Gesellschaft | salto Gespräch

“Ich fühle mich immer als Heldin”

Als Intensiv-Krankenpflegerin erlebt Barbara Holzgethan die Corona-Krise so nah mit wie kaum jemand. Wie sie ihre Arbeit meistert – und was sie nachdenklich stimmt.
Barbara Holzgethan
Foto: Salto.bz

Ihres ist eines der vielen Gesichter, die man seit Monaten nicht sieht. Von Maske, Schutzbrille und Kunststoffkittel verdeckt, arbeitet Barbara Holzgethan seit Beginn der Corona-Krise dort, wo sie sonst auch wirkt: auf der Intensivstation im Krankenhaus Meran. Die 44-Jährige hat erst relativ spät ihre Berufung gefunden: Mit Ende 20 beschließt sie, Krankenpflegerin zu werden. Wenn sie von ihrer Arbeit spricht, blitzen ihre Augen auf. Trotz aller Strapazen, die sie in der letzten Zeit erlebt hat.

salto.bz: Frau Holzgethan, warum sind Sie Krankenpflegerin geworden?

Barbara Holzgethan: Ich habe die Berufsfachschule für Steinbearbeitung in Laas besucht und danach drei Jahre Geologie an der Universität Innsbruck studiert. Ich hatte mir immer vorgestellt, die Vulkane der Welt zu erforschen. Es sollte aber nicht so kommen. Dadurch, dass ich immer viel mit Steinen zu tun hatte, fehlte mir irgendwann das Menschliche. Deshalb habe ich mich für die Krankenpflege entschieden. Ich bin froh darüber. Nach wie vor.

Seit 2009 arbeiten Sie im Krankenhaus Meran, seit 2011 auf der Intensivstation. Wie kann man sich die Arbeit einer Krankenpflegerin dort vorstellen?

Dort liegen schwer kranke Patienten, die zumeist stark von Maschinen abhängen, die man zu bedienen lernt. Man betreut weniger Patienten, als auf Normalstationen. Wir versorgen normalerweise zwei, höchstens drei Menschen pro PflegerIn. Und bei dreien kann man schon ordentlich ins Schwitzen kommen. Denn man pflegt diese Patienten z.T. anders als auf anderen Abteilungen: Körper- und Mundpflege, Wundversorgung, Verabreichung von Medikamenten über Spritzenpumpen, bei der höchste Aufmerksamkeit geboten ist – der Patient könnte bei der kleinsten Fehldosierung sterben. Dazu kommt bei allen Intensivpatienten die individuelle Ernährung, sie müssen abgesaugt werden und tragen alle einen Blasenkatheter. Und jeder Patient hängt voller Kabel. Als ich in die Intensivstation gekommen bin, war ich beeindruckt: Man muss die Patienten ja hin und her drehen, damit man sie waschen kann. Die Herausforderung ist, dabei keinen Kabel rauszureißen. Man kann sich das gar nicht vorstellen, wenn man das noch nie gesehen hat.. Das merke ich immer wieder bei den Angehörigen, wenn sie zum ersten Mal ins Zimmer kommen und geschockt sind, wenn sie all die Kabel sehen. Und der Patient ist umgeben von Geräten, es piepst überall.

Die anfängliche Belastung und Ungewissheit waren sehr groß

Wie hat sich Ihre Arbeit im Frühjahr 2020 verändert, sobald klar war, dass auch Südtirol und seine Krankenhäuser auf das Coronavirus reagieren müssen?

Die größte Veränderung war bzw. ist all die Schutzkleidung, die wir anziehen müssen. An der Arbeit an sich hat sich nicht so viel geändert. Man betreut immer noch schwer kranke Menschen. Nur hat man es jetzt durchgehend mit demselben Krankheitsbild zu tun, und fast alle Patienten haben dieselben Probleme. Normalerweise hat man Patienten mit unterschiedlichen Erkrankungen. Jetzt sind alle gleich, weil sie alle die gleiche Krankheit haben. Das macht es (macht eine Pause) manchmal ein bisschen leichter, weil man schon viel Erfahrung hat. Auch den ÄrztInnen. Inzwischen gibt es bestimmte Standards, was wann zu tun ist. Andererseits sind diese Patienten z.T. so schwer krank und zur Zeit eben so viele gleichzeitig, dass es eine tägliche Herausforderung ist, sie zu pflegen und zu behandeln.

