Politik | Kolonialverbrechen

"Südtiroler waren beteiligt"

In Italien, besonders in Südtirol herrscht kolonialer Gedächtnisverlust. Es fehlt eine historische Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte des Landes.
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Foto: Afa M.

Video: 19. Februar: Antikolonialistischer Aktionstag | Febbraio 19: giornata d'azione anticoloniale

In Italien, besonders in Südtirol herrscht kolonialer Gedächtnisverlust. Es fehlt nicht nur eine historische Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte des Landes, sondern auch erinnerungspolitische Projekte, welche Schauplätze kolonialer Geschichte kritisch beleuchten, oder im besten Falle mit Widerstandsgeschichten den kolonialen Blick aufbrechen.

Im Gegenteil, Kolonialverbrechern wie Mussolinis „Vizekönig“ Rodolfo Graziani wird in Affilebei Rom ein Ehrendenkmal errichtet und im Jahr 2020 öffnet die „Mostra d’oltre Mare“, die damalige faschistische Kolonialschau (siehe Artikel Abbamagal), wieder ihre Tore! Im ganzen Land gibt es unzählige Straßen, die immer noch nach Kolonialverbrechern benannt sind und Orte, welche Kolonialgeschichte bagatellisieren oder gar verherrlichen.

Die von 1936 bis 1941 bestehende Kolonie des faschistischen Italiens wurde von den Imperialist*innen „Italienisch-Ostafrika“ genannt. Darunter fielen Gebiete wie das heutige Eritrea, Teile Somalias und Abessinien (heute Äthiopien). Besonders die Besatzungsherrschaft in Äthiopien war von außerordentlicher Brutalität und Grausamkeit gekennzeichnet. Insgesamt fielen dem faschistischen Kolonialregime zwischen 150.000 und 700.000 Äthiopier*innen zum Opfer.

Der 19. Februar markiert den Jahrestag des Pogroms von Addis Abeba. Zwischen dem 19. und dem 23. Februar 1937 wurden in der Hauptstadt von den faschistischen Soldaten gezielt Schwarze Bewohner*innen ermordet. Die Faschisten führten Massenexekutionen durch, es kam zu Misshandlungen, Plünderungen und dem Niederbrennen tausender Häuser in der Stadt.

Kurz vorher hatte es einen Anschlag auf den Faschisten Rodolfo Graziani gegeben, der schwer verletzt überlebte. Die Faschisten bekamen daraufhin einen dreitägigen „Freibrief“ um sich uneingeschränkt an der kolonisierten Bevölkerung zu rächen. Dunkelziffern zu Folge fielen etwa 20 % der damaligen Stadtbevölkerung dem faschistischen Pogrom zum Opfer. Auch Südtiroler waren an den Gräueltaten beteilitgt, doch eine Aufarbeitung oder Erinnern bleibt bisher weitgehend aus.  Über 1.300 Südtiroler waren im damaligen Abessinien stationiert. Erinnert wird daran kaum und wenn dann lückenhaft oder gar verfälscht.

Im Jahr 2009 stellt die Südtiroler Freiheit einen Antrag, um unter anderem die faschistischen Gewaltverbrechen in Äthiopien als Genozid anzuerkennen. Die Beteiligung von Südtirolern wird darin nicht erwähnt. Zudem fehlt die Forderung, aus dem Gedenken historische Verantwortung zu ziehen, oder koloniale Kontinuitäten im Lande kritisch aufzudecken. Das Wort Rassismus kommt darin auch nicht vor. Es ist eine weiter Instrumentalisierung dieser reaktionären Partei, um sich unter vermeintlichem Gerechtigkeitsanspruch populistisch vom Staat Italien abzugrenzen.

Wir hingegen fordern ein antifaschistisches Gedenken. Ein Gedenken, aus dem die Verantwortung erwächst, dass wir so etwas nicht mehr zulassen dürfen. Ein Gedenken, welches die Kolonialgeschichte Italiens offenlegt und die Kontinuitäten, wie den tief verankerten Rassismus in unserer Gesellschaft bekämpft.

Die Spuren der verschwiegenen Kolonialgeschichte Italiens finden sich auch in Südtirol. Neben Rom und Turin finden sich vor allem in Bozen, aber auch Meran, Brixen und Bruneck, viele dieser Spuren:

  • in Bozen beispielsweise die Amba-Alagi-Straße, die Antonio-Locatelli-Straße, die Padre-Reginaldo-Giuliani-Straße, die Tripolisstraße, die Siegessäule hinter dem Siegesdenkmal und die Otto-Huber-Kaserne;
  • in Meran das Alpini-Denkmal, die Otto-Huber-Straße und die Wackernell-Gedenktafel;
  • in Brixen die Sader-Gedenkstätte;
  • in Bruneck das Alpini-Denkmal;
  • zudem die Antonio-Locatelli-Hütte (Dreizinnenhütte) in den Sextner Dolomiten.

Die meisten dieser Spuren sind in der interaktiven Karte Viva Zerai verzeichnet, für Bozen ist ein Blick auf die Seite postcolonialitaly lohnenswert (kurzer Überblick auf Deutsch bei BBD).

Für den 19. Februar, dem Jahrestag des Pogroms von Addis Abeba, ruft das Wu-Ming-Kollektiv zu einem Aktionstag mit direkten, dezentralen Aktionen auf, um die Spuren der Kolonialgeschichte sichtbar zu machen: Durch Farbmarkierungen, Überkleben, Informationsschildern oder ähnlichem. Diesem Aufruf schließen wir uns an.

