Politik | Haushalt. Bilancio

Alles ist anders. Tutto è cambiato.

Dass wir aufhören uns so zu überschätzen, könnte ein Effekt von Corona sein.
Discorso al Bilancio Provinciale - Rede zum Landeshaushalt 2021
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Wir haben heuer die Diskussion über den Landeshaushalt mit zwei Gedenkminuten begonnen.

Das war sehr ungewöhnlich und sehr angebracht.

Die Gedenkminuten galten den über 600 Menschen, die in Südtirol 2020 in Zusammenhang mit dem Coronavirus gestorben sind. In diesen beiden Minuten der Stille haben wir dieses Jahr reflektiert, gespiegelt. Es ist heuer kein Jahr, in dem unsere Haushaltsreden der Anlass für die kleine Kritik sind. Es geht um mehr.

2020 ist das Jahr, in dem nichts mehr ist, wie es war.

Wir waren in das Jahr gegangen, mit dem besten Business as usual. Der x.te Rekordhaushalt in Folge versprach ein blühendes Jahr. Aufgerüttelt von den Fridays for Future gab es innige Versprechungen einer verstärkten Aufmerksamkeit gegenüber dem Klimaschutz. Jedes Gesetz sollte auf seine Klimaverträglichkeit geprüft werden. Nachhaltigkeit, seit Jahren Motto der Haushaltsreden, sollte zum Leitansatz der Landespolitik werden. Die Wintersaison war voll im Gange und man schöpfte aus dem Vollen. Ein paar lästige Mahner*innen nervten zwar mit Wachstumskritik und radikalen Umbauabsichten der Gesellschaft, aber das war wie ein Raunzen, an das man sich längst gewöhnt hatte.

Dann kam Corona, und wie es im Theater das „Freeze“ gibt, so gab es auch bei uns das Große Einfrieren. Mir kam damals das Bild der Eiswürfel. Jede und jeder von uns war in seinem Kästchen eingefroren. Und da war es plötzlich fundamental, wie dieses Kästchen war. Soziale Unterschiede, im Leben vor Corona zum Teil noch aufgefangen durch Mobilität und Geselligkeit, erhielten eine absolute Dimension.
Hatte man einen Balkon oder gar einen Garten, dann gab es Möglichkeit zum Frischluftschnappen, sonst nicht.
Hatte man kleine Kinder, war man plötzlich im Hauptberuf Pädagogin und den eigentlichen Hauptberuf führte man irgendwie weiter.
Wohnte man in Bozen, Meran oder Leifers, wurde einem der Auslauf limitiert, wohnte man am Wald, drohten Strafen vom Förster.
War man im öffentlichen Dienst, hatte man zumindest ein sicheres Gehalt, war man freiberuflich oder, schlimmer, eine Künstlerin – ja, wie tat man da?
Hatte man einen Betrieb, dann war es gut möglich, dass man, auch wenn man solide aufgestellt war, um die Existenz bangen musste, immer noch muss.
War man in einem systemrelevanten Beruf, wusste man nicht mehr, wo einer der Kopf stand.
War man zum Stillstand verdonnert, musste man sich mit nie enden wollenden Tagen zurechtfinden. Es gab auch Menschen, denen die Auszeit gut getan hat. Für sie war es ein langes Luftholen in einem Alltag, der sie sonst ausbeutet und auspresst wie Zitronen.
Es gibt Menschen, die den zweiten Lockdown schlimmer empfinden als den ersten, die sich jetzt unter der Schwere der Dauervideokonferenz oder der Einsamkeit erdrückt fühlen.

Die Wahllosigkeit von Corona macht so ratlos.

Persönlich empfinde ich eine Art Zärtlichkeit, wenn ich Szenen des Ersten Lockdown sehe, nicht die schrecklichen Szenen von Tod und Qual, sondern jene der Menschen, die sich trösteten und halfen und erfinderisch wurden, um geistig und psychisch (aber auch physisch, denken wir an die Bilder der Turnübungen auf den Dächern und Balkonen) zu überleben.

