Gesellschaft | salto Gespräch

“Man nimmt ihnen die Lebensbühne”

Andreas Conca leitet die Kinder- und Jugendpsychiatrie in Südtirol. Er spricht über die Jugend als bequemer Sündenbock und die Herausforderungen von Corona.
Andreas Conca
Foto: Sabes

Er will “den Jugendlichen jetzt wirklich einmal eine Stimme geben, als Erwachsener”. Andreas Conca leitet als Primar und Koordinator den landesweiten Dienst der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Der 59-Jährige weiß, womit Heranwachsende in Corona-Zeiten zusätzlich zu kämpfen haben – und nimmt auch die Erwachsenen in die Verantwortung: “Wir Alten sollten uns einmal fragen, warum wir einen Sündenbock brauchen.”

salto.bz: Herr Conca, im deutschsprachigen Ausland, aber auch in Italien warnen Experten: Fälle von Selbstverletzung, Suizidgedanken und -versuchen, Essstörungen, Depression, Aufmerksamkeitsstörungen unter Kinder und Jugendlichen haben seit Beginn der Corona-Pandemie bzw. der Lockdowns deutlich zugenommen. Beobachten Sie diese Entwicklung auch in Südtirol?

Andreas Conca: Das ist ein sensibles und komplexes Thema. Ich versuche es zusammenzufassen: Im ersten Lockdown waren die Anfragen an die Kinder- und Jugendpsychiatrie im Vergleich zu den Jahren zuvor deutlich rückläufig. Vergleichbares gab es in anderen Bereichen der Psychiatrie und Medizin: Der Routinebetrieb wurde eingefroren. Der erste Lockdown war wie ein Schockzustand.

Um wieviel sind die Anfragen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie zurückgegangen?

Quantitativ haben die Anfragen um 25 bis 30 Prozent abgenommen. Wir wussten aber auch, dass das eine vorübergehende Entwicklung sein würde. Es ist typisch für einen Schockzustand, dass es, wenn er aufhört, einen reaktiven Moment gibt. Entsprechend haben die Anfragen wieder zugenommen, als der erste Lockdown zu Ende war. Vor allem Eltern von Kindern zwischen 6 und 10 Jahren und von Buben haben auffällig häufiger den Dienst angefragt. Zahlenmäßig war die Zunahme genau wieder die 30 Prozent im Vergleich zu den vorhergehenden Jahren. Also zuerst hatten wir eine Reduktion und dann eine Zunahme um 30 Prozent im Vergleich zu den Vorjahren.

Worunter litten die kleinen Patienten, die nach dem ersten Lockdown zu Ihnen gekommen sind bzw. gebracht wurden?

Spezifisch gab es Angststörungen. Und viele Zwangsstörungen, die zum Teil neu waren.

Man verbietet den Jugendlichen genau jenen Raum, in dem sie – in Opposition zu einem bestehenden System – ihre neue Identität entwickeln müssen

Vom Lockdown verursacht?

Das ist die große Herausforderung in der Analyse: Ist die Störung etwas, das spezifisch durch den Lockdown begründet ist? Oder löst der Lockdown etwas aus, was eigentlich schon im Vorfeld da war?

Haben Sie da schon erste Erkenntnisse?

Man kann sagen, dass ungefähr ein Drittel wahrscheinlich Lockdown-spezifisch ist und in zwei Drittel der Fälle etwas ausgelöst wird, das vorher schon da war und einfach nicht mehr kompensiert wird. Ein ganz praktisches Beispiel: Vielen ADHD-Kindern, den Zappelphilipp-Kindern, ist es anfangs im Lockdown besser gegangen – das war erstaunlich –, aber sobald alles wieder aufgegangen ist, waren sie zügellos. Dieses Verhalten war natürlich vorher schon so und nicht allein durch den Lockdown verursacht. Ein anderes Beispiel: Kinder, deren Eltern eher ängstlich sind und sich mit dauerndem Waschen, extremer Sauberkeit und Reinigung an diese Krisensituation anpassen, haben das Verhalten übernommen und sind selbst sehr zwanghaft geworden: Waschzwang, Ritualzwang, Wiederholungszwang. Von diesen beiden Entwicklungen – Fälle, wo bereits vorher eine Vorbelastung da war – abgesehen, haben wir eine dritte beobachtet. Es gibt den Hinweis – und das ist nur ein Hinweis! –, dass bestimmte Kinder diese Lockdown-Situation besonders schwierig verarbeiten: Bei Kindern, die ein relativ gutes Elternhaus haben, wo sie eigentlich gut eingebettet wären, gibt es trotzdem Dysfunktionen. Ob und inwieweit diese mit dem Lockdown zusammenhängen, muss sich erst herausstellen.
Das war die erste. Phase Die zweite Phase, die wir hatten, war die Wiedereingliederung in die Schule und die entsprechenden Entwicklungen.