Welche Symptome, welche Probleme haben Ihre Covid-Patienten?

Bei Covid-Patienten, die auf der Intensivstation landen, geht es vor allem um das Atmen, weil die Lunge betroffen ist. Konkret geht es um den Gasaustausch von Sauerstoff und Kohlendioxid in der Lunge. Mindestens alle sechs Stunden wird eine Blutprobe gemacht, um den Gasaustausch und andere wichtige Parameter im Blut im Auge zu behalten. Es muss entschieden werden, wie der Patient beatmet wird, welche Medikamente er braucht, ob er auf den Bauch gedreht werden muss. Diese Patienten müssen ja ganz oft auf den Bauch gedreht werden.

Warum?

Das war bereits vor Covid so, bei Patienten, die große Probleme mit dem Gasaustausch in der Lunge haben und ganz schlecht atmen: Wenn man ständig auf dem Rücken liegt, wird durch die Schwerkraft der vordere Teil der Lunge besser beatmet, weil der Sauerstoff in der Lunge nach oben steigt. Damit der hintere Teil der Lunge auch belüftet wird, dreht man die Patienten auf den Bauch. Das ist gang und gäbe und wird bei fast jedem Patienten gemacht. Wir drehen sie für mehrere Stunden auf den Bacuh und dann wieder zurück. Manche brauchen das öfters, manche nur einmal. Um einen Patient auf der Intensivstation, mit all seinen Kabeln, Zugängen und Kathetern in Bauchlage zu bringen, sind bis zu fünf Personen nötig. Wir müssen sehr vorsichtig sein, es ist sehr anstrengend und der Patient muss sehr gewissenhaft gelagert werden, um Druckstellen zu vermeiden.

Ich befürchte, dass wir uns nach dem Massentest durch ein negatives Testergebnis zu sicher fühlen und nachlässig werden

Sind diese Patienten ansprechbar? Können Sie mit Ihnen kommunizieren?

Anfangs ist der überwiegende Teil der Patienten im künstlichen Tiefschlaf, mit Medikamenten sediert und maschinell beatmet. Denn den Tubus – ein Schlauch der über den Mund in die Luftröhre eingeführt wird – toleriert man ohne Sedierung kaum. Sie werden künstlich ernährt, regelmäßig abgesaugt und benötigen jede Menge Medikamente. Mit der Zeit, wenn sie sich bessern, nimmt man die Sedierung zurück, wartet bis sie wach sind und entfernt den Tubus. Manche, vor allem jüngere Leute, schaffen es, selbst zu atmen. Bei manchen aber geht das nicht so einfach. Die Lunge war so lange so krank und durch die Maschine unterstützt, dass sie es nicht schaffen ohne Unterstützung selbstständig zu atmen. Die Patienten werden ja auch sonst ganz kraftlos. Wenn sie nicht ausreichend atmen, gibt es nichtinvasive Beatmungshilfen. Dabei erhält der Patient eine Gesichtsmaske oder einen Helm, ähnlich einem Astronauten, mit dem durch Überdruck eine Unterstützung der Atmung erfolgt. Ist dies nicht ausreichend, muss eine Tracheotomie durchgeführt werden, ein Luftröhrenschnitt, bei dem eine Kanüle zum Atmen kurz unterhalb der Kehle eingeführt wird. Der Vorteil dabei ist, dass diese auch ohne Sedierung gut vertragen wird, also nicht übermäßig stört. Die Patienten können essen und trinken, über ein Sprechventil reden und langsam von der Beatmungsnaschine entwöhnt werden.