Die Absonderung voneinander macht unser Gesellschaftsgefüge spröde. Es gibt es Sprünge. Brüche sind aufgegangen. Wir wissen, dass Bruchlinien immer entstehen, wo es Verwerfungen gibt, die nur darauf warten, aufzubrechen. Heuer ist klar geworden, dass unser Südtiroler Gefüge voller Oberflächenkitt ist.

Denn 2020 sind die notdürftig gekitteten Stellen in voller Wucht aufgebrochen:

Deutsche verstanden die Italiener*innen plötzlich überhaupt nicht mehr.
Stadt und Land hatten völlig andere Bedürfnisse und aufgrund derer entwickelten sich entgegengesetzte Haltungen im Hinblick etwa auf Freiheit und Disziplin.
Die Alltage von Männern und Frauen drifteten auseinander und der Rückfall in alte Rollenbilder war immediat.
Wer sozial besser gestellt war, konnte sozial Schwache ausblenden (man lief sich ja auch nicht mehr über den Weg). Neid, Zorn, Frustration machten sich breit.
Die Kluft zwischen Politik und Bevölkerung riss total auf. „Die da oben“ wurden zur Projektionsfläche für jeglichen Ärger. Der LH spricht von einer „gereizten Stimmung“. Das ist sehr gnädig formuliert.

Es handelt sich um die größte Polarisierung, die Südtirol seit 1939 erlebt haben dürfte. Die Risse gehen quer durch die Familien und Freundschaften. (Kommt Ihnen diese Formulierung bekannt vor?) Es gibt einen permanenten Zwang zum Bekenntnis. Ist man für die Maßnahmen oder dagegen? Für die Freiheitseinschränkungen oder dagegen? Jetzt: Für die Schigebiete oder dagegen? Für die orange Zone oder dagegen? Für die Weihnachtsfeier oder dagegen? Irgendwann war man sogar „für Corona“ oder dagegen! Eine absurde Fragestellung, die wir aber vermutlich alle nicht nur einmal beantworten mussten.

Erklärbar ist diese Polarisierung mehrfach: Erstens kollidieren in der Coronakrise zwei Grundrechte, das Recht auf Freiheit und das Recht auf Gesundheit. Und je nachdem, was man im Moment mehr braucht (ich sehe das sehr existenziell und konkret, und sage daher nicht: je nachdem was einem wichtiger ist), steht man auf der einen Seite oder auf der anderen. Wer vulnerabler ist, wird eher auf die Maßnahmen pochen, die sie oder ihn schützen. Wer sich sicherer fühlt, kämpft wahrscheinlich eher für die Freiheit. Kulturelle Prägungen tragen ebenfalls zur Polarisierung bei.
Es gab und gibt auch Changierende, je nach Kontext.
Und es gibt Abdriftende. Die „Freiheitsfraktion“ ist gefährdet, den Verschwörungstheorien anheim zu fallen (bitte nennen wir sie nicht Verschwörungstheoretiker, denn sie sind schlicht keine Theoretiker!). Die „Gesundheitsfraktion“ ihrerseits ist, in extremis, einer Neigung zu Kontrolle und Denunziation ausgesetzt. Beide Richtungen sind in ihrer radikalisierten Version autoritär und darin liegt auch die große Gefahr dieser Polarisierung. Denken wir daran, dass vor den großen Faschismen des 20. Jahrhunderts nicht nur der Erste Weltkrieg gewesen war, sondern auch die gigantische Welle der Spanischen Grippe.

Hier sehe ich die Notwendigkeit des starken Parlamentarismus – und ich glaube, das eint uns über die Parteigrenzen hinweg. Soviel gesundes politisches und demokratisches Gespür haben in diesem Haus alle Abgeordnete (Enzian vielleicht ausgenommen), als dass wir uns nicht alle zusammen klar von diesen Radikalisierungen abgrenzen würden. In diesem Jahr habe ich das sehr geschätzt.