Was war da anders?

In dieser Phase haben weniger die Kleinkinder und Kinder angefangen zu leiden, sondern die Jugendlichen. Die Jugendlichen sind in der Tat mehr in Krise gekommen. Zum einen im Rahmen von Essstörungen, wie Raffaela Vanzetta aufgezeigt hat. Zum anderen gibt die Tendenz zu Selbstverletzung, zu mehr Konsum von Alkohol oder auch von Cannabis. Dazu kommen bestimmte Auffälligkeiten bei Pubertierenden: Einige verfallen in Depression und Angstzustände, manche auch in prä-psychotische Situationen.

Warum besonders Pubertierende?

Die Pubertierenden verlieren im Moment die Bühne, um ihre Pubertät zu leben, die sensibelste Zeit, in der man das eigene Ich neu definiert – auch über das Körperliche –, in der die Sexualität ausgelebt wird.

Jugendliche müssen Gerüche und Körpersäfte austauschen – man teilt ein Bonbon, einen Apfel, eine Zigarette, vielleicht einen Joint miteinander

Die eigene Identität wird in der Pubertät nicht nur über das Körperliche, sondern auch in der Abgrenzung von den Eltern gebildet. Nun sind junge Menschen seit bald einem Jahr gezwungen, viel mehr Zeit als ihnen vermutlich lieb ist, zu Hause zu verbringen – mit den Eltern, von denen es sie in dieser Lebensphase wegzieht. Das dürfte wohl auch für die Jungen von gestern, also die Erwachsenen von heute, eine nachvollziehbare Horror-Vorstellung sein?

Das ist ein recht Corona-spezifischer Punkt, dass man den Jugendlichen genau jenen Raum wegnimmt und verbietet, in dem sie mit Gleichaltrigen, Gleichgeschlechtlichen und Andersgeschlechtlichen ihre neue Identität entwickeln müssen – gerade in Opposition zu einem bestehenden System. Der Jugendliche leidet zum Teil sehr unter der Situation, die Sie ansprechen, zum Teil nützt er sie aber auch sehr gut aus. Denn er kann sich wirklich reiben – weil die Eltern ja daheim sind. Das ist sonst gar nicht so einfach. Dieser Aspekt wird meiner Meinung nach gesellschaftspolitisch ein bisschen unterschätzt.

Inwiefern?

Eltern werden im Moment nicht nur in der normalen Entwicklung gefordert, im Sinne der Abgrenzung, der Opposition, des Widerstands, des Dagegenredens, sondern auch in ihrer Generation – in den Vorwürfen, die einem die Jugendlichen machen. Das auszuhalten ist nicht leicht.

Dabei haben sie schlichtweg recht, uns zu kritisieren. Ich gehöre zu der Generation, die für vieles (mit-)verantwortlich ist: die Umweltverschmutzung; dafür, dass die Schule im Grunde immer noch eher eine Aufbewahrungsstätte ist und nicht wirklich eine moderne Entwicklung durchlebt hat; dafür, dass politische Systeme sich eher an der Macht und nicht den Bedürfnissen der Bevölkerung orientieren. Wir sind die Generation, die kapitalistisches Denken zu einem Wertesystem erhoben hat, die für Integration und Inklusion nicht ausreichend getan hat, sodass Fremdenhass und Rechtsradikalismus heute Alltag sind und wir in Südtirol ein Nebeneinander leben von Ethnien haben.  Da wirst du als Elternteil vor eine Realität gestellt, wo du dir doch denkst, die Jugendlichen haben mit vielen Dingen gar nicht einmal so Unrecht. Diese Perspektive wird etwas unterschätzt.

