Politik | Interview

“Eine Chance, neue Wege zu gehen”

Die zukünftige Primarin der Pädiatrie in Sterzing, Micòl Cont, spricht über ihre Erfahrung in der Schweiz und Innovationspotential für Kindergesundheit in Südtirol.
Micol Cont
Foto: Privat

Die gebürtige Meranerin Micòl Cont ist ab Januar Primarin der Pädiatrie in Sterzing. Ihre Ernennung als Primarin ist für die Gesundheitsdirektion ein starkes Zeichen für die kleineren peripheren Krankenhäuser im Land. Warum ist das so? Und welche Ideen möchte Micòl Cont nach Sterzing bringen?

salto.bz: Sie studieren, arbeiten und unterrichten seit 14 Jahren in Zürich. Warum kommen Sie jetzt nach Südtirol zurück?

Micòl Cont: Zürich ist eine unglaublich tolle Stadt, die vor allem jungen Paaren viele Möglichkeiten bietet! Die Geburt meines ersten Sohnes vor sieben Jahren hat meine Wahrnehmung der Stadt aber verändert. Heute habe ich zwei Kinder, eines davon im Vorschulalter. Wir standen also vor der Frage: Wollen wir in Zürich sesshaft bleiben oder zurück nach Südtirol? Als Familie haben wir die Möglichkeiten, die Südtirol bietet (zum Skifahren muss man keine drei Stunden in die Berge fahren!), der Großstadt vorgezogen.

Wie hat sich die Primarstelle in Sterzing ergeben? 

Ich lege viel Wert auf eigene Gestaltungsmöglichkeiten und habe diese auch als Oberärztin in der Schweiz nutzen können. Deshalb kamen für mich nur eine eigene Praxis oder eine Primarstelle infrage. Als die Primarstelle in Sterzing ausgeschrieben wurde, habe ich mich dafür beworben. Und siehe da, sie haben sich für eine Frau mit zwei kleinen Kindern entschlossen! Das ist keine Selbstverständlichkeit…

 

Sie haben eineinhalb Jahre in Meran gearbeitet und sind erst später nach Zürich. Welche Unterschiede sind Ihnen damals aufgefallen zwischen der Arbeit in Südtirol und der Schweiz?

Die Schweiz hat mir die Möglichkeit gegeben, mich strukturiert weiterzubilden. Aufgrund des Ärztemangels blieb in Südtirol neben der Patientenbetreuung kaum Zeit für die Ausbildung. In Zürich war alles sehr strukturiert. Ich hatte Zeit, mich einzuarbeiten und für jeden erdenklichen Fall gab es ein Merkblatt. Auch die Fehlerkultur in Zürich war eine andere: Fiel jemandem, egal wem, ein Fehler auf z. B. eine falsche Verschreibung oder ein schroffer Umgang mit dem Patienten, wurde dies gerade heraus gesagt, aufgeschrieben und dann in der Patientensicherheitsgruppe besprochen. Es wurde versucht, den Prozess zu verstehen, der zum Fehler geführt hatte, ohne dies auf den Einzelnen abzuwerfen. Diese gesunde Fehlerkultur hat mich in meinen Zweifeln unterstützt und mir dabei geholfen aus Fehlern zu lernen. So konnten wir Prozesse optimieren und sogar Änderungen im Arbeitssicherheitsgesetz erreichen. Stell Dir vor, 70 % der medizinischen Fehler beruhen auf Kommunikation!

Noch etwas ist mir aufgefallen: Flache Hierarchien! Vom ersten Tag an war ich mit dem Professor in Zürich per Du – auf vielen Ebenen. Diese Haltung möchte ich in Sterzing weiterleben.

Sie haben sich für eine Frau mit zwei kleinen Kindern entschlossen! Das ist keine Selbstverständlichkeit.

In Südtirol flammt die Diskussion zur Schließung oder teilweisen Schließung der peripheren Krankenhäuser immer wieder auf. Zu Recht? 