Der zweite Grund für diese Polarisierung liegt in der erzwungenen Trennung zwischen den Menschen. E qui voglio tornare al minuto di silenzio con cui ho iniziato questo discorso. Il primo minuto di silenzio lo abbiamo dedicato alla forse più conosciuta vittima del Covid, a Lidia Menapace. Conoscevo Lidia, ma non tanto da vicino. Ci incontravamo alle manifestazioni, dove a volte marciavamo accanto, e alle conferenze sulle donne, dove a volte dialogavamo insieme. Lidia era per noi femministe un grandissimo punto di riferimento.
Sono stata al suo funerale.
È stato il più triste funerale a cui io abbia mai assistito. Non perché eravamo meno in lutto di altre volte. Ma perché sentivo che si erano spezzati tutti i fili tra noi. Lo racconto in italiano in onore di Lidia che avrebbe credo compreso questo discorso. Si sono spezzati i fili, die Fäden sind gerissen. Auch unter uns Frauen, die wir uns normalerweise auf einem Gewebe bewegen, das uns hält und an dem wir gemeinsam weben. Wir haben es auch hier im Landtag erlebt. Leider.

Die Einsamkeit der Menschen hat den Diskurs verändert, auch den politischen Diskurs.

Negli spazi tra la mia opinione e la tua ci sono le sfumature e parlando, scambiandoci, discutendo, litigando, le scopriamo e le condividiamo. Se questo spazio in mezzo è annientato, ognuno resta con la sua opinione e quindi è più probabile che ci si trovi in una posizione estrema piuttosto che in mezzo. Die Mitte entsteht meistens aus der Begegnung. Parlamentarismus ist diese Begegnung, in aller archaischen Dimension ist der gute alte Parlamentarismus bedeutsamer denn je. Ich bin gerade in diesen Monaten zur glühenden Parlamentaristin geworden. Sono in totale disaccordo su questo con il M5* che pensa che la democrazia fatta da videoconferenze e votazioni a botte di clic sia un passo avanti. Invece proprio quest’anno io sento di dover difendere il parlamentarismo in cui ci si deve guardare in faccia, in cui senti le parole non solo attraverso l’orecchio, in cui ti incontri, e a volte a metà strada.

Indessen hat sich heuer die Debatte im Landtag, genau wie die gesellschaftliche Debatte, polarisiert, verkantet und verhärtet. Noch nie waren wir weiter voneinander entfernt. Vielleicht haben wir auch das Verständnis füreinander verloren. Nichts ist mehr wie es war, auch hier in unserem Landesparlament nicht.

Der Landeshauptmann hat seine Rede in einem fast leeren Saal gehalten. Noch nie war er so allein wie heuer. Die Einsamkeit an der Spitze spiegelt die Einsamkeit der Menschen.

Vorrei citare su questo un passaggio di uno splendido saggio che sto leggendo in questo periodo, di Chiara Valerio, “La matematica è politica”: Dice, Valerio: “Ovviamente la matematica non procede per voto o alzata di mano, ma per ipotesi e verifiche. Se i nostri politici avessero studiato matematica, e se studiandola l’avessero capita, si comporterebbero diversamente rispetto alle cariche dello Stato che ricoprono perché non agirebbero come singoli, ma come funzioni di un sistema più ampio del loro ego, e soprattutto non si preoccuperebbero delle cose, ma delle relazioni tra le cose […], sarebbero consci di quanto l’abuso di posizione e di occasione indebolisca altre posizioni del medesimo sistema democratico.”

Diese Worte geben zu denken (was für eine schöne Redewendung übrigens!). Wären sie anerkannt, dann würden vielleicht einige der wilden Machtkämpfe, die in der politischen Mehrheit toben, aufgegeben (immer zum Stichwort Zusammenhalt) – weil auch die Herren der Landesregierung merken würden, wie sehr sich die ganze Achse schwächt, und in diesem Jahr auch gleich das ganze gesellschaftliche Gefüge mit.

2020 ist das Jahr der Krise.

In diesen Wochen zu Jahresende wird darüber viel gesagt und geschrieben. Es ist die größte Krise der Nachkriegszeit. Die wirtschaftlichen Dimensionen sind noch gar nicht in Zahlen zu fassen. Die Daten zur Arbeitslosigkeit indessen werfen immense Schatten voraus. Die Daten zur psychischen Belastung, zu Trauer, Gewalt, Stress, zu Zukunftsangst werden schnell ihre Abstraktheit verlieren und als konkrete Folgen in der unmittelbaren Umgebung von uns allen spürbar sein.

