Gesellschaft | Klatschpresse

#voyeurismus

Die Berichterstattung im Fall der Familie Perselli-Neumair hat leider nichts mehr mit objektiver Information zu tun, sondern hat unterstes Klatschpresse-Niveau erreicht.
Hinweis: Dieser Artikel ist ein Beitrag der Community und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.
 
In den letzten Tagen und Wochen hat sich in mir ein Gefühl zur Gewissheit gesteigert. Die Berichterstattung im Fall der Familie Perselli-Neumair hat leider nichts mehr mit objektiver Information zu tun, sondern hat unterstes Klatschpresse-Niveau erreicht.
 
Natürlich besteht in der Öffentlichkeit ein großes Interesse an dem Fall, aber das darf nicht dazu führen, dass privateste und intimste Details aus dem Leben einer Familie zur Auflagensteigerung missbraucht und bis ins kleinste Detail öffentlich ausgeschlachtet werden.
 
Journalistinnen und Journalisten haben hier eine große Verantwortung – oder besser gesagt, sie hätten diese, denn sie werden ihr in diesem Fall zu oft nicht gerecht.

Einen neuerlichen Tiefpunkt stellt für mich das heute in einer Tageszeitung erschienene Interview mit dem Psychiater Paolo Crepet dar. Dieser „Experte“ stellt in inakzeptabler Weise Ferndiagnosen zum psychologischen Zustand des Verdächtigen, liefert noch dazu noch das Tatmotiv und bezichtigt die Tochter von Laura Perselli und Peter Neumair gar, nicht mir den Ermittlungsbehörden zu kooperieren. Was erlaubt sich dieser Herr eigentlich?

Psychiatrische Ferndiagnosen sollten tabu sein - eigentlich. Die American Psychiatric Association und die American Psychological Association haben schon vor Jahren darauf hingewiesen, dass die sogenannte Goldwater-Regel zu den ethischen Mindeststandards gehört, an welche sich ihre Mitglieder halten sollten.
Diese Regel ist nach einem ehemaligen Präsidentschaftskandidaten - Senator Barry Goldwater – benannt, welchem 1963 in einer Umfrage unter Psychiater*innen und Psycholog*innen eine Nichteignung zum Präsidenten bescheinigt wurde. Natürlich ohne, dass diese jemals mit ihm persönlich gesprochen hätten.
So erklärte in der Folge bereits 1973 die Amerikanische Psychiatrische Gesellschaft es sei "unethisch für Psychiater, eine professionelle Meinung zu äußern, bevor er oder sie eine Untersuchung vorgenommen und die Erlaubnis der Betroffenen erhalten hat, sich darüber zu äußern". Die Goldwater-Regel gilt auch außerhalb der APA als wichtiger ethischer Standard in der Psychologie und Psychiatrie.
 
Was bezweckt das Interview mit Herrn Crepet also? Sind jetzt nicht mehr Gerichte dafür zuständig, über Schuld und Unschuld einer Person zu entscheiden und muss eine solche Verletzung beruflicher Ethik auch noch abgedruckt werden?
Ist den Pressevertretern eigentlich bewusst, dass - sollte es in diesem Fall zu einem Prozess kommen – es sich um einen Schwurgerichtsprozess handelt, bei welchem auch Laienrichter*innen vorgesehen sind? Nach solchen Berichten, wie wir sie in den letzten Tagen lesen mussten, wird es sehr schwer sein, unvoreingenommene Laienrichter*innen zu finden. Jede und jeder hat sich hier bereits ihr eigenes Urteil gebildet – und dieses Urteil wird maßgeblich von der Berichterstattung beeinflusst.
 
Die Grundfrage sollte immer sein: zielt Berichterstattung wirklich auf sachliche Information ab, oder soll möglicherweise nur billiger Voyeurismus befriedigt werden?
 
Deshalb meine Bitte: Geehrte Journalistinnen und Journalisten, kehrt zurück zu seriöser Berichterstattung – nicht nur aus Respekt vor der betroffenen Familie, sondern auch aus Respekt vor Eurem eigenen Berufstand
Bild
Profil für Benutzer Mart Pix
Mart Pix Mo., 08.02.2021 - 16:04

"Sind jetzt nicht mehr Gerichte dafür zuständig, über Schuld und Unschuld einer Person zu entscheiden"

Aha, das sagt gerade ein Grüner. Die Grünen sind ja bekannt sich überheblich über andere zu stellen und über andere zu lästern.

Mo., 08.02.2021 - 16:04 Permalink
Bild
Profil für Benutzer Hartmuth Staffler
Hartmuth Staffler Mo., 08.02.2021 - 16:38

Antwort auf von Mart Pix

Es stimmt, dass die Grünen gerne selbstherrlich andere Menschen ohne Widerspruchsmöglichkeit verurteilen. In diesem Fall muss ich aber dem Herrn von Wohlgemuth zustimmen. Die Berichterstattung unserer Medien ist in solchen Fällen, nicht nur in diesem, voyeuristisch. Zur Erklärung - nicht unbedingt zur Rechtfertigung - dieses Verhaltens möchte ich darauf hinweisen, dass der Erwartungsdruck von Seiten der Leser enorm ist. Oft ist mir in meiner Laufbahn als Journalist vorgeworfen worden, dass eine gewisse andere Zeitung über einen Kriminalfall oder ein Unglück "viel mehr" geschrieben habe. Abgesehen davon, dass diese "andere" Zeitung auch ganz andere Kontakte zu den italienischen Behörden (Carabinieri, Staatspolizei) hatte, waren es meist nur rein persönliche Details, die den angeblichen Mehrwert ausmachten, und die mir zwar oft bekannt waren, die ich aber aus Gründen der Diskretion nicht veröffentlicht habe. So habe ich auch nach ausführlichen Gesprächen mit dem bekannten Psychiater Prof. Erwin Ringel schon vor vielen Jahren begonnen, Suizidfälle besonders delikat zu behandeln, während die mir vorgehaltene "andere" Zeitung nicht genug Details davon bringen konnte. Ein Journalist kann sich also zurückhalten, er muss aber den Rückhalt seines Herausgebers haben und über den Spott vieler seiner Leser erhaben sein. Auf wen trifft das heute noch zu?

Mo., 08.02.2021 - 16:38 Permalink
Bild
Profil für Benutzer Franz Berger
Franz Berger Fr., 12.02.2021 - 13:27

Ich finde es schade, wenn sich Kommentare nicht auf die Grundaussage eines Beitrags beziehen und wenn ein Satz schon genügt, um den Autor zu disqualifizieren, weil er ein Grüner ist, in diesem Fall, in anderen Fällen vielleicht ein Super-Patriot oder ein Liberaler. So kommt keine echte Diskussion zum aufgeworfenen Thema zustande.
Felix von Wohlgemuth hat die journalistisch bedenkliche Berichterstattung im Fall Neumair kritisiert und die anmaßende Fremddiagnose des Psychiater-Stars Paolo Crepet. Dem ist nur zuzustimmen. Ich möchte nur hinzufügen, dass es sich die Medien oft leicht machen, indem sie einen bekannten Experten interviewen, von dem sie wissen, dass er gerne und jederzeit Interviews gibt, ob passend oder nicht. Man sollte schon mal auch Leute interviewen, die vielleicht weniger bekannt sind, aber ein solche Thematik grundsätzlicher und breiter besprechen können. Aber dazu muss man sich halt Zeit nehmen zu Recherchen.

Fr., 12.02.2021 - 13:27 Permalink