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Basic needs vs. ...

... Tussen kunst en quarantaine. Ein Gastbeitrag von Henry Keazor aus der aktuellen Nummer der Zeitschrift Kulturelemente.
Kulturelemente
Foto: Kulturelemente 154

Am 14. Juni 2020 veröffentlichte die „Sunday Times Singapore” das Ergebnis einer Umfrage, welche die ortsansässige, auf KonsumentInnen-Erhebungen spezialisierte Firma „Milieu Insight“ durchgeführt hatte. Dabei wurden 1000 Personen über 16 Jahre nach deren Meinung bezüglich „essential“ und „non-essential jobs“ befragt und sind gebeten worden, innerhalb einer Liste von Berufen ein entsprechendes Ranking vorzunehmen. Die Veröffentlichung der Ergebnisse sorgte sofort für heftige Reaktionen: Auf Platz 1 der „essential jobs“ rangierte mit 86% medizinisches Personal; auf der Liste der „non-essential jobs“ standen dem mit 71% KünstlerInnen als Spitzenreiter gegenüber. Zwar wurde nirgendwo innerhalb der Veröffentlichung ein direkter Bezug zur Corona-Pandemie artikuliert, jedoch der Zeitpunkt sowohl der Befragung als auch der Veröffentlichung legt einen solchen Zusammenhang natürlich nahe. Auch die kritischen Stellungnahmen zu den Ergebnissen der Umfrage bezogen sich alle auf die Rolle von kreativ Tätigen während der Pandemie, die sie im Unterschied zu den Resultaten der Studie als offenbar sehr viel positiver empfanden als dort repräsentiert: Der singapurische Schauspieler und Komiker Rishi Budhrani z.B. kommentierte das Negativ-Ranking der KünstlerInnen auf seiner Facebook-Seite mit dem Hinweis, dass ganz Singapur als logische Konsequenz daraus einmal den Versuch unternehmen solle, künftig auf sämtliche Medien und die dort bereitgestellten kreativen Inhalte (Musik, Filme, Literatur etc.) zu verzichten, wenn man tatsächlich der Meinung sei, dass deren UrheberInnen „non essential“ seien. Diese provokante Aufforderung nahm sich natürlich im Kontext der gerade erlebten Quarantäne, wo die entsprechenden Online-Formate oftmals die einzige Möglichkeit zu intellektueller Auseinandersetzung und Unterhaltung dargestellt hatten, besonders prägnant aus. Angesichts der massiven Reaktionen auf das Ergebnis der Umfrage fühlte sich „Milieu Insight“ schließlich sogar dazu angehalten, beschwichtigende Erklärungen in Bezug auf Format und Profil der gestellten Frage nachzuliefern. Diese machten freilich nur noch deutlicher, dass hier künstlerische Berufsfelder auf wenig sinnvolle Weise gegen andere Tätigkeiten ausgespielt worden waren, denn die Frage nach den „essential workers“ definierte diese als: „someone who is engaged in work deemed necessary to meet basic needs of human survival and well-being“ (also: jemand, der sich in einer Arbeit betätigt, die notwendig ist, um die Grundbedürfnisse menschlichen Überlebens und Wohlbefindens zu sichern). Die Möglichkeit, unter Letzterem eventuell auch psychische und intellektuelle Gesundheit zu verstehen, die von Kunst und Kultur als (wie dies die deutsche Kulturstaatsministerin Monika Grütters Anfang Mai 2020 formuliert hatte) „unverzichtbarem Nahrungsmittel“ im übertragenen Sinn gepflegt wird, wurde durch den weiteren, präzisierenden Zusatz ausgeschlossen, dass mit den „basic needs“ ganz konkret Dinge wie „food, health, safety and cleaning“ gemeint seien, also Nahrung, Gesundheit, Sicherheit und Sauberkeit. Somit wurden hier also zwei je äußerst wichtige Berufsfelder miteinander konfrontiert, die eigentlich eher als sich wechselseitig ergänzend nebeneinandergestellt gehören, denn wo die einen die physische Gesundheit gewährleisten, reagieren die anderen auf ganz andere, aber ebenfalls vitale Bedürfnisse des Menschen.
Welche ganz konkreten Formen eben dies in den Wochen der Quarantäne hatte, soll im Folgenden anhand einiger Beispiele gezeigt werden.
In dieser Phase setzten sich tatsächlich sehr viele, dabei offenbar durchaus nicht zwingend kunstaffine Menschen, international auf zunächst privater Ebene intensiv mit Werken der Bildenden Kunst auseinander. Einer der Auslöser war dabei u.a. die die holländische Büroangestellte Anneloes Officier, die am 14. März 2020 eine Instagram-Challenge unter dem Namen „Tussen kunst en quarantaine“ (also: Zwischen Kunst und Quarantäne) ausrief. NutzerInnen sozialer Medien wurden hier dazu herausgefordert, berühmte Werke der Kunstgeschichte zu Hause nachzustellen, die Ergebnisse zu fotografieren und dann online zu teilen, wo sie, den Vorlagen vergleichend gegenübergestellt, präsentiert wurden. Einzige Regel war, dass die Anwendung von Bildbearbeitungsprogrammen wie z.B. Photoshop verboten war und bei der Nachstellung der Werke drei Alltagsgegenstände verwendet werden mussten. Die Ergebnisse der Re-Inszenierung wurden dadurch zugleich zu Dokumenten einer „Corona-Ikonographie“, denn in vielen der nachgestellten Werke erscheinen wegen der Vorgabe der drei Haushaltsgegenstände für die Krise typische Objekte, wie das zunächst hamstergekaufte Toilettenpapier sowie die uns nach wie vor begleitenden Mund- und Nasenschutz-Masken, Gummihandschuhe und Desinfektionsmittel. 