Die Corona-Pandemie ist ein Stresstest auf Strukturmängel

Sie sprachen von Störungen, die spezifisch vom Lockdown ausgelöst sind…

Sein könnten! Das ist mir ganz wichtig festzuhalten. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie muss sich hinstellen und sagen: Wir wissen es im Grunde genommen nicht. Sondern wir können annehmen, dass ein Teil dieser Jugendlichen in der Tat eine Identitätsentwicklungsstörung entwickeln könnte, die direkt mit Covid zusammenhängt. Es gibt Indizien, eine Hypothese, dass es in 2 bis 3 Prozent der Fälle tatsächlich so sein könnte. Aber verifizieren wird das eine seriöse wissenschaftliche Untersuchung erst in Jahren können. Man muss sehr vorsichtig sein, denn sonst spricht man schon von “Covid-Generation”.

Für Paul Plener, Abteilungsleiter der psychiatrischen Station am AKH Wien, ist der drastische Anstieg solcher Symptomatiken eindeutig auf die Schulschließungen und die soziale Isolation infolge des Lockdowns zurückführen. Ist es also das Alleinsein, das den Jugendlichen am meisten zu schaffen macht?

Genau. Also es gibt eine ganz tolle, gute Nachricht: Die so genannte digitalisierte Jugend, die sich nur mehr mit dem Handy und dem Computer beschäftigt, braucht ganz offensichtlich haptische, körperliche reale Kontakte. Das hat die Jugend selbst gemerkt: Virtuell ist super, aber real ist eben auch gut.

Gibt es auch eine schlechte Nachricht?

Die schlechte Nachricht ist: In jeder Identitätsentwicklungsstufe braucht es diese haptischen, körperlichen Momente – unsere Identität besteht ja aus Körperlichkeit. Das weiß man vom Kleinkind: Je mehr es gespürt wird, umso mehr kann es eigene Wahrnehmungen entstehen lassen. Jugendliche brauchen soziale Kontakte, Flirt-Momente, müssen Gerüche und Körpersäfte austauschen – zuerst im übertragenen Sinn: man teilt ein Bonbon, einen Apfel, eine Zigarette, vielleicht einen Joint miteinander. Gerade weil ihnen diese Bedürftigkeit so klar wird, leiden sie – weil dieses körperliche Teilen, diese haptischen Momente schlichtweg fehlen! Das Flirten in der Klasse, auch das Ablehnende, Abwertende – “Wie hässlich bist du?”, “Wie stinkst du eigentlich?” –, also das, was man ganz normal zwischen 13 und 18 zu erleben hat, fehlt ihnen. Das Wahnsinnige daran ist: Für diese einmalige Phase in deinem Leben hast du vier bis fünf Jahre Zeit. Und durch diese Lockdowns wird diese Zeitspanne um 20 bis 25 Prozent abgeschnitten. Damit entsteht eine Karenz: Es fehlt die Lebensbühne, auf der du dich nicht zu bewegen oder zu verstecken lernst.

 

Mit 30 oder 40 macht es einem vermutlich weniger aus, ein Jahr oder mehrere Monate auf diese Bühne zu verzichten – während der Lockdown prägende Monate und Jahre der Jugendlichen verschlingt.

Man muss auch da unterscheiden, stratifizieren. Wenn ich bis zum 15. Lebensjahr eine relativ normale – was auch immer normal ist – Entwicklung durchgemacht habe, eine relativ gute Identitätsstärke entwickelt habe, dann werden mir diese fehlenden Monate oder Jahre zwar schon etwas ausmachen, aber ich werde sie wahrscheinlich ersetzen oder nachholen können.
Wenn ich ein relativ gutes Urvertrauen entwickelt habe, mich zumindest gut bewegen kann und erst später meine Ängste entwickelt habe, weil ich z.B. in der Schule gemobbt wurde, dann werden diese Jahre natürlich wie Benzin ins Feuer sein. Je nachdem, wie der Brand gehandhabt wird, können sie gut überwunden werden. Das sind die Kinder, die jetzt mit Zwangsstörungen, Selbstverletzungen oder Depressionen kommen. Von ihnen werden ganz viele nach 6 bis 18 Monaten Therapie wieder ganz normal weiterleben können.
Aber: Wenn ich ein mangelndes Urvertrauen habe, ein negatives sozioökonomisches Umfeld, Eltern, die ihrerseits möglicherweise psychisch krank sind und dann auch noch den Lockdown dazu kriege, ja dann ist das nicht Benzin ins Feuer, sondern eine Atombombe.
Diese Stratifizierung, die notwendig ist, zeigt genau, was wir mit spezifisch Corona-bedingt, durch Corona ausgelöst und durch Corona dann letzten Endes definitiv zerstört meinen.