In unserer westlichen Erfolgskultur gilt Krise als Problem („Regierungskrise“, „Ehekrise“, „Sinnkrise“, „Wirtschaftskrise“ – wer möchte da schon drin stecken?). Oft gilt während dieser Zeit, dass man nur warten muss, bis sie vorbei ist, dann wird schon wieder „Normalität“ einkehren. Das Abwarten, also das Totstellen, ist eine der drei menschheitsgeschichtlich gefestigten Reaktionsmuster auf Krisensituationen (die beiden anderen sind Angriff und Flucht – wir erleben derzeit alle drei Formen!). Kollektive Krisen schaffen Ohnmacht.

Derzeit wird Krise normalerweise behandelt wie eine Krankheit (auch Krankheit ist, per se, Krise – und in der Krankheit gibt es dann noch die Krise, wenn’s schlimm wird). Sie wird separat behandelt, wie ein fehlgelaufener Mechanismus, der wieder in Gang, in den Rhythmus gebracht werden muss.

Dabei hat Krise eine andere Bedeutung. So wie wir nach einer Krankheit nicht mehr die selben sind, so wird auch die Welt nach dieser Krise nicht dieselbe sein. Nach der Krise ist etwas anders. Damit dies nicht Bruch und Chaos ist, muss aber die Art der Krise erkannt werden. Wenn nicht die Gesamtströmung angegangen wird, sondern nur stabilisierende Maßnahmen gesetzt werden, dann ist Krise zerstörend.

In diesem Sinne vermisse ich ganz radikal etwas in der Rede des Landeshauptmanns zum Haushalt 2021: Das radikale Reformprogramm nach der Krise durch Covid-19. Non poca roba.

Ich habe heuer nicht vermisst, dass in der Haushaltsrede einzelne Punkte nicht angesprochen wurden. Es ist nicht das Jahr, in dem wir über die Zukunft des Postdienstes oder die Zusammenlegung von Tourismusverbänden diskutieren müssen. Es ist das Jahr, in dem es zu erkennen gilt, wo die Brüche verlaufen und wie man das Auseinanderbrechen der Gesellschaft verhindern kann. Vielleicht.

In der Analyse können wir davon ausgehen, was uns Covid gelehrt hat.

2020 war das Jahr der Verletzlichkeit, der Verwundbarkeit, der Infragestellung alles bisher Gewohnten. Wir haben gemerkt, dass nichts, kein Managementkonzept, kein Wirtschaftsprogramm, kein Business-Plan einem Virus standhält, das sich dank Globalisierung aufmacht, um die Welt zu erobern. Wie schnell ist doch alles zusammengebrochen. Leider nachhaltig zusammengebrochen. Laut ISTAT könnten 23 % der Betriebe in Italien auch nicht mehr aufmachen.
Wir haben gemerkt, dass unsere überdrehte Mobilität zur Verbreitung des Virus beigetragen hat. Und was es für Luft und Natur bedeutet, wenn der Verkehr ausbleibt.
Wir haben gemerkt, dass das Tabuisieren und Ghettoisieren von Alter und Tod dazu führte, dass das Virus die Verletzlichsten am massivsten getroffen hat. Und wie wichtig plötzlich jene sind, die überbeschäftigt und unterbezahlt in der Pflege und Betreuung arbeiten.
Wir haben gemerkt, wie die Einsparprogramme der letzten Jahre das Gesundheitssystem beeinträchtigt haben. Und wie froh wir um die peripheren Krankenhäuser waren, die man bis vor kurzem noch der Rationalisierung opfern wollte.

2020 war auch das Jahr der Erschöpfung.