Ich bin davon überzeugt, dass es auch die kleinen Krankenhäuser im Land braucht. Ortsnahe Betreuung ist unabdingbar. Aus Platzmangel im Kinderspital Zürich kam es vor, dass ich Patienten nach Chur oder Genf verlegen musste. So eine Situation ist nicht nur für die Kinder kaum tragbar, sondern auch für berufstätige Eltern, die sich womöglich um weitere Kinder kümmern müssen. 

In Sterzing haben wir das Privileg, uns nicht nur um Notfälle und chronische Patienten zu kümmern. Wir führen auch die Vorsorgeuntersuchungen für die Täler durch. Für 2000 – 3000 Kinder sind wir auch die Kinderärzte. Es ist ein Mix zwischen Spital und großer Praxis. Trotzdem: Ortsnahe Betreuung muss abgestuft sein. Bei zu komplexen Problemen bin ich froh, die Krankenhäuser in Bozen und Innsbruck in der Nähe zu wissen.

Die Geburtenabteilung in Sterzing wurde vor einigen Jahren geschlossen. Sie haben selbst auf der Neonatologie gearbeitet –, würden Sie sich gerne dafür einsetzen, dass diese wieder geöffnet wird?

Persönlich habe ich natürlich ein großes Interesse an der Neonatologie. Mein Weg ist jetzt aber ein anderer. Die ersten 10 Minuten im Leben eines Menschen sind die wichtigsten. Wenn hier etwas schief läuft, trägt das Kind die Probleme lebenslang mit sich. Deshalb ist das Setting, in dem ein Kind geboren wird, unglaublich wichtig. Ich bin froh, die Kenntnisse zu haben, um in Notfällen eingreifen zu können. Aber aufgrund der Patientensicherheit ist es erforderlich, die Geburten jenen Krankenhäusern zu überlassen, die darin trainiert sind und auch den nötigen Personalschlüssel dafür haben. Die Schließung der Geburtenstation gibt uns die Chance, uns in andere Richtungen weiterzuentwickeln.

 

Was könnte diese neue Richtung sein? 

Ich würde gerne die Betreuung der Kleinkinder, also Kinder unter vier Jahren, ausbauen. Hier möchte ich den Fokus auf Gesundheitsförderung, Prävention und Entwicklungspädiatrie legen. Dabei geht es nicht nur um die körperliche Gesundheit des Kindes, sondern auch um soziale Fragen: Welche Strukturen braucht es, damit Kinder optimal aufgefangen werden können? Wie können Eltern unterstützt werden? Wie kann das Kind Selbstvertrauen erlernen? Prävention ist nicht nur Impfung, es geht auch darum, durch eine regelmäßige Begleitung Defizite und Potenzial der Kinder zu erkennen. Prävention heißt auch das Erkennen von kritischen Momenten im Umfeld des Kindes, also Momente, die unbeachtet zu einer Gefährdung des Kindeswohls führen würden. 

Deshalb möchte ich beispielsweise eine pränatale Visite einführen. Eltern dürfen also vor der Geburt zu uns kommen, um uns kennenzulernen und ihre Fragen zu stellen. So können wir auch verstehen, in welche Familie ein Kind geboren wird und wie das soziale Netz ist. Gibt es etwas, das unterstützt werden muss?

Das klingt nach einer engen Zusammenarbeit mit sozialen Einrichtungen.

Ja, auf jeden Fall. In der Schweiz wird sehr eng mit anderen sozialen Strukturen zusammengearbeitet. Auch in Südtirol gibt es Ansätze. Wenn eine junge, überforderte Mutter es nicht schafft, egal aus welchem Grund, sich um ihr Kind zu kümmern, muss ich hellhörig werden und sie an Strukturen überweisen, die sie und das Kind auffangen. Es braucht jemanden, der die Situation erkennt. Kinderschutz geht uns alle etwas an; auch wir Ärzte sind gefragt. Deshalb ist eine enge Zusammenarbeit des Gesundheit-, Sozial- und Bildungssystems auf jeden Fall wünschenswert.