Je nachdem, welche die Situation des Jugendlichen ist, muss auch die Kinder- und Jugendpsychiatrie reagieren?

Man muss ressourcenorientiert damit umgehen: Bei nur Corona-spezifischen Störungen kann ich von relativ guten Ressourcen ausgehen und diese einfach reaktivieren. Wenn ich davon ausgehe, dass schon etwas im Ungleichgewicht war, muss ich strukturell ansetzen, aber ich kann das Gleichgewicht wieder herstellen. Wenn in der Person aber Struktur fehlt, dann muss ich in eine Strukturanalyse der Person hineingehen und Großarbeit leisten. Ich sage es mit anderen Worten: Bei den einen werden wir einfach sagen können, Hey, unterhalte dich mit Gleichaltrigen, schau jetzt ein bisschen auf dich und lass die Sau raus; bei anderen wird es heißen, horch, du wirst jetzt mindestens sechs Monate lang alle zwei Wochen zu mir kommen müssen, um mit einer psychotherapeutische Intervention das Gleichgewicht herzustellen, möglicherweise mit Unterstützung der Eltern; bei wieder anderen wird man sagen, hey, man muss dein ganzes System rekonstruieren, einfach damit du die Chance kriegst, ein neues Gleichgewicht zu finden; manche werden sich schlichtweg suizidieren; und manche werden einfach Psychopathen.

Es heißt, klug, genau, intelligent hinzuschauen, wissend, wo man rasch intervenieren muss, verstehend, wo man eher unterstützend intervenieren muss und wissend auch, wo man wahrscheinlich gar nichts mehr tun kann.

Wir fangen vorsichtig, aber langsam an, Wartelisten zu erstellen

Erhält jedes Kind und jeder Jugendliche, der aktuell Hilfe braucht, diese auch? Am Wiener AKH wird mittlerweile eine “gewisse Triagierung” durchgeführt und Patienten abgewiesen, weil die Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie voll ist. Wie ist es um die Kapazitäten in Südtirol bestellt?

Wir haben noch keine Überfüllung auf der Abteilung. Das hängt damit zusammen, dass wir – im Gegensatz zu Österreich oder Deutschland – uns immer schon mehr auf die ambulante Betreuung ausgerichtet haben. Das ist ein sehr positiver Aspekt an unserem System. In der Ambulanz haben wir die erwähnten Zunahmen und wir fangen vorsichtig, aber langsam an, Wartelisten zu erstellen. Insgesamt kommen wir als Kinder- und Jugendpsychiatrie den Anfragen noch nach. Weil wir uns darauf eingestellt hatten: Wir haben schon in der Krise mit der Analyse angefangen. Im Lockdown, während der akuten Krisenzeit, haben wir sehr viel aufsuchende Psychiatrie gemacht, die durch die Telematik erleichtert wurde. Den Sommer haben wir genutzt, um vor allem die stationären Therapiemöglichkeiten, die Betten zu erhalten. Die Struktur und die Organisation “tiene botta”, wie der Italiener sagen würde, sie hält stand. Was wir aber brauchen, ist eine vollständige Personalausstattung. Die haben wir schon während den “Friedenszeiten” nicht gänzlich erreicht. Es fehlen uns 10 bis 15 Prozent an Personal.

Das heißt, in der Kinder- und Jugendpsychiatrie mangelt es unabhängig von Corona an Ressourcen?

Ich muss vorausschicken, dass in der Vergangenheit viel investiert wurde: Ich habe hier in Bozen 2012 mit zwei Ärzten angefangen, mittlerweile habe ich fünfeinhalb Ärzte; aus zwei Psychologen sind viereinhalb geworden, aus einem Sozialarbeiter drei, aus keiner Krankenschwester drei. Aber wir wissen, dass wir strukturell vor allem in Ballungszentren wie Bozen immer wieder an den Rand unserer Ressourcen kommen. Seit einiger Zeit laufen intensive Gesprächen mit dem Sanitätsbetrieb deswegen. Denn dass die Anfragen zunehmen werden, war schon vor dieser Krise absehbar. Nicht nur die Anfragen an sich steigen, sondern vor allem wächst die Komplexität. Du begegnest keiner einfachen Depression oder Selbstverletzung mehr. Die Probleme werden immer komplexer.

Warum?