Wie ist der Moment, wenn jemand aus dem künstlichen Tiefschlaf geholt wird?

Die Patienten reagieren ganz verschieden. Manche wachen auf, man entfernt den Tubus und sie sind ziemlich schnell voll da. Bei anderen zeigt sich ein Durchgangssyndrom. Sie sind verwirrt, wissen nicht was mit ihnen geschieht, sind manchmal auch agressiv. Das kann für uns PflegerInnen sehr belastend sein. Grundsätzlich gilt: Je kürzer ein Patient intubiert war, desto besser. Wenn ein Patient extubiert oder tracheotomiert wird, wird die Arbeit für uns strenger. Denn dann kommen Tätigkeiten dazu wie Essen eingeben, sie aus dem Bett heraussetzen, mobilisieren und mit ihnen sprechen. Das ist nicht zu unterschätzen. Oft verstehe ich den Patienten nicht. Am Anfang muss man nur Lippenlesen und erraten, was sie wollen, bis sie ein Sprechventil an der Kanüle erhalten, und wieder reden können.

Ich bin oft entsetzt, wirklich entsetzt und zornig, über das, was auf den sozialen Medien abgeht

Wie müssen Sie sich ankleiden bzw. ausrüsten wenn Sie sich auf die Covid-Station begeben?

Das war, wie gesagt, völlig neu. Vor Covid hatten wir manchmal isolierte Patienten mit bestimmten Keimen, doch auch bei diesen muss man sich nie so anziehen. Vor der “schmutzigen Zone”, wie die Bereiche genannt werden, in denen Infizierte betreut werden, liegt auf einem Tisch oder Regal das gesamte Material: Zuerst ziehe ich mir die Handschuhe über, danach entweder einen Kittel oder Vollkörperanzug, je nach dem was gerade zur Verfügung steht, dann spezielle Schuhe, die desinfiziert werden können, darüber Überschuhe. Sobald ich den Anzug anhabe, ziehe ich ein zweites Handschuhpaar an, das ich mit Klebeband am Ärmel befestige. Danach kommt der Haarschutz, dann das dritte Handschuhpaar – jenes, das ich jedes Mal wechsle, nachdem ich bei einem Patienten war. Die anderen beiden Paare behalte ich immer an, aber desinfiziere sie immer wieder. Mit drei Paar Handschuhen übereinander zu arbeiten schränkt das Feingefühl in den Fingern erheblich ein. Dann wechsle ich meine chirurgische Maske, die ich sowieso immer trage, mit einer FFP3-Maske und setze noch eine Schutzbrille oder ein Visier auf. Kaum ein Stück Haut bleibt unbedeckt.

 

Wie lange arbeiten Sie so?

In Meran sind pro Turnus acht PflegerInnen eingeteilt, von denen sechs in die “schmutzige Zone” gehen, zwei bleiben in der “sauberen Zone”. Morgens, wenn ich um 7 Uhr beginne, bin ich nach der Übergabe bis mittags drin. Dann mache ich eine Pause, um etwas zu essen und vor allem zu trinken. Am Nachmittag arbeite ich, je nach Arbeitsaufwand, nochmals bis zu 4 Stunden in voller Schutzausrüstung. Nach so vielen Stunden in voller Schutzausrüstung ist man sehr müde und hat oft Druckstellen von der eng anliegenden Maske. In der Zeit, wo wir eingeschleust sind, also in der “schmutzigen Zone” arbeiten, können wir nichts essen, nichts trinken und nicht zur Toilette gehen – außer wenn es  wirklich dringend ist. Dann musst man alles aus- und danach neu anziehen. Und es ist immer noch stark in unseren Köpfen drin, dass wir ja nicht zu viel von dem Material verschwenden dürfen. Dabei ist die Situation nicht mehr so dramatisch wie in der ersten Welle.

Es gibt genügend Schutzausrüstung?