Diese Challenge löste rasch einen unerwarteten internationalen Boom aus, der zunächst verwundern mag. Denn solche, sich in die Tradition des bereits im 18. Jahrhundert sehr populären „Lebenden Bildes“, des „Tableau vivant“, einschreibenden modernen Initiativen, bei denen Menschen Kunstwerke nachstellen, hatten schon zuvor existiert, jedoch keinen solchen Zuspruch erfahren: Die sich im Feld der Kunst engagierende britische Wohltätigkeitsorganisation „Culture 24“ hatte z.B. bereits 2014 das preisgekrönte und von der EU geförderte Online-Projekt „VanGoYourself“ ins Leben gerufen, bei dem NutzerInnen ebenfalls dazu angeregt werden, Kunstwerke nachzustellen. Allerdings muss man sich dort aus einer Liste an vorgegebenen Werken eines aussuchen, während Officiers Initiative diesbezüglich keinerlei Vorgaben machte. Vor allem aber scheint ihre Instagram-Challenge zur richtigen Zeit lanciert worden zu sein und damit einen Nerv getroffen zu haben. So bot die Initiative zum einen die Möglichkeit, zur Zerstreuung und Bewältigung von Langeweile zu Hause kreativ zu sein. Darüber hinaus schien den sich beteiligenden NutzerInnen so offenbar auch eine Art von Handlungsmacht gegeben, sich mit der sonst von ihnen als sie überwältigendes Phänomen erlebten Krise und Quarantäne aktiv auseinanderzusetzen. Hiervon zeugt auch der Einbezug der erwähnten Corona-typischen Objekte, mit denen die nachgestellten Kunstwerke auf die eigene Situation der NutzerInnen hin aktualisiert wurden. Diese z.T. ausgesprochen originellen und intelligenten Neu-Interpretationen der re-inszenierten Werke macht zugleich deutlich, dass die InterpretInnen sich recht intensiv mit den Vorbildern auseinandergesetzt hatten – obwohl bzw. gerade, weil sie wegen der geschlossenen Museen und Sammlungen nicht direkt zugänglich waren. 
Diese zunächst also von Privaten gestartete und international auf breite Beteiligung stoßende Initiative wurde in der Folge sowohl von anderen Privatleuten wie jedoch auch Firmen und Institutionen aufgegriffen: So startete das Getty-Museum in Los Angeles vier Wochen nach „Tussen kunst“ eine identische „Challenge“, um auf diese Weise sein Publikum trotz der geschlossenen Sammlungen an sich zu binden: Ganz nach dem Vorbild von Officiers Initiative rief man dazu auf, berühmte Kunstwerke zu Hause nachzustellen, sich dabei zu fotografieren und das Ergebnis einzusenden, das dann ebenfalls Seite an Seite mit dem re-inszenierten Vorbild online ausgestellt wurde. 
Über Officiers „Tussen kunst“-Initiative war in den Medien u.a. in Filmen berichtet worden, bei denen die während der Lockdowns nachgestellten Kunstwerken mit Musik unterlegt vorgestellt wurden. Eben dieses Clip-Format lieferte sodann das Vorbild für Kurzfilme wie einem von dem auf Zypern ansässigen, unabhängigen Digitalstudio „TheSoul Publishing“ produzierten und auf ihrer „5-Minute-Crafts”-Website veröffentlichten Video. Anders als die Challenge-Accounts von Officier und dem Getty-Museum zeigt es nicht nur die nachgestellten Kunstwerke Seite an Seite mit deren Vorbildern, sondern inszeniert mit Hilfe von SchauspielerInnen auch typische Szenen der Corona-Quarantäne nach, aus denen die nachgestellten Kunstwerke sodann mehr oder weniger wie aus Zufall heraus zu entstehen scheinen. 


Hierbei weisen die sich so formierenden Bilder stets einen Zusammenhang zu den Herausforderungen der Quarantäne-Isolation auf: So führt z.B. die Szene mit einem wegen der räumlichen Beengtheit sichtlich voneinander genervten Paar fast übergangslos zu einer – unblutigen – Nachstellung der „Enthauptung des Holofernes“ des Barockmalers Caravaggio, während die Darstellung einer sich während der Quarantäne mit Essen vollstopfenden jungen Frau unwillkürlich in der wie beiläufigen Re-Inszenierung des berühmten Gemäldes der sich ertränkenden „Ophelia“ des britischen Künstlers John Everett Millais von 1851/52 mündet. 