Es fängt an, an verschiedenen Ecken und Enden ein bisschen zu “graschgeln”: Im Bildungsbereich kann Inklusion nicht immer effektiv betrieben werden – weil die Klassen zu groß sind, weil das Personal nicht entsprechend ausgebildet ist etc. Sozioökonomische Verhältnisse verändern sich und wenn Eltern zunehmend in eine bestimmte Insuffizienz geraten, werden natürlich auch die Kinder nicht optimal betreut, auch daheim nicht. Das führt zu immer komplexeren Fällen. Ein Beispiel: Es ist keine Seltenheit, dass wir ein Zappelphilipp-Kind haben, das gleichzeitig eine schwere Lese- und Rechtschreibeschwäche aufweist und gleichzeitig auch noch ein oppositionelles Verhalten zeigt. Da hat man allerhand zu tun, um dem Kind gerecht zu werden. Diese Komplexität ist eindeutig im Zunehmen.

Das, was man ganz normal zwischen 13 und 18 zu erleben hat, fehlt

In der aktuellen Situation wird Heranwachsenden viel Raum genommen und viel Rücksicht abverlangt. Zugleich wird gern mit dem Finger auf sie gezeigt, wenn sie sich nicht strikt an die Corona-Maßnahmen halten. Was bringt es, wenn – etwas überspitzt gesagt – eine ganze Generation zum Sündenbock gemacht wird?

Ganz allgemein: Sündenböcke definiert man immer dann, wenn man ein Problem personalisieren will und ihm offensichtlich nicht gerecht wird. Die Jugendlichen haben sich immer schon dafür angeboten. Sokrates sagte bereits 400 v. Chr. sinngemäß “die Jugend von heute ist nichts Wert”.

Aktuell vermischt sich etwas, was eigentlich unabhängig von Covid eine Realität ist: Jugendliche müssen gegen das System und dementsprechend dessen Vertreter opponieren, damit sie sich selber gut finden und erden. Zugleich geben sie dem System und Vertretern des Systems, sprich uns Erwachsenen, die Chance, Verantwortungen zu reflektieren, die wir ja auch hätten. Fridays for Future ist für mich so ein typisches Beispiel.

Jetzt macht man jemanden zum Sündenbock, der sich natürlich als Sündenbock anbietet, aber eben nicht immer der Sündenbock ist: die Jugend. Dabei merke ich wenn ich unterwegs bin, dass es ganz oft Mittel-Alte sind, die sich nicht an die Richtlinien halten. Auch Verschwörungstheorien finden in dieser Generation besseren Nährboden als unter Pubertierenden. Kurz gesagt: Es macht überhaupt keinen Sinn, die Jugendlichen über den Kamm geschert für etwas verantwortlich zu machen, für das wir mit verantwortlich sind. Das macht überhaupt keinen Sinn. Aber es ist ein Mechanismus, um einem Problem pseudomäßig Herr zu werden, dem man eben sonst nicht Herr wird. Da sollten wir Alten uns einmal fragen, warum wir einen Sündenbock brauchen.

Was kann, gesamtgesellschaftlich gesehen, getan werden, um den Kindern und Jugendlichen die aktuelle Situation zu erleichtern und sie nicht zu vergessen? Welche Handlungsfelder haben Politik, Familien, die jungen Menschen selbst?

Ich versuche eine – für mich – derzeitige Synthese für die Südtiroler Verhältnisse zu ziehen. De facto hat man sich intensiv bemüht, Kindergärten und Schulen offen zu halten bzw. altersgerecht zu gestalten. Das ist nicht selbstverständlich und gehört lobend hervorgehoben. Natürlich gibt es Verbesserungspotenzial. Aber die Tatsache, dass man sich getraut hat, dieses heiße Eisen in dieser Form anzugreifen und damit eigentlich vielen Virologen und Experten zu widersprechen, finde ich persönlich im Risiko-Nutzenverhältnis eine tolle Entscheidung.
Was wir nicht flächendeckend geschafft haben, ist die Digitalisierung in den Schulen – auch was die Bildung der Lehrpersonen betrifft. Ich kenne ganz viele Jugendliche, die sich köstlich darüber amüsieren, wie ihre Lehrpersonen trotz inzwischen mehrfachen Übungsmöglichkeiten einfach unfähig sind, eine Teams-Veranstaltung zu organisieren. Da gibt es ordentlich Luft nach oben.
Was meiner Meinung nach fehlt, was mir fehlt, sind Begegnungsmöglichkeiten. Öffentliche Hand und Jugendliche haben keine Ideen entwickelt, wie sie sich begegnen können.