In der ersten Welle haben wir penibel darauf geachtet, nur zwei FFP3-Masken pro Tag und Person zu brauchen. Jetzt ist es nicht mehr so dramatisch. Wenn man unbedingt auf die Toilette muss, geht das. Zum Trinken aber geht niemand raus. Mir ist passiert, dass ich nach sechs Stunden kaum mehr reden konnte, weil ich so großen Durst hatte. Und man schwitzt, man schwitzt extrem! Die Arbeit ist ja auch körperlich fordernd, zum Beispiel kommt es vor, dass man jemanden mit starkem Übergewicht lagern muss. Das ist äußerst anstrengend. Man rennt hin und her, vollkommen in Plastik gekleidet. Es gibt viele Kolleginnen und auch ÄrztInnen, die durch die physische und psychische Belastung ziemlich an Gewicht verloren haben.

Haben Sie einmal nachgerechnet, wie viele Covid-19-Intensivpatienten Sie bisher betreut haben?

Nein, das weiß ich beim besten Willen nicht. Normalerweise gibt es im Krankenhaus Meran neun Intensivbetten. Direkt daneben, mit einem Gang verbunden, liegt die Sub- bzw. Kardiologische Intensivstation mit sieben Betten. Aber dort gibt es normalerweise keine organerhaltenden Geräte, keine Beatmungsmaschinen, keine Dialysemaschinen. Bei Covid wurden die beiden Abteilungen zusammengelegt und aufgerüstet, sodass wir auf 16 Intensivbetten kommen.

Und das Personal dafür?

Weil wir zwischen den beiden Abteilungen rotieren, hat ein Teil des Personals der Kardio-Intensiv schon einmal auf der Intensivstation gearbeitet, einige KollegInnen jedoch noch nie. Mit der Bedienung der Beatmungs -und Dialysemaschinen hatten viele keine Erfahrung. Am Anfang, als wir dieses Personal natürlich gebraucht haben, wurden einige schon ziemlich ins kalte Wasser geworfen. Manche wollten schon immer auf der Intensivstation arbeiten und haben sich gefreut, andere sagt dieser Bereich mit all den technischen Geräten und schwerstkranken Patienten jedoch weniger zu. Diese KollegInnen haben mit ganz kurzer Einarbeitungszeit mitmachen müssen. Jetzt sind wir wieder in derselben Situation, wir haben wieder 16 Covid-Intensivbetten. Zum Glück brauchen wir die PflegerInnen der Kardio-Intensiv nicht mehr so eng begleiten, weil sie es ja zum zweiten Mal mitmachen. Aber am Anfang war das schon auch sehr anstrengend, neben dem erhöhten Arbeitsaufwand auch noch KollegInnen einzuarbeiten. Vor allem in der ersten Welle, aber auch jetzt, sind außerdem ehemalige IntensivpflegerInnen zur Unterstützung zurückgekehrt, die eigentlich seit längerem schon in anderen Abteilungen und Diensten arbeiten. Auch helfen KrankenpflegerInnen aus der Abteilung Anästhesie mit. Ohne diese Unterstützung wäre es nicht möglich, alle Patienten ausreichend zu betreuen.

Sind die Betten voll ausgelastet?

Während der ersten Welle waren innerhalb kürzester Zeit die 16 Betten für lange Zeit voll belegt. Auch jetzt sind wir wieder fast voll besetzt.

Unsere Arbeit, die eine große Verantwortung mit sich bringt, sollte mehr honoriert werden

Wem begegnen Sie auf der Intensivstation? Haben sich die Patienten im Vergleich zum Frühjahr verändert?  

Mir kommt die Zusammensetzung der Patienten ähnlich vor wie im Frühjahr. Die meisten sind im Alter von 60 aufwärts. Manchmal gibt es auch Jüngere, die in einem sehr schlechten Zustand sind. Zum Teil weiß man nicht, warum sie so schwer betroffen sind. Für mich ist das auch oft ein Rätsel. Manche Betroffene mit erheblichen Vorerkrankungen schaffen es, in kurzer Zeit wieder gesund zu werden während andere, ohne oder mit geringen Vorerkrankungen sehr lange schwer krank sind. Im Allgemeinen spielen jedoch schon das Alter und die Vorerkrankungen eine große Rolle, wie schwer jemand erkrankt.

