018 führt die Staatsanwaltschaft Trient eine spektakuläre Aktion durch. Bei der Operation mit dem Decknamen „Basil“ werden in Rom, Foggia und Bozen insgesamt 8 Angehörige verschiedener Polizeiorgane verhaftet und ebenso viele unter Hausarrest gestellt. In Bozen werden ein Angehöriger der Finanzwache und ein Ehepaar, beide bei der Staatspolizei tätig, verhaftet. 
Es geht um einen italienweit operierenden Ring von Beamten, die Daten und Erkenntnisse aus der überbehördlichen Datenbank von Polizei, Carabinieri und Finanzwache an Privatdetektive verkaufen. Die Beweislast ist so erdrückend, dass man auch die zwei Empfänger der bezahlten Daten verhaftet: den in Bozen tätige Privatdetektiv Mauro Delmarco und den Inhaber der Agentur Matrix in San Martino Buonalbergo bei Verona, Matteo Zamboni.
Matteo Zamboni und seine Agentur Matrix tauchen auch in dieser Ermittlung gegen Andreoli & Co auf. So können die Ermittler mehrere Treffen des Gerichtspolizisten mit Zamboni belegen. Die Auswertung des Telefonverkehrs hat in den letzten eineinhalb Jahren 94 Telefongespräche und 14 SMS zwischen dem Luogotenente und der Zamboni-Agentur „Matrix“ ergeben. Zudem wird in den Ermittlungsakten nachgewiesen, dass Mario Andreoli für die Agentur Matrix in der Nähe von Bozen auch einen fotografischen Auftrag erledigt hat. Der Gerichtspolizist hat dafür sogar eine Überstunde in seinem Dienstplan eingetragen und abgerechnet.  
Vor diesem Hintergrund geht die Bozner Staatsanwaltschaft davon aus, dass sich der leitende Carabinieri – ähnlich wie seine vor zwei Jahren verhafteten Kollegen - hier ein privates Zubrot verdient haben könnte. Erhärtet wird dieser Verdacht durch die Zugriffe auf das Informationssystem '“SICP - Sistema Informativo della Cognizione Penale“, in dem alle sensiblen Gerichtsdaten gespeichert werden. Die Ermittlungen der Gerichtspolizei ergaben, dass es hier immer wieder zu Abfragen gekommen ist, die kaum im Zusammenhang mit der Arbeit am Landesgericht stehen sollen.
Nach Informationen von Salto.bz wurden dabei auch Abfragen zu amtierenden und ehemaligen Staatsanwälten und Richtern am Bozner Landesgericht getätigt. Damit aber musste die Staatsanwaltschaft Bozen diesen Ermittlungsstrang aus Befangenheitsgründen an die Staatsanwaltschaft Triest abgeben. Dort laufen die Ermittlungen noch.
 

Tarfussers Archivierung

 
Im Bozner Verfahren wurde aber auch ein zweiter Ermittlungsbereich abgetrennt. Es geht um die Position von Cuno Tarfusser. Dem damaligen ICC-Richter und amtierenden stellvertretenden Generalstaatsanwalt von Mailand wird "Amtsunterschlagung für den vorübergehenden Gebrauch" ("peculato d´uso") vorgeworfen. Es geht dabei vordergründig um die unberechtigte Nutzung des Dienstfahrzeuges anlässlich des Essens bei „Zio Alfonso“. Aber nicht nur.
 