Es ist nicht leicht als Erwachsener, so wie ich es bin, von Jugendlichen zurecht kritisiert zu werden

Wie stellen Sie sich das vor?

Ich möchte die Jugend gerne etwas politisieren und träume – immer noch – davon, dass man Jugendliche regelmäßig zu Debattier-Veranstaltungen einlädt. Zum Beispiel in der Bozner Messe und natürlich unter Einhaltung der Abstands-, Masken- und Hygienevorschriften. Ich lade 100 Leute in die Messehalle ein und mache dort eine politische Party. Das würde eine Debattierkultur fördern bzw. überhaupt erst schaffen. Das fehlt mir, das spüre ich nicht. Zugleich hatte ich das große Glück, mich jüngst mit der Arbeitsgemeinschaft für Jugenddienste auszutauschen, in einer Reflexion, was die Corona-Zeit für die Jugendarbeit bedeutet. Ich muss ehrlich sagen, das hat mir gut getan, denn man merkt: Es gibt Ideen, Vorstellungen, gemeinsam – auch virtuelle – Fantasieräume zu schaffen, wo man sich kommunikativ konfrontiert.

Der Austausch mit den Jugendlichen, das Ernstnehmen vonseiten der Politik und Institutionen fehlt doch ganz unabhängig von Corona, oder? Ist die Pandemie auch hier wie ein Brennglas, das bereits bestehende Mängel umso deutlicher zeigt?

Sie nennen es Brennglas, ich spreche von Stresstest. Normalerweise zahlt man Millionen von Euro, um Banken und Atomkraftwerke zu stressen. Die aktuelle Situation ist ein Gratis-Stresstest auf Strukturmängel – wie ein aufgelegter Elfmeter! Du musst halt die Courage haben, diesen Elfmeter eventuell zu verschießen. Aber ihn nicht zu schießen, finde ich unverantwortlich. Wissen Sie, was ich draufgekommen bin? Es gibt tatsächlich Leute, die in der momentanen Diskussion lieber darüber nachdenken – um es wieder fußballerisch zu sagen –, in der Verteidigung ein Eigentor zu schießen, als das Risiko einzugehen, es zu schaffen, den Elfer zu schießen. Also lieber als aus der Pandemie zu gewinnen, verharrt man in diesem Opfer-Verhalten und trägt – als selbsterfüllende Prophezeiung – ganz Wesentliches dazu bei, dass sich nichts verändert. Mich verwundert das, aber man weiß eigentlich, dass die Trägheit einer Gesellschaft viel entscheidender ist als der evolutionäre Gedanke einer Gesellschaft.

Inwiefern?

Die Weltgeschichte und die Menschheitsgeschichte zeigen, dass sich nur wirklich etwas verändert, wenn sich mehrere Zufälle aneinander reihen. Diese Krise zeigt das wieder. Wir wissen seit 30 Jahren, dass wir digitalisiert werden müssen und eine Schulreform mit nachhaltiger Bildungsvorstellung brauchen. Dass wir ein neues Gesundheitssystem brauchen, wissen wir seit ungefähr 35 Jahren, dass wir neue Wirtschaftssysteme brauchen, spätestens seit dem Fall der Berliner Mauer 1989. Das ist ja alles nichts Neues.

Der erste Lockdown war wie ein Schockzustand

Digitalisierung, Gesundheit, Bildung und Wirtschaft stehen im Fokus der aktuellen Krise. Hat die Corona-Pandemie also diesen Moment geschaffen, um tiefgreifende Veränderungen in Gang zu setzen?

Ich denke, dass erst die Auswirkungen dieser Pandemie eventuell zu ernsthaften Reformen führen könnten. Meine Prognose ist folgende: Medizinisch gesehen wird sich die Pandemie zwischen Ende dieses Jahres und Anfang nächstes Jahres legen, ob mit oder ohne Impfung. Das liegt in der Natur des Virus. Die Auswirkungen der Pandemie werden sich über 2025, 2026, 2027 hinweg zeigen – und in diesem Verlauf dürfte dann wahrscheinlich schon die eine oder andere Veränderung entstehen. Wenn man ein bisschen hellhörig ist, merkt man, dass langfristige Lösungen bereits im Kommen sind – Beispiel Mobilität: in der Schweiz wird die erste Wasserstofftankstraße von Westen bis Osten gestaltet, was für mich der klare Hinweis darauf ist, dass die Elektromobilität nur ein Übergangsprojekt und keine Mobilitätslösung ist –, de facto spüren aber wird sie der Alltagsmensch in 10, 15 vielleicht auch erst 20 Jahren. Wir brauchen ja 50 bis 100 Jahre, bis wir wesentliche Veränderungen im System erkennen. Die Kopernikanische Wende hat 100 Jahre gebraucht, bis man akzeptiert hat, dass die Erde keine Scheibe ist, sich um die Sonne dreht und nicht umgekehrt.