Stimmt es, dass im Frühjahr zumeist betagte Menschen mit Vorerkrankungen wegen Covid-19 intensiv behandelt werden mussten?

Mein Eindruck ist nicht, dass wir in der ersten Welle mehr betagte Patienten hatten. Ein paar schon, aber von denen haben es auch einige gepackt. Es kommt halt auch drauf an, in welcher körperlichen und geistigen Verfassung der Mensch in jedem Alter ist. Es gibt sehr fitte betagte Menschen, die ihr alltägliches Leben völlig selbstständig meistern, sowie jüngere, die gebrechlich und auf Hilfe angewiesen sind.

Hatten oder haben Sie nicht Angst, sich anzustecken bzw. das Virus nach Hause in die Familie zu tragen?

Angst, mich durch die Arbeit mit dem Virus anzustecken, habe ich nicht. Das hängt sicher ein bisschen vom Charakter ab. Ich bin prinzipiell kein ängstlicher Mensch. Ich habe aber auch KollegInnen, von denen ich weiß, dass sie am Anfang der ersten Welle aus Angst, das Virus nach Hause zu tragen, ausgezogen sind und ihre Familie für Wochen nicht gesehen haben. Falls ich mich doch anstecken sollte, wäre meine größte Sorge, dass ich es weitergebe und am Ende jemand angesteckt wird, der gefährdet ist und dann wirklich krank wird. In der ersten Welle habe ich den Kontakt mit meinen Eltern eingestellt. Wir haben uns zwei Monate nicht gesehen. Jetzt brauche ich ab und zu die Hilfe der Großeltern bei der Betreuung meines Sohnes, wenn er nicht im Kindergarten ist. Aber ich versuche, den Kontakt zu minimieren und mit meinem Partner – er ist auch Krankenpfleger – unsere Turnusse so einzuteilen, dass wir nicht oft eine Betreuung brauchen. Davon abgesehen fühle ich mich bei der Arbeit sicher. Bei uns war von Anfang an klar, dass die Patienten das Virus haben und wir in voller Schutzausrüstung arbeiten. Anders als auf anderen Abteilungen oder in Seniorenheimen, wo man vor allem in der ersten Welle nicht wusste, ob ein Patient mit dem Virus infiziert war.

Wie oft wurden Sie bisher auf das Coronavirus getestet?

Drei Mal. Im Mai haben wir alle den Antikörpertest gemacht, mit Blutabnahme, um festzustellen, ob man es schon gehabt hat. Ende des Sommers habe ich einen Antigentest gemacht. Der war negativ. Und jetzt habe ich mich beim Massentest testen lassen. Einen PCR-Test habe ich noch nie gemacht.

Viele fordern einen regelmäßigen Test für Risikogruppen, zu denen auch medizinisches Personal wie Sie gehören. Wäre das möglich?

Ja, wir haben Möglichkeiten. Wir können, wenn wir wollen, im Krankenhaus einen Test machen. Dadurch, dass ich seit dem vorigen Winter nie Symptome gehabt habe, habe ich ihn bisher nicht gemacht. Auch weil ich mich in der Freizeit an die geltenden Hygienemaßnahmen halte. Deshalb unterziehe ich mich nur einem Test, wenn ich entweder außerhalb der Arbeit in engem Kontakt mit einer  infizierten Person war oder Symptome zeige. Aber Möglichkeiten haben wir, auf jeden Fall.

 

Der Hauptgrund für die immer wieder verschärften Corona-Maßnahmen ist, eine Überlastung bzw. den Kollaps des Gesundheitssystems zu verhindern. Diese Warnung gilt wohl nicht nur für die Betten, sondern auch für die Menschen wie Sie, die Teil dieses Systems sind. Wie hält man die große Arbeitsbelastung physisch und psychisch aus? Ist man irgendwann überfordert?

