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Politik | trister Rekord

Il cambio di casacca

In keinem anderen EU-Land ist der Parteiwechsel so verbreitet wie in Italien.
Sie ist seit Jahrzehnten das "Markenzeichen" Italiens: die politische Instabilität. Das Parlament, der Spielplatz der Republik. Das wird besonders deutlich im Vergleich mit Deutschland, dem stabilsten der grossen EU-Mitgliedsländer. Dort liess sich 1949  Konrad Adenauer mit einer Stimme Mehrheit zum Bundeskanzler wählen – seiner eigenen: "Eine Stimme, das reicht." Wie drastisch sich dagegen Italiens Instabilität auswirkt, zeigt ein Vergleich beider Länder: Während Deutschland von 1949 bis heute 8 Bundeskanzler hatte, waren es in Italien 30 Ministerpräsidenten in 66 Regierungen, deren kürzeste – das Kabinett Giulio Andreotti II –, gerade mal acht Tage im Amt war. Kaum eine Regierung kam über die Hälfte der Legislaturperiode hinaus. Das als trasformismo bekannte Phänomen des Parteiwechsels, das in anderen EU-Ländern weitgehend inexistent ist, bedrohte in den letzten Jahren zunehmend die Regierungen und zwang sie zu Kompromissen.
 
War dieses Phänomen bisher meistens auf einzelne Überläufer beschränkt, hat  Matteo Renzi beispielhaft voexerziertr, wie man den cambio di casacca gleich auf ganze Gruppen ausdehnt. Bei den letzten Parlamentswahlen kandidierte der Ex-Premier mit seinen Gefolgsleuten wie gewohnt für den Partito Democratico, um sich nach wenigen Wochen selbstständig zu machen und mit Italia Viva eine neue Partei zu gründen, die derzeit über 30 Parlamentarier verfügt. 

Kaum eine Woche vergeht, ohne dass Abgeordnete und Senatoren in andere Lager wechseln – die vorerst letzte war die M5S-Senatorin Elisa Siragusa. Manche, wie der Fünf-Sterne-Abgeordnete Davide Galantino, haben das Kunststück geschafft, zur Halbzeit der Legislaturperiode bereits mehrmals das Hemd zu wechseln – vom M5S in die gemischte Fraktion und dann weiter zu den ultrarechten Fratelli D'Italia. Die massivsten Verluste in Kammer und Senat haben bisher die Fünf-Sterne-Bewegung mit 43 und der Partito Democratico mit 37 Parlamentariern erlitten – Zahlen, die sich bis zum Ende der Legislatur in über zwei Jahren durchaus verdoppeln könnten und die zwei Parteien treffen, die auf gesellschaftliche Veränderungen abzielen. Vergessen wird dabei häufig, dass dieses – innerhalb der EU nur in Italien so verbreitete  Phänomen des cambio di casacca nichts anderes ist als eine massive Verfälschung der Wahlergebnisse. Die wird auch ins Ausland exportiert: vor wenigen Tagen haben im EU-Parlament in Brüssel gleich 4 M5S- Abgeordnete ihrer Bewegung den Rücken gekehrt - fast ein Drittel der Fraktion.

Dass unter diesen Voraussetzungen politische Stabilität unmöglich erscheint, liegt auf der Hand. Das gilt nicht nur für das Parlament, sondern auch für die Regional- und Gemeinderäte. Ob, wie letzthin im sardischen Regionalrat oder in den umbrischen Gemeinderäten von Spoleto, Gubbio und Orvieto – der cambio di casacca ist leider zur politischen Alltagserscheinung verkommen und hat auch im Südtiroler Landtag bereits Einzug gehalten. Die Beweggründe sind unterschiedlich. Bei der Fünf-Sterne-Bewegung erfreuen sich die vorgeschriebenen Abgaben sinkender Beliebtheit. Man hat sich einfach auseinandergelebt. "Apriremo il parlamento come una scatola di tonno", hatte Gründer Beppe Grillo prophezeit. Freilich konnte er damals nicht ahnen, wie viele seiner Parlamentarier die Gelegenheit zum Absprung nutzen könnten. Längst sind nicht mehr alle bereit, die ursrprünglichen Wertvorstellungen zu teilen. Ein Parteiwechsel wirkt da befreiend – zumal, wenn man - wie in der gemischten Fraktion - mit offenen Armen empfangen, im neuen Umfeld nicht ständig Rechenschaft ablegen muss und auch die monatlichen Pflichtbeiträge sparen kann.

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Josef Ruffa Fr., 04.12.2020 - 15:25

Ich stelle mir folgendes Spiel vor. Juventus - Bayern München. Im Spiel, 0:2 für Bayern, entscheiden 3 Spieler Mannschaft zu wechseln. Nicht möglich. In der Politik jedoch, darf jeder was er will. Mein Vorschlag, es passt nicht mehr in den eigenen Reihen, ok, Rücktritt. Wahlen abwarten und dann versuchen nochmals gewählt zu werden. Wäre das die Regel, würde vermutlich dieses unwürdige Handeln bald fertig sein.

Fr., 04.12.2020 - 15:25 Permalink
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Karl Trojer Sa., 05.12.2020 - 10:31

Da die Wahl eines Mandatars in der parlamentarischen Demokratie mit einer bestimmten Partei verbunden ist, erscheint mir jeder Parteiwechsel, der während einer laufenden Legislaturperiode vorgenommen wird, als Verrat am Wähler und deshalb als unzulässig. Das italienische Recht müsste m.E. dringend entsprechend abgeändert werden, um den dauernden, für Italien katastrophalen, häufigen Regierungswechsel wesentlich zu reduzieren.

Sa., 05.12.2020 - 10:31 Permalink