Erschöpft, das waren viele schon vor Covid. Heuer hat sich die Anspannung und Belastung um ein Vielfaches gesteigert. Die Familien, insbesondere die Frauen haben sich in diesem Jahr als Airbag der Gesellschaft bewähren müssen. Sie haben abgefedert und abgefangen. Und alle vor schlimmen Blessuren bewahrt. Aber Achtung! Ein Airbag ist erstens auch gefährlich – und zweitens hat er die Eigenschaft, dass er nur einmal aufgehen kann. Daher muss die Erschöpfung der Frauen, der Arbeitenden, der Familien (auch der Jugendlichen in Fernunterricht! Ich habe letzte Woche eine Klasse virtuell durch den Landtag führen dürfen und als ich die Frage stellte: E voi, come state?, da ist mir der resignierte, müde, frustrierte Tonfall der Antwort der Oberschüler*innen in den Ohren geblieben. Die Antwort war: Male.) zutiefst ernst genommen werden.

Von Verletzlichkeit und Erschöpfung ausgehen, das wäre schon einmal ein radikaler Perspektivenwechsel.

Ein Landeshaushalt der Nachhaltigkeit und des Zusammenhalts, wie vom LH beschworen, muss von denen ausgehen, die an der schwächsten Stelle stehen.

Das war heuer nicht ganz so. Die längste Zeit wurde den Stärksten und Lautesten im Land nachgegeben. Die rabiate Auflehnung mancher Verbände in den letzten Wochen zeigte, wie wenig man es gewohnt war, sich einordnen – ja, unterordnen! - zu müssen, in die größere Aufgabe des allgemeinen Gesundheitsschutzes. Auf dem Diktat der Verbände hatte sich denn auch der „#Sonderweg Südtirol“ (es war übrigens auch das Jahr der Hashtag-Gesetze) gestützt. Die Autonomie unseres Landes wurde bemüht, vielleicht missbraucht (wir haben gewarnt!), um eine Woche früher zu öffnen. Ob man das heute noch so machen würde, ist fraglich. Das gute alte Südtiroler Sprichwort „Alles Schlechte kommt aus Rom“ hatte immer auch Bequemlichkeiten geschaffen (das weiß der Bildungslandesrat sehr gut, der in letzter Zeit diesen Durnwalderschen Ansatz mit großem Erfolg aufgegriffen hat). Ganz sicher hätte auch der Landeshauptmann lieber auf dem berühmten bitteren Schild zur Ladenschließung gelesen „Wegen Conte geschlossen“. Selbstverwaltung ist zweischneidig. Vor allem, wenn ein Virus dazwischenkommt, das sich eigenwillig über die Grenzen hinweg bewegt und zwischen Autonomie und Normalregion keinen Unterschied macht.

Was wir daraus lernen können, ist vor allem aber, dass es die Zusammenhänge zwischen Zentralverwaltung und Lokalverwaltung immer wieder neu zu diskutieren gilt. Und dass Autonomie immer im Binom mit Demokratie gesehen werden muss. Nach oben (zum Zentralstaat hin). Und nach unten.

Und hier, Herr Landeshauptmann, muss ich kurz verweilen. Ich hatte heuer vorgehabt, nachdenklich und nachsichtig zu sein und auch zu würdigen, was Sie leisten. Sie hatten es gewiss nicht leicht und ich habe Sie nie beneidet.

Es war ein sehr schwieriges Jahr für die Demokratie, für alle Parlamente. Die Exekutive musste schnelle und oft unbeliebte Entscheidungen treffen, manchmal wurden sie auch erst im Nachhinein von der Legislative ratifiziert oder diskutiert. Wir haben darüber viel gesprochen. Es ist der Eindruck, dass diese 16. Legislatur gar nicht mehr auf die Beine kommt. Durch das Stolpern von einer Notlage in die nächste dehnt sich die Zeit. Dieses Jahr kann man wie 2 rechnen. Wir alle sind 2 Jahre älter geworden. Einigen sieht man es auch an. Es gab Höhen und Tiefen. Der Hickhack um den Untersuchungsausschuss zu den Schutzausrüstungen war für den Landeshauptmann kein Ruhmesblatt. Die Informationsschleife (Diskussionsschleife wäre besser) mit dem Landtag, die sich während der 2. Welle eingebürgert hat, ist in Ordnung. Hier könnte man ansetzen, um die Demokratie, die demokratischen Abläufe, zu verbessern – auch hier ausgehend nicht von oben, sondern „von unten“, von der Bürgerin, dem Bürger.