Auf jeden Fall. In Meran habe ich mich persönlich allerdings selten richtig überfordert gefühlt. Wir haben ein fantastisches Team mit sehr fähigen, motivierten Mitarbeiten, die in kürzester Zeit unglaubliches auf die Beine gestellt haben. Im März gab es unheimlich viel zu organisieren. Die anfängliche Belastung und Ungewissheit waren sehr groß. Es ist allerdings in diesen Covid-Zeiten immer viel zu tun. Es gibt teilweise mehrere Aufnahmen in kürzester Zeit, die Patienten sind in der Versorgung sehr aufwändig, Zusatzdienste müssen bewältigt werden, Urlaube werden gestrichen. Aber da ich in Teilzeit arbeite, ist es für mich weniger belastend. Das macht einen großen Unterschied zu KollegInnen, die in Vollzeit angestellt sind. Viele von uns KrankenpflegerInnen aus Meran haben zeitweise auch auf der Covid-Intensivstation in Bozen ausgeholfen um Personalmangel zu decken. Manche arbeiten noch immer dort. Für mich war es eine tolle Erfahrung, aber durch die ungewohnte Arbeitsumgebung auch ziemlich anstrengend.

Machen Sie sich Sorgen?

Ich machte und mache mir Sorgen, dass durch eine Überlastung des Sanitätswesens eine Krankenpflegerin zu viele Patienten übernehmen muss. Mit mehr als drei Patienten zum Beispiel bleibt ganz viel hinten und dann kann es sein, dass der kranke Mensch nicht mehr optimal versorgt werden kann, weil wir es einfach nicht mehr packen. Mit so vielen Patienten rennst du nur mehr herum, bist nicht mehr imstande, konsequent die Hygienemaßnahmen – Desinfizieren der Handschuhe, Handschuhwechsel – einzuhalten und riskierst, Keime zu übertragen. Die Grundpflege wird dann vernachlässigt, somit steigt das Risiko zusätzlicher Infektionen, z.B. durch Dekubiti (Druckgeschwüre), Mundschleimhautentzündungen und Hautpilzinfektionen. Gravierende Fehler bei der Medikamentenverabreichungen werden wahrscheinlicher. In dieser so arbeitsreichen Zeit kommen viele an ihre Belastungsgrenze, sind nervös, gestresst, oft hektisch und reagieren anders als zuvor.

Jetzt sind alle Patienten gleich, das macht es (macht eine Pause) manchmal ein bisschen leichter, weil man schon viel Erfahrung hat

Was haben Sie sich gedacht, als nach der ersten Welle im Mai die ersten Lockerungen anstanden? Dachten Sie, das geht jetzt zu schnell oder eher, dass wir das schon packen?

Ich war optimistisch gestimmt. Und habe mir auch nicht gedacht, dass das noch einmal so schlimm, so heftig kommt. Das hat sich fast niemand gedacht. Vor allem, weil es im Sommer ja so gut gelaufen ist. Die Situation in der zweiten Welle ist auch anders: Ganz viele Junge haben leichte oder gar keine Symptome und tragen das Virus weiter, ohne dass man es weiß. Das war in der ersten Welle nicht so. Dass es in so kurzer Zeit wieder so losgegangen ist, hat mich erschrocken. Warum es so gekommen ist, weiß ich nicht. Ich vermute, da spielen mehrere Faktoren eine Rolle: Zum einen war die Urlaubszeit vorbei und die normalen Tätigkeiten – Vereinstätigkeiten, Schule – wurden wieder aufgenommen. Zum anderen hat sich die Jahreszeit geändert, es ist kälter, die Leute halten sich wieder mehr in Innenräumen auf, die Schleimhäute sind trockener und deswegen auch anfälliger. Sicherlich sind wir auch mit den Hygienemaßnahmen nachlässiger geworden.