Verzeihen Sie mir, dass ich immer wieder auf die metaphysische Ebene abweiche. Aber ich glaube, man muss in der momentanen Situation auf sich selbst schauen, auf die Bedürfnisse einzelner Gruppen wie die Jugendlichen und zugleich auch Visionen entwickeln. Sonst bist du verloren. Die Sorge um das Jetzt und um das, was die Zukunft bringt, ist ein allgemeiner Himmelsschlüssel, der uns aus dieser Krisensituation immer wieder heraushilft.

 

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alfred frei So., 14.02.2021 - 09:44

"Wir sind die Generation, die kapitalistisches Denken zu einem Wertesystem erhoben hat, die für Integration und Inklusion nicht ausreichend getan hat, sodass Fremdenhass und Rechtsradikalismus heute Alltag sind" = das könnte ein sogenannter Kernsatz sein; und gleich danach: bietet die Corona-Pandemie eine Möglichkeit, um tiefgreifende Veränderungen in Gang zu setzen?

So., 14.02.2021 - 09:44 Permalink
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Hartmuth Staffler So., 14.02.2021 - 15:20

Ich finde es äußerst gewagt von diesem Herrn Conca, wenn er behauptet, dass "Wir eine Generation, sind die ...." Ganz gleich, was dieser Herr Conca dann noch anfügt, ich weigere mich, diesen Herrn für mich sprechen zu lassen. Er kann für sich sagen, was er will, das ist mir vollkommen egal und das ist sein gutes Recht, aber das "wir" sollte er gefälligst sein lassen. Für mich spricht er jedenfalls nicht.

So., 14.02.2021 - 15:20 Permalink
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Manfred Gasser So., 14.02.2021 - 19:19

Antwort auf von Hartmuth Staffler

Schon komisch, wie Sie sich an so einer Kleinigkeit, die nebenbei noch stimmt, aufhängen. Wir, ja wir alle, mit ganz wenigen Ausnahmen, haben den Karren die letzten Jahrzehnte ganz ganz nah an die Wand gefahren, und es ist zu sehen, ob wir noch die Kurve kriegen. Und übrigens, allein schon Ihr "dieser Herr Conca" zeigt Ihre Voreingenommenheit.

So., 14.02.2021 - 19:19 Permalink
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Nadine Laqua So., 14.02.2021 - 18:10

Herr Staffler... das Leiden auf einer Psycho-Intensivstation liefert keine spektakulären Bilder, braucht keine teuren Geräte und die Patienten sind, da Randgruppe, für die Medien uninteressant. Warum reizt Sie, Herr Staffler, diese hässliche Seite Südtirols so sehr? Warum ist die Kritik eines Mediziners der jeden Tag zunehmendes seelisches Leid junger Menschen sieht, so unangenehm? Hat er etwa den (Ihren) wunden Punkt getroffen....?
Jedem, wirklich jedem Arzt der Missstände bemerkt und kommuniziert, ist für seinen Mut zu danken! Auch wenn man nicht der gleichen Meinung ist.

So., 14.02.2021 - 18:10 Permalink
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Profil für Benutzer Hartmuth Staffler
Hartmuth Staffler So., 14.02.2021 - 18:34

Antwort auf von Nadine Laqua

Sie haben mich leider nicht verstanden. Ich finde diese Verallgemeinerungen des Herrn Conca unerträglich, z. B. wenn er sagt “Wir Alten sollten uns einmal fragen, warum wir einen Sündenbock brauchen.” Ich zähle zu den Alten, aber ich brauche keinen Sündenbock, ich habe kein Problem mit der Jugend und lasse mir vom Herrn Conca nicht ein solches unterstellen. Er mag für sich und seinesgleichen sprechen, aber dieses "wir" ist übel.