Prävention heißt auch das Erkennen von kritischen Momenten im Umfeld des Kindes, also Momente, die unbeachtet zu einer Gefährdung des Kindeswohls führen würden. 

Sie waren in Zürich und Lugano auch als Dozentin tätig. In Sterzing gibt es nur wenige Ausbildungsplätze. Können Sie ihre Lehrerfahrung trotzdem verwerten?

Lehre ist nicht nur Wissensvermittlung. Alle 10 Jahre verdoppelt sich unser medizinisches Wissen, das kann und muss man auch nicht alles wissen. Die medizinische Expertise beruht auf drei Pfeilern: Wissen, Fertigkeiten und Haltung. Vor allem die Haltung macht für einen Patienten einen guten Arzt aus. Daran können wir immer und überall arbeiten.

Auch ein “Skills-lab”, wie wir es in Zürich hatten, könnte in Sterzing sehr gut umgesetzt werden. Assistenzärzte, Pflegepersonal, aber auch andere Ärzte, die Kinder im Notfall betreuen, können dort wichtige Fertigkeiten erlernen. Wie fasse ich ein Neugeborenes an? Wie führe ich eine kindgerechte Untersuchung durch?

 

In Südtirol wird immer wieder der Gedanke laut, dass man als Primar zwar viel Verantwortung trägt und auch zeitlich sehr eingespannt ist, aber kaum Gestaltungsmöglichkeiten hat. Machen Sie sich darüber Sorgen? 

Ich bin ein ideenreicher Mensch. Ich fange erst im Januar an, aber wir haben schon damit begonnen, an einigen dieser Ideen zu arbeiten. Unser Ziel ist es, in den nächsten zwei Jahren ein Frauen-Kind Gesundheitszentrum in Sterzing aufzubauen. Die Bezirksdirektorin war sehr wohlwollend dem Projekt gegenüber, auch der Landesrat für Gesundheit wurde bereits informiert. Ich bin zuversichtlich, dass es Gestaltungsfreiheit und Offenheit gibt. 

Welche Schwierigkeiten erwarteen Sie? 

Das Zeitmanagement wird sicherlich eine große Herausforderung. Auch die Abläufe muss ich alle erst kennenlernen. Wer weiß worüber Bescheid? Aber ich bin sehr optimistisch!

Sie haben bis letzten Freitag noch in Zürich gearbeitet. Wie hat die Pandemie die Arbeit auf der Pädiatrie verändert?

Die Situation in der Schweiz ist nicht direkt mit der in Südtirol vergleichbar. Die Schweiz hatte einen zeitlichen Vorsprung, größere Kapazität mit der Situation umzugehen und hat von Beginn an einen sehr pragmatischen Ansatz gezeigt.

Als die Schulen geschlossen wurden, wurde gleichzeitig entschieden, zwei Abteilungen im Kinderspital zu schließen. Eine davon meine. Diese wurden dann über Nacht zu einer Abteilung für junge Erwachsene und fast erwachsene Kinder umgerüstet, teils mit Beatmungsplätzen. Über das Wochenende wurde das Personal umverteilt und Medizinstudenten für die Kinderbetreuung engagiert. Zum Glück kam es nicht zum Worst Case Szenario. Die infizierten Kinder zeigten einen milden Verlauf und konnten mehrheitlich ambulant betreut werden, und die Erwachsenen wurden in anderen Krankenhäusern betreut. Darüber waren wir Kinderärzte natürlich sehr froh.

Wir befinden uns mitten in einer Pandemie, Sie sind verheiratet, haben zwei kleine Kinder. Viele fragen sich: Warum tun Sie sich den Stress an?

Ich bin Frau, Kinderärztin und Mutter. Immer. Und ich bin sehr glücklich damit.

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Michl T. Mo., 21.12.2020 - 11:37

toll dass auch Ärzte wieder zurückkommen und ordentliche Stellen kriegen!
tut auch gut zu sehen dass die periphären Krankenhäuser nicht abgepackt sondern aufgewertet werden.
Willkommen zurück Frau Cont!

Mo., 21.12.2020 - 11:37 Permalink