Erleben Sie in Ihrem Freundes- und Bekanntenkreis Verständnis für die Maßnahmen und die Appelle, sich an die Hygieneregeln zu halten?

ArbeitskollegInnen haben mir berichtet, dass sie gemieden wurden. Vor allem am Anfang. Weil sie auf der Covid-Abteilung arbeiten und andere Menschen deshalb Angst haben, sich bei ihnen anzustecken. Mir ist das nie passiert. Die allermeisten Leute in meinem Umfeld respektieren die Maßnahmen und zeigen Verständnis. Meine Nachbarin zum Beispiel ist im Tourismussektor tätig, für sie war es eine schwere Zeit, insbesondere im Frühling. Trotzdem hat sie die Maßnahmen respektiert und nicht übermäßig geschimpft. Anders ist es, wenn ich in die sozialen Medien wie Facebook schaue. Ich bin oft entsetzt, wirklich entsetzt und zornig, über das, was dort abgeht und was manche Leute denken und dann auch weiterverbreiten, z.T. Fake News und wilde Lügengeschichten. Da wird polemisiert, spekuliert und es werden Sachen behauptet, die weder durch eigene Erfahrung oder eigenes Wissen noch durch wissenschaftliche Fakten belegt sind. Das kann und will ich so nicht stehen lassen. Da versuche ich aufzudecken und aufzuklären, Widerstand zu leisten.

Haben Sie jemals einen Patienten betreut, von dem Sie festgestellt haben, dass er das Coronavirus verharmlost oder gar leugnet?

In Bozen gab es einen älteren Herrn, von dem mir gesagt wurde, er sei ein kompletter Corona-Leugner. Er war bei uns intubiert, hat es dann wohl gepackt. Die Chance, mit ihm zu reden, hatte ich nicht. In der ersten Welle war das auch nicht so dramatisch, ich finde es jetzt viel wilder. Sicher, die Leute sind viel frustrierter, viel “stuffer” und dann kommt es vielleicht noch mehr raus. Aber in der ersten Welle war mir das nicht so bewusst.

Ich mache meine Arbeit einfach gerne – sicher, jetzt ist es anstrengender, als “Corona-Heldin” fühle ich mich dennoch nicht, ich trage eben meinen Teil bei

Nach dem Massentest vergangene Woche wurde gleich wieder lautstark gefordert, zu lockern, zu öffnen. Was geht Ihnen durch den Kopf?

Ich finde, es braucht Lösungen für die Familien mit Kindern im Kindergarten- und Schulalter. Viele haben große Probleme mit der Betreuung. Ich habe das Glück, dass ich meinen Sohn meistens gut zu Hause betreuen konnte oder er zur Notbetreuung in den Kindergarten gehen konnte. Aber dieses Glück haben nicht viele. Sie müssen arbeiten, oft im Homeoffice und nebenher die Kinder versorgen, Homeschooling betreiben. Da gehen viele ganz hart an ihre Grenzen und darüber hinaus. Obwohl ich auf der Intensivstation arbeite und ständig die schlimmen Auswirkungen, die diese Pandemie hat, sehe, habe ich Verständnis für jene, die sagen, die Schule muss aufgehen. Und da muss irgendwie versuchen werden, eine Lösung zu finden.
Weiters befürchte ich, dass wir uns jetzt durch ein negatives Testergebnis zu sicher fühlen und nachlässig werden.

Im Vergleich zur ersten Welle hat sich noch etwas radikal geändert. Im Frühjahr wurde Ärzten und Krankenpflegern von Balkonen herab applaudiert, sie wurden als Heldinnen und Helden gefeiert. Davon ist in der zweiten Welle nicht viel übrig geblieben. Fühlen Sie sich als Heldin oder sagen Sie, ich mache eigentlich nur meine Arbeit?