So., 14.02.2021 - 18:34 Permalink
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Klemens Riegler So., 14.02.2021 - 19:52

Der Dr. Conca spricht aus seiner fachlichen Sicht. Und ich denke er hat damit zu 100% Recht. Prinzipiell tun mir die letzten jüngeren Generationen irgendwie trotzdem leid. Sie sind entweder in rundum gehüteten Pseudo-Wohlfühloasen aufgewachsen, oder (zum Glück sehr selten) in krisengeschüttelten, schwierigen Familienverhältnissen groß geworden. Vielen fehlen selbst gemachte Erfahrungen (learning -survival- by Doing), die wir No-Digital-Natives noch machen durften ... vom Sand-Fressen im Sandkasten bis zu Max & Moritz-Streichen (und Konsequenzen) ... bis in die Volljährigkeit.
Alles geschuldet einer hochregulierten Gesellschaft deren Maxime nicht mehr die Beste ist. Also kein Wunder dass sich die Jugend von heute noch irgendwo - auch nur kurzfristig - den Frust aus der Seele brüllen möchte ... und nicht darf. Schon gar nicht derzeit!

So., 14.02.2021 - 19:52 Permalink
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Florian Hinteregger So., 14.02.2021 - 20:06

Antwort auf von Klemens Riegler

Grenzen auszutesten, die eigenen Fähigkeiten zu erfahren, sich dabei kennenzulernen und dadurch Selbstsicherheit zu gewinnen wird schwieriger, da die Regeln stärker von außen vorgegeben werden und man sich vielfach nicht mehr soweit hinauslehnen darf. Wäre für die jugendliche Entwicklung doch so wichtig.

So., 14.02.2021 - 20:06 Permalink
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Sepp.Bacher So., 14.02.2021 - 22:34

Antwort auf von Klemens Riegler

Wenn ich es auch schwierig finde, möchte ich dazu auch meine Sichtweise schreiben. So wie Klemens R. schreibt ist die Sicht von Dr. Conca eine fachlich spezifische. Aber gerade deswegen darf sie nicht verallgemeinert werden. Ich möchte zu einigen Sätzen Stellung nehmen:
Der Titel: "Man nimmt ihnen die Lebensbühne". Schon die Verallgemeinerung "Man" kann ich nicht akzeptieren. Und mit "ihnen" ist wohl die Jugend gemeint. Die Jugend kann aber nicht mit den jungen Patienten des Dr. Conca gleichgesetzt werden. Aber, inwiefern nehme ich der Jugend die Lebensbühne? Corona ist ja nicht uns Alten geschuldet!
"Er (Conca) spricht über die Jugend als bequemer Sündenbock und die Herausforderungen von Corona." Niemand gibt der Jugend die Schuld, dass es Corona gibt und dass die Situation so schlimm ist. Corona ist für alle schlimm und eine Herausforderung. Wir, die Gesellschaft als ganze, muss diese Situation bewältigen, jeder auf seine Weise; aber jeder muss auch Verantwortung übernehmen. Warum sollte die Jugend da ausgenommen werden. Sie kann nicht nur auf der "Bühne" neue Erfahrungen sammeln, sondern auch durch die Herausforderung bei der Bewältigung der Krise; und sie kann dabei auch reifen.
Als alter Mensch und Teil der genannten Generation, wüsste ich nicht, warum ich ein schlechtes Gewissen haben müsste. Ich habe diese "hochregulierten Gesellschaft" und den Turbokapitalismus nie gewollt und mich mit meinen Mitteln auch dagegen gestellt. Und so geht es anderen wohl auch. Dann wäre mein/unser Engagement wohl vergeben gewesen. Gut, wir konnten es nicht verhindern. Ich möchte aber trotzdem, dass das Wert geschätzt wird und dass ich deswegen nicht zu den Mächtigen und auch nicht zur anonymen Masse gezählt werde. Denn sonst könnten man gleich allen, die für Ideale wie Naturschutz (Klima), Toleranz, Gerechtigkeit in der Gesellschaft, usw. kämpfen, raten, sie können es gleich sein lassen!

So., 14.02.2021 - 22:34 Permalink
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Peter Duregger Mo., 15.02.2021 - 08:39

Antwort auf von Sepp.Bacher

Für mich hat Andreas Conca eine zutreffende Analyse abgeliefert. Und leider haben die Generationen der ca von 1930 bis 1955 Geborenen in diesen europäischen Friedenszeiten tatsächlich durch ein immer mehr, immer höher, immer globaler die Voraussetzungen geschaffen für alle guten aber auch für alle schlimmen Zustände. Diese Verantwortung müssen wir eben tragen.

Mo., 15.02.2021 - 08:39 Permalink