Aber was Sie für das nächste Jahr vorhaben, Herren Landeshauptmann und Landtagspräsident, das ist, ich kann es nicht anders sagen, eine Sauerei. Ich spreche vom LGE Noggler zur direkten Demokratie. Abschaffung des bestätigenden Referendums. Aushöhlung des Bürgerrates. Aussiedelung des Büros für politische Bildung vom Landtag an die Eurac (vielleicht an das Büro für Autonomy Experience, also ans Autonomiemarketing?) und Ausbau des politischen Einflusses.

Wir sehen: Die Raumordnung soll nicht das einzige Gesetz bleiben, das man noch nicht mal zur Anwendung kommen lässt, bevor man schon beginnt, es zu ändern und zu verschlechtern. Nun soll das Gesetz für direkte Demokratie dasselbe Schicksal ereilen. Liegt es vielleicht daran, dass beide Gesetze mit Einbindung der Bürger*innen entstanden sind? Offensichtlich ist das eine ganz schlechte Voraussetzung für die Haltbarkeit der Gesetze in unserem Land.
Sepp Noggler, Arno Kompatscher, was Sie da vorhaben, ist ein Hohn für alle jene, die sich für mehr Beteiligung eingesetzt haben, die ihre Gedanken eingebracht haben, die zu den Veranstaltungen gekommen sind, die gestritten haben, um zu einem Kompromiss zu gelangen. Ich spreche wohlgemerkt von den Bürgerinnen und Bürgern, die dieses Gesetz mitgeschrieben haben und die sie jetzt regelrecht verschaukeln. Ohne Grund noch dazu. Es hat bis dato keine einzige schlechte Erfahrung mit einem bestätigenden Referendum gegeben. Noch kein einziger Bürgerrat hat stattgefunden. Das Büro für politische Bildung hat noch keinen Bleistift gebraucht. Was für ein schlechtes Zeichen, Landeshauptmann und Sancho Landtagspräsident Pansa. Sie werden nie mehr als Verfechter von Partizipation zu gelten haben. Das war einmal.

Angesichts dieses Sündenfalls sind auch die Nachhaltigkeitsbeteuerungen in Ihren Haushaltsreden leere Worte.

Nachhaltigkeit ohne Beteiligung ist nicht.

Wie wollen Sie die Nachhaltigkeit vorantreiben, wenn Sie die Beteiligung zurückschrauben?

Am Prozess erkennt man immer, ob der Inhalt ehrlich ist oder nicht. Und an den demokratischen Prozessen kann man die Ehrlichkeit der politischen Führung verifizieren.

Die Reform nach dem Krisenjahr 2020 müsste eine radikale Reform sein. Mein Vorschlag für den passenden Hashtag: #brauchenwirdaswirklich? Die Grundfrage der Nachhaltigkeit ist die Verifizierung dessen, was wirklich wichtig und notwendig ist.

Wir können gern auf den Kinderlandtag hören, da war es in der Klarheit der Jugend deutlich formuliert. Die Forderungen der jungen Leute waren nicht:

  • Ausbeutung
  • Recht des Stärkeren (mit Betonung auf „des“)
  • Interessensvorzug
  • Raubbau
  • Trennung der Sprachgruppen
  • Ausgrenzung
  • Kommando

Vielmehr wünschte man sich:

  • Gesundheit
  • Wohlbefinden
  • Gemeinschaft
  • Auskommen
  • Schutz der Umwelt
  • Gerechtigkeit

Auf dieser Grundlage dürfte es gar nicht einmal so schwer sein, die Agenda 2021 festzulegen und die wichtigsten Gesetzesvorhaben umzusetzen.

Die Wohnbaureform (sie kommt ja auch heuer wieder nächstes Jahr) nach Maß der Menschen, der Generationen, der Umweltverträglichkeit.
Den Sozialplan, ausgehend von Mitsprache und Schutz der Verletzlichkeit.
Die Klimaagenda, mit einer ehrlichen Debatte über Energie, Demokratie und Verantwortung.
Die Landwirtschafts- und Verbraucherwende im Zeichen von Klimaschutz und Biodiversität.
Die Enthierarchisierung und Horizontalisierung des Gesundheitswesens mit Schwerpunkt von Prävention und Territorium.
Eine neue Würdigung der Arbeit.

