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Wenn der Berg ruft...

...und der Gipfel einen mal kann. In der Reihe "Wiedergelesen" zum heutigen Internationalen Tag der Berge: Zwei Briten widerstehen dem Erstürmungsdrang.
TitelGipfel
Foto: edition raetia

Wenn der Berg ruft, muss er nicht unbedingt eine Antwort bekommen. Es war vor allem die Kunst der Gipfelverweigerung, die Jack Kerouacs 1958 erschienene Beatnikhymne The Dharma Bums bekannt machte. Statt den Weg aller Kraxler zu Ende zu gehen und zur Spitze vorzudringen, begnügt sich Kerouacs alter ego Ray im Roman mit der meditativen Ansicht eines Objekts, in dem andere nur ein Signal zur Erstürmung sehen. Tatsächlich hat es solch alpininaffine Abstinenz schon wesentlich früher gegeben; nicht nur im Himalaya, wohin es Ray verschlägt. 

Hinauf wollten sie nicht. Klettern konnten andere besser, und Gipfel wurden nur bezwungen, wenn es sich nicht mehr vermeiden ließ.

Eher gemütlich geht es zu auf den Dolomitentouren der Herren Gilbert und Churchill. Ihre Frauen haben die beiden Briten mitgebracht, auch wenn sie ihnen bei ihren täglichen Touren bergauf manchmal lästig fallen. Dafür sind sie am Abend und nach dem Übergang zum gemütlichen Teil umso willkommener. Ein solches Rollenverständnis mag heute antiquiert erscheinen. Im Jahr 1864, als der Reisebericht erschien, war es durchaus gängig. In Tirol, im Friaul und in Venetien gehörten Frauen hinter den Herd und nicht in Hosen und Wanderschuhe, sodass der Auftritt des legeren Quartetts bei den Einheimischen stets für gehöriges Aufsehen sorgte.
Die Berge interessierten Gilbert und Churchill nur als Kulisse und Studienobjekt. Hinauf wollten sie nicht. Klettern konnten andere besser, und Gipfel wurden nur bezwungen, wenn es sich nicht mehr vermeiden ließ. Doch waren der Maler Gilbert und der Botaniker Churchill so umtriebig, dass sie im Vorbei- oder Darüberhinwegstapfen manche Erstbesteigung inferiorer Bergriesen für sich beanspruchen durften. Der Alpinklub im fernen London, übrigens der weltweit erste seiner Art, dankte es ihnen und nahm sie mit Freude als Mitglieder auf. 


Dennoch verstanden sich Gilbert und Churchill – es gab ja noch keine Beatniks – als Touristen, lange bevor sich der Begriff mit allerlei negativen Konnotationen anreicherte und zum heutigen Negativimage wandelte. Die britischen Pioniere entwickelten, lange bevor Umweltbewusstsein, Nachhaltigkeit und langsames Reisen zum Thema wurden, ein Faible für die Region, in der sie unterwegs waren.  Sie sahen in den Dolomiten eher die landschaftlichen Reize als eine sportliche Herausforderung. Die Vermutung liegt nahe, dass Kerouac an dem coolen Duo ebenso viel Vergnügen gefunden hätte wie seinerzeit die insularen Alpinvereinsmeier zu London.
Ihre Sichtweise vermittelten Gilbert und Churchill auch anderen Reisenden, die ihnen bald folgten und die pittoreske Gegend in ein Urlaubsparadies verwandelten. Dies alles geschah nicht zum Schaden der Einheimischen, die sich ein willkommenes Zubrot im harten Bergbauernalltag verdienten. Durch den Massentourismus hervorgerufene Klima- und Landschaftsschäden waren im 19. Jahrhundert noch kein Thema.  
Für den Leser ist der 300 Seiten starke Reisebericht von der ersten bis zur letzten Seite ein Vergnügen. Das ist nicht zuletzt dem Herausgeber zu verdanken. Aus dem ursprünglichen, weit umfangreicheren Konvolut hat Erwin Brunner manch langwierige und wohl auch langweilige Passage gestrichen und sich gleichzeitig bemüht, alles weitestmöglich im Original zu belassen. Im Nachwort geht Brunner näher auf die Erschließung der Dolomiten ein und rückt die eigentliche Leistung der beiden Briten in einen größeren Zusammenhang.

Schirme, auch das mussten die Touristen erfahren, sind im Gebirge selten eine gute Lösung...

Die Liebe zum Detail bleibt darüber erhalten. Schließlich sind es die Schrullen der Engländer, welche die Lektüre über andere, nicht nur zeitgenössische Reiseberichte erheben. Ein Hüttenabend ohne Tee (kein Lagreiner? nicht mal ein Birra Forst?) war für die Gäste von der Insel nicht vorstellbar. Kräuter zum Aufkochen hatten sie gleich mitgebracht. Die Einheimischen mussten nur Sorge tragen, dass das Wasser heiß genug war (was selten gelang). Nie wurde eine Tour ohne Führer absolviert, schon gar keine Flachetappe ohne Tragtier und niemals eine Steigung ohne Lakai, denn, so viel Klassenbewusstsein musste sein, weder einem englischen Herrn – wenn auch nicht von Adel, so doch großbürgerlicher Provenienz – noch seiner Frau konnte zugemutet werden, das Gepäck selber zu buckeln. Mitleid fürs schuftende Prekariat hielt sich in Grenzen. Eher wurde einem Vierbeiner die Last erlassen, etwa wenn ein Esel maulte, ein Maultier bockte oder ein Pferd sich in der Grätsche oder einem wie auch immer gearteten Anzeichen der Überanstrengung übte. 
So blieb die Exkursion entspannt, die Stimmung gelöst und der Gemütszustand heiter. Leider nicht das Wetter. Wenn nur der verdammte Regen nicht gewesen wäre! Es goss zwar insgesamt seltener als in Hemingways Romanen oder gar im realen Leben auf der britischen Insel, dafür aber mit mehr Penetranz und weniger Abwehrmöglichkeiten. Schirme, auch das mussten die Touristen erfahren, sind im Gebirge selten eine gute Lösung, und ein Satz trockener Klamotten zum Wechseln war in Zeiten nicht wasserfester Rucksäcke auch keine wirkliche Alternative. Blieb die Vorfreude aufs Kaminfeuer … und dem heutigen Leser die Möglichkeit einer Reise in eine Zeit, in der Touristen keineswegs lästig und längst nicht alle Berghänge von Skifahrern umgepflügt waren. Insofern ist Gilbert und Churchills Bericht, ursprünglich geplant, um eine noch nicht entdeckte Region bekannt zu machen, auch ein Stück wiedergefundenes Paradies.  

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Christian I Fr., 11.12.2020 - 15:07

Ein Buch das richtig interessant klingt, aber das ich sicher nicht lesen werde: zu gross wäre die Trauer (Frustration?) für das verlorene Paradies vor der Haustür.

Fr., 11.12.2020 - 15:07 Permalink