Denn Geschichte lebt zwischen uns weiter, und die Art wie wir auf sie in der Gegenwart einwirken, nimmt Einfluss auf unsere Zukunft. Die italienische Kolonialgeschichte ist geprägt von Menschenverachtung, Brutalität und Faschismus. Die Orte des Verbrechens sollten die Namen des Widerstands tragen.

Lasst uns den Opfern gedenken und ein antifaschistisches Versprechen abgegeben: Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!

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Profil für Benutzer Klemens Riegler
Klemens Riegler Fr., 12.02.2021 - 18:29

..."Über 1.300 Südtiroler waren im damaligen Abessinien stationiert. Erinnert wird daran kaum und wenn dann lückenhaft oder gar verfälscht." ... aber, so wie viele Soldaten in Kriegen, waren auch diese Südtiroler nicht freiwillig in Abessinien, sondern "im Dienst". So grausig das klingen mag, aber gut 80% der Männer waren damals im Krieg (da und dort - herinnen & draußen) und dachten leider das richtige zu tun. Der Rest wurde gezwungen! Die Mitschuld war und ist überall groß und in der Mehrheit, da die meisten davon "Mitläufer" waren. Gegen die damaligen Systeme aufgestanden waren schließlich nur wenige, sehr wenige. Und die haben es mit dem Leben bezahlt. ... Schuld?

Fr., 12.02.2021 - 18:29 Permalink
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Salto User
Manfred Gasser Fr., 12.02.2021 - 20:14

Antwort auf von Sepp.Bacher

Ich denke, Sie wollen es sich nicht vorstellen. Ich will mir ja auch nicht vorstellen, dass mein Onkel mit Begeisterung gegen Stalingrad gezogen ist. Wahrscheinlich gab und gibt es braune und schwarze Südtiroler, genauso wie braune und schwarze Amerikaner, Deutsche, Schweden, usw., usw., und deswegen finde ich es gut, immer wieder daran zu erinnern, an das Grauen, von früher und von heute, um nicht zu vergessen.

Fr., 12.02.2021 - 20:14 Permalink
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Meine Ansicht Fr., 12.02.2021 - 19:43

Südtiroler sind immer Opfer, nie Täter. Dieses Narrativ sollte endlich ad acta gelegt werden. Vergangenheitsbewältigung durch Verdrängung und Relativierung der Tatsachen gelingt nicht.

Fr., 12.02.2021 - 19:43 Permalink
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Hartmuth Staffler Mi., 17.02.2021 - 17:44

Man sollte auch erwähnen, dass sich hunderte junge Südtiroler durch Flucht über die Grenze der Pflicht entzogen haben, für Italien in den Krieg gegen Äthiopien zu ziehen. Einige wenige haben auch ganz konkret Widerstand geleistet und sind zu den bedrängten Äthiopiern übergelaufen. Auch das wird verschwiegen. Verschwiegen wird auch das Wirken der Widerständler und Deserteure, die sich der Einberufung zur Deutschen Wehrmacht entzogen haben und nach dem Krieg von Italien vor Gericht gestellt wurden, verschwiegen wird der Heldenmut des Polizeiregimentes Brixen, das den Eid auf den Führer verweigert hat und deswegen an der Ostfront verheizt wurde, verschwiegen wird, dass der Obmann des Andreas Hofer-Bundes und aktive Widerstandskämpfer Hans Egarter nach dem Krieg von der italienischen Justiz wegen seiner Kontakte zum österreichischen Widerstand verfolgt und von den italienischen Partisanen ausgegrenzt wurde. Es wurde und wird viel verschwiegen, aber mit gegenseitigen Vorhaltungen und Beschuldigungen, wie es dieser Artikel beispielhaft tut, wird man das Problem nicht lösen.

Mi., 17.02.2021 - 17:44 Permalink
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S. Bernhard Mi., 17.02.2021 - 17:57

Mit den Nazis ist es doch dasselbe. Alles unter den scheinheiligen Tiroler Teppich gekehrt. Wer hat sich denn alles bereichert in dieser Zeit durch die "Zusammenarbeit" mit den Nazis? Ein paar "ehrenwerte" Südtiroler Familien fallen mir da auf Anhieb ein. Aber "lei net rogln", Lieblingsspruch vom Einhaxerten. War ja selbst unter dem Hakenkreuz aktiv.

Mi., 17.02.2021 - 17:57 Permalink
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Salto User
Michael Lochmann Mi., 17.02.2021 - 18:48

Der Beitrag ist lesenswert.

Mit Sicherheit wurde, vielleicht weniger durch Historiker, sondern vielmehr seitens der italienischen Nachkriegspolitik und der italienischen Bevölkerung, die Kolonialgeschichte Italiens zu wenig aufgearbeitet. Sie war, wie geschrieben, "von Menschenverachtung, Brutalität und Faschismus" geprägt.

Ob man wie die Freiheitlichen von einem Genozid sprechen kann? Soweit würde ich mich nicht aus dem Fenster lehnen, dies würde sicherlich einer noch genaueren historischen und juristischen Beschäftigung mit der Thematik bedürfen.

Ein Kritikpunkt: Der Hinweis auf die Freiheitliche Partei und ihren Antrag im Jahr 2009 ist fehl am Platz (Ich meine hier den gesamten Absatz). Er nimmt diesem Beitrag, dem man inhaltlich ganz oder teilweise zustimmen mag oder auch nicht, seine Neutralität und "degradiert" ihn zur Meinung. Oder war der Beitrag als solcher gedacht? Dann hätte der Autor/die Autorin seine/ihre Meinung zum Thema wesentlich häufiger und klarer zum Ausdruck bringen müssen.

Mi., 17.02.2021 - 18:48 Permalink