 
Die Staatsanwaltschaft ist bei ihren Ermittlungen auch auf mehrere Vorgänge zwischen Mario Andreoli und Cuno Tarfusser gestoßen, die man genauer untersucht hat. „Die Ermittlungen haben ein Bild ergeben, das man mit der Bezeichnung einer dauernden Unterwürfigkeit (stabile asservimento) vonseiten des Luogotenente Mario Andreoli gegenüber Dr. Cuno Tarfusser beschreiben kann“, schreiben Igor Secco und Andrea Sacchetti in ihrem Abschlussbericht. Und weiter: „Die Kontakte zwischen den beiden erfolgen nur zu Anlässen, bei denen es um die Erledigung persönlicher Anliegen von Cuno Tarfusser oder seines Umfeldes geht“.
Die Staatsanwälte belegen diesen harten Vorwurf durch Fakten aus den Ermittlungen:
 
  • E-mails, in denen Tarfusser Andreoli ersucht, sich um zwei verschiedene Fälle von Führerscheinentzug aus seinem Bekanntenkreis zu kümmern;
  • Eine E-Mail, in der Tarfusser Andreoli um Informationen zu einem laufenden Strafverfahren bittet;
  • das Ersuchen, dass Andreoli im Büro der Gerichtspolizei private Skripte für Tarfusser ausdruckt oder bei einem Speditionsunternehmen ein Paket für den ICC-Richter abholt;
  • ein Schreiben, in dem Tarfusser einem Bürger erklärt, dass er den Strafantrag unbedingt bei Andreoli („einen Mann meines absoluten Vertrauens“) hinterlegen soll und gleichzeitig dessen Dienstplan und Handynummer mitteilt;
 
Es sind je nach Standpunkt lässliche Verfehlungen oder rechtswidrige Handlungen.
Igor Secco und Andrea Sacchetti fassen ihren bekannten Vorgänger keineswegs mit Samthandschuhen an. Die Staatsanwälte kommen im Abschlussbericht zu ihren Ermittlungen aber zum Schluss, dass die Beanstandungen nicht zur Einleitung eines Verfahrens gegen Cuno Tarfusser ausreichen.
Sie  beantragten deshalb vor sechs Wochen bei Voruntersuchungsrichter Emilio Schönsberg die Einstellung des Verfahrens gegen Tarfusser. Mit einer Begründung, die man auch als eine Art Revanchefoul ansehen kann: „Einstellung des Verfahrens wegen besonderer Geringfügigkeit“ (per particolare tenuità del fatto). Dieser Artikel 131-bis wurde erst vor wenigen Jahren ins Strafgesetzbuch eingeführt und hat eine Besonderheit: Diese Einstellung des Verfahrens wird ins Strafregister aufgenommen.
Ein Staatsanwalt kann sich das aber nicht leisten. So hat Cuno Tarfusser gegen die Archivierung berufen. Er fordert über seinen Anwalt Francesco Coran, der übrigens auch der Anwalt von Mario Andreoli ist, die Einstellung des Verfahrens, weil die Straftat nicht bestehe.
Voruntersuchungsrichter Emilio Schönsberg wird in den nächsten Wochen darüber entscheiden.
Unabhängig von diesem Urteil wird der Konflikt aber noch lange nicht beigelegt sein. Denn Cuno Tarfusser hat in diesem Verfahren bei Voruntersuchungsrichter Schönsberg einen 35 Seiten langen Verteidigungsschriftsatz hinterlegt, der einer Anklageschrift gegen seine Ankläger gleichkommt und einen Frontalangriff auf den leitenden Bozner Staatsanwalt Giancarlo Bramante beinhaltet.
Spätenstens damit aber scheint der Machtkampf im Palazzo zu eskalieren.
 
Lesen Sie morgen: Cuno Tarfusser Sicht der Dinge, seine Anklage sowie der Frontalangriff auf Oberstaatsanwalt Giancarlo Bramante.
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F M Do., 05.11.2020 - 12:40

Kleine Korrektur: „Dieser Artikel 131-bis wurde erst vor wenigen Jahren in die Strafprozessrordnung eingeführt“. Artikel 131-bis, welcher sich mit der besonderen Geringfügigkeit beschäftigt, befindet sich im Strafgesetzbuch und nicht in der Strafprozessordnung (die strafprozesslichen Bestimmungen der Archivierung wegen besondere Geringfügigkeit sind - unter anderem - durch Artikel 411 comma 1 bis der Strafprozessordnung geregelt).

Do., 05.11.2020 - 12:40 Permalink