Die Verantwortungsübernahme für das Gemeinwohl seitens aller (mit dem Lob an die Steuermoral im Lande wäre ich vorsichtig, wenn das Ausmaß der nicht gezahlten Steuern 1/5 des Landeshaushalts ausmacht).

Die Gleichstellungsreform, Thema, in dem jeder einzelne Schritt ein unendlicher Kampf ist. Und, NEIN, Herr Landesrat für Chancengleichheit, das Bügeln ist sehr wohl ein Maßstab für Geschlechtergerechtigkeit! Auch an den Hemden werdet ihr sie erkennen (die Machos)! Und, JA, das Problem ist weitreichender und geht von der Gehalts- und Rentenschere über die Vertretung in den Gremien bis zum elementarsten Grundrecht des Schutzes vor Gewalt. Was gibt es hier noch alles an Kultur- und Vereinbarkeitsarbeit zu leisten!

Zusammenhalt und Vertrauen waren die Schlüsselworte, die der Landeshauptmann, Chef der Regierung Svp/Lega Salvini für das Jahr 2021 ausgegeben hat. Gute Worte. Wenn sie mit Leben gefüllt und nicht von den Prozessen selbst schon an der Wurzel widerlegt werden.

Ich würde daher noch ein Schlüsselwort dazu fügen, nämlich Ehrlichkeit.

Das würde uns auch in der Kommunikation nach Außen nicht schaden. Vor allem aber würden wir unserem Selbstbild gerechter werden.

Wir können damit beginnen, ehrliche Worte zu verwenden.

Wir sind ein Land, in dem es sich zu leben lohnt. Wir müssen uns aber nicht dazu erheben, alljährlich der „lebenswerteste Lebensraum in Europa“ zu werden. Das ist eine Floskel, die gar nichts bedeutet, und uns nur stresst. Denn woran wollen wir unsere Lebenswertigkeit messen? Am BIP pro Kopf, an der Siuizidrate, an den Scheidungen, an den Quadratmetern pro Familie?
Ist das Trentino lebenswerter als Südtirol? Mecklenburg Vorpommern lebenswerter als Andalusien? Schauen wir, dass das Leben im Lande ganz simpel und einfach lebenswert ist. Das ist schon viel genug, das ist alles was wir für unser Land tun können.

Dass wir aufhören uns so zu überschätzen, könnte ein Effekt von Corona sein. Dass wir Demut nicht nur in Antrittsreden üben, sondern im politischen Alltag und, warum nicht, auch im Marketing. Ehrlichkeit, Wahrheit. Zeigen wir uns auch in unserer Verwundbarkeit. Dann wird auch das Vertrauen wachsen.

Forse così qualche filo si riallaccia.

Gute Arbeit für 2021. E buona vita.

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S. Bernhard Mi., 16.12.2020 - 15:45

Vielleicht noch ein kleiner Zusatz zum Nachdenken. Was will man von einer Partei erwarten, dessen Vertreter in Rom sich vehement GEGEN eine Reichensteuer ausspricht und dem normalen Bürger vorgaukelt, auch sein mühevoll erspartes Eigenheim wäre in Gefahr? Nichts!

Mi., 16.12.2020 - 15:45 Permalink
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Herta Abram Mi., 16.12.2020 - 22:51

Danke Frau Brigitte Foppa! Für Ihr Engagement, Ihr Wissen, Ihre umfassende Bedachtheit und Besonnenheit und - ganz besonders – für Ihr Offensein für das Menschsein.
Ich wünsche mir, dass Ihre Appelle und Mahnungen gehört werden. Weil, um sicher in die Zukunft navigieren zu können, müssen wir und die PolitikerInnen unhaltbare Einstellungen überwinden, andere Fähigkeiten als bisher entwickeln, Ungewissheiten aushalten, flexibel auf Unvorhergesehenes reagieren und ungewöhnliche Denkwege gehen, um Lösungen zu finden.

Mi., 16.12.2020 - 22:51 Permalink