Neben dem Kontrast zwischen den an und für sich oftmals ernsten, würdigen tragischen oder gewalttätigen Themen der Gemälde und deren Genese aus typischen Corona-Lockdown-Momenten heraus, aus denen die Szenenfolge ihre humoristische Wirkung bezieht, ist ihr zudem ein gewisses Spannungspotential eigen, denn da nicht unmittelbar absehbar ist, in welchem Kunstwerk der jeweilige Moment kulminieren wird, besteht die Möglichkeit, zu raten, welches Gemälde wohl am Ende der jeweiligen Sequenz re-inszeniert worden sein wird.
Dass hinter dem Ganzen – neben dem Spaß an der Verkleidung – auch das offensichtliche Bedürfnis wie auch die gewährte Möglichkeit stand, scheinbar altbekannte Kunst zur eigenen Situation aktualisierend in Beziehung zu setzen und so neu zu sehen, wird anhand von wiederum in ganz anderen Kontexten geschaffenen Kreationen deutlich, bei denen Kunstwerke nicht nachgestellt, sondern gleich direkt deren Reproduktionen entsprechend neu und der Corona-Situation angepasst uminterpretiert werden. Dies geschieht einmal durch simple Beischriften, die dem Ganzen eine neue, auf die Umstände der Pandemie gemünzte Bedeutung geben, oder durch digitale Eingriffe in die Werke. Auch hier waren audiovisuelle Formate für die Verbreitung wieder maßgeblich wie ein Clip zeigt, der von der spanischen Ausstattungs-Firma Friking veröffentlicht wurde, der nicht nur Kunst zur Illustration der verschiedenen Stadien, Verhaltensregeln und Folgen von Corona adaptierte, sondern auch in dem Aufruf „Quédate en casa“ (also: Bleibt zu Hause) mündete.
Noch unvermittelter erzieherisch waren eine von der ukrainischen Designfirma entworfene Serie von Plakaten, bei denen Werke der Renaissance-Künstler Raffael und Leonardo, des französischen Revolutionsmalers Jacques-Louis Davids oder des belgischen Surrealisten René Magrittes dahingehend digital manipuliert wurden, dass anhand ihrer nun die Notwendigkeit, sich regelmäßig die Hände zu waschen, Vorräte anzulegen, persönlichen Kontakt durch Online-Bestellungen zu reduzieren oder einen Mund-und-Nasenschutz zu tragen illustriert wird. 
Eine weniger ins Instruktive gehende Spielart stellen schließlich unzählige, online geteilte Adaptionen berühmter Portraits und Selbstportraits der Kunstgeschichte dar, denen mit Hilfe der Digitaltechnik Mund-und-Nasenschutz aufgesetzt wurde, wobei interessanterweise bestimmte Motive besonders beliebt waren, so z.B. die Selbstportraits von Vincent Van Gogh und Frida Kahlo bzw. Leonardos „Mona Lisa“. 
Selbst durch die Corona-Pandemie notwendige Maßnahmen wie das „Social Distancing“ wurden auf Kunstwerke angewendet, indem z.B. deren Bildpersonal mit Hilfe digitaler Technik reduziert bzw. die Figuren in einen größeren Abstand voneinander gerückt wurden. Gerade anhand von berühmten Gemälden christlicher Thematik wie z.B. Leonardos „Abendmahl“ oder insbesondere Michelangelos „Erschaffung Adams“ konnten so auch die Folgen der Corona-Krise für das menschliche Miteinander besonders drastisch veranschaulicht werden: In der Neuinterpretation des „Abendmahl“ sitzt Jesus einsam am Tisch, während sich seine Jünger nur über eine Videokonferenzplattform zuschalten, und in der aktualisierten Variante der Erschaffung Adams muss Gott sich von seinem gerade geschaffenen Geschöpf fernhalten bzw. sich vor ihm mit Schutzanzug, Atemmaske und Desinfektionsmittel absichern.
In einigen Fällen waren sogar gar keine digitalen Eingriffe nötig: Die Bilder des modernen amerikanischen Malers Edward Hopper mit ihren isolierten Menschen und z.T. menschenleeren Stadtansichten wurden nun plötzlich mit ganz anderen Augen, nämlich als gemalte Entsprechungen der Lockdown- und Quarantäne-Erfahrungen, angeschaut.
Aktuell haben HistorikerInnen damit begonnen, als besonders typische empfundene Gegenstände der Corona-Krise zu sammeln, um so das Alltagsleben mit der Pandemie zu dokumentieren. Was von ihnen dabei bislang nicht in den Blick genommen wurde, sind die hier stellvertretend für unzählige weitere Beispiele vorgestellten Auseinandersetzungen, Adaptionen, Bearbeitungen und Re-Inszenierungen von Kunstwerken. Bereits sie zeigen jedoch, wie wichtig, „essential“, Kunst offenbar für die Menschen auch und gerade in dieser Krise war und ist. Und angesichts dessen wird deutlich, dass deren UrheberInnen nicht gegen andere Berufe ausgespielt werden sollten.

Salto in Zusammenarbeit mit Kulturelemente