Ich fühle mich immer als Heldin, wenn ich als Krankenpflegerin arbeite, weil mir die Arbeit so gut gefällt. Man erlebt tolle Sachen und kann effektiv manchmal Leben retten. Und das gibt immer ein gutes Gefühl. Egal, ob es nun während Covid ist oder nicht. Ich arbeite in einem wahnsinnig tollen Team und mache meine Arbeit einfach gerne. Sicher, jetzt ist es anstrengender, als “Corona-Heldin” fühle ich mich dennoch nicht. Ich trage eben meinen Teil bei. Mir wäre lieber, wenn das Berufsbild der Krankenpflege prinzipiell mehr wertgeschätzt würde. In der Bevölkerung ist es nach wie vor der Arzt, der Leben rettet. Dabei machen einen großen Teil der Arbeit wir KrankenpflegerInnen. Und das wird ganz oft nicht gesehen. Wir sind in direktem Kontakt mit dem Patienten und wissen ganz, ganz viel über ihn, wir sind meistens die erste Bezugsperson. Ein Patient im Krankenhaus würde nicht ausreichend versorgt, wenn es die PflegerInnen nicht gäbe. Ich finde die Hierarchie, Ärztin über Pflegerin, veraltet. Wir sind verschiedene Berufsbilder, die im Teamwork miteinander arbeiten. Ich kann den Großteil der Arbeit einer Ärztin nicht durchführen, so wie auch die Ärzte unsere Bereiche nicht abdecken können. Es geht weder ohne den einen noch den anderen. Das zu betonen, ist mir wichtig. Unsere Arbeit, die eine große Verantwortung mit sich bringt, sollte mehr honoriert werden, auch was die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung betrifft. Somit würde unser Beruf sicherlich wieder attraktiver, was dem Pflegenotstand entgegenwirken könnte. Ich verstehe, dass die Leute jetzt “stuff” sind, ich verstehe, dass sie sagen, dass wir KrankenpflegerInnen keine existentiellen Sorgen haben, aber ich würde mir einfach mehr Wertschätzung wünschen. Egal, ob Corona oder nicht Corona. Wir sollten in diesen außergewöhnlichen Zeiten zusammenhalten, uns gegenseitig unterstützen und so gut es geht jenen helfen, denen es schlecht geht.

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Klemens Riegler So., 29.11.2020 - 09:51

Das beste Interview in Sachen "Intensivstation + Covid 19" das ich je lesen durfte. Beidseitig übrigens. Und Frau Barbara Holzgethan ist eine Heldin; sachlich, begeistert, konkret, informativ, nie böse, hinweisend und nicht anklagend. Die Frau hätte sich einen Bonus schon dieses Interviews wegen verdient.

So., 29.11.2020 - 09:51 Permalink
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gorgias So., 29.11.2020 - 16:58

Geräte und Materialien sind im Notfall eine Frage des Preises. Ob qualifiziertes und motiviertes Personal zur Verfügung steht, ist eine Frage gezielter langfristiger Eintscheidungen von Seiten der Politik.

Dank ist billig, ein Arbeitsumfeld und eine Entlohnung die jenen gerecht wird, die sich entscheiden so einen Beruf zu wählen, der mit hoher Belastung und Verantwortung verbunden ist, nicht. Es ist aber den Preis wert.

So., 29.11.2020 - 16:58 Permalink
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Lollo Rosso Di., 01.12.2020 - 15:19

Bin ich der einzige, der sich wundert, dass das Krankenhauspersonal nicht öfter getestet wird? Keine verpflichtenden Tests auf der Covid-Station? Das finde ich skandalös.

Di., 01.12.2020 - 15:19 Permalink
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Walter Perkmann Mi., 06.01.2021 - 13:57

Ein Zitat fürs Stammbuch: "Wir sollten in diesen außergewöhnlichen Zeiten zusammenhalten, uns gegenseitig unterstützen und so gut es geht jenen helfen, denen es schlecht geht".
Gratuliere zur einfühlsamen Schilderung des "intensivmedizinischen Alltages" und zur realistischen positiven Grundhaltung von Frau Holzgethan. Bravo!!!

Mi., 06.01.2021 - 13:57 Permalink