Gesellschaft | Interview

„Kinder als Experten wahrnehmen“

Uni-Professorin Ulrike Stadler-Altmann erklärt unter anderem, warum Medienkompetenz so wichtig ist.
Ulrike Stadler-Altmann
Foto: Alexander Erlacher/unibz

Im Januar hat der tragische Tod eines jungen Mädchens – die Zehnjährige ist nach einer Mutprobe auf der Social-Media-App Tiktok ums Leben gekommen - italienweit für Bestürzung gesorgt. Dieses traurige Ereignis hat verdeutlicht, wie wichtig es ist, sich bewusst im Netz zu bewegen. Ulrike Marion Stadler-Altmann ist Lehrstuhlinhaberin für Allgemeine Didaktik/Schulpädagogik an der Freien Universität Bozen (Fakultät für Bildungswissenschaften in Brixen). Im Interview spricht sie über die Nutzung digitaler Medien in Bildungseinrichtungen, das Modul "Medienpädagogik" an der Fakultät für Bildungswissenschaften in Brixen und wie Eltern den Herausforderungen der digitalen Welt begegnen können. 

Salto.bz: Frau Stadler-Altmann, vorige Woche, am 9. Februar, fand der Safer Internet Day statt. Der Aktionstag will mehr Bewusstsein für einen sicheren und verantwortungsvollen Umgang mit dem Internet schaffen. Was halten Sie davon?

Ulrike Marion Stadler-Altmann: Es ist wichtig, dass verstärkt Aufmerksamkeit auf das Thema gelenkt wird. Im Alltag vergisst man oft, sich sicher und verantwortungsbewusst im Internet zu bewegen und gibt Daten ohne Bedenken preis.

Der Begriff „Medienkompetenz“ wird gerne bei Debatten im Umgang mit digitalen Medien in den Raum geworfen. Was versteht man darunter?

Das Wort Medienkompetenz assoziieren viele Menschen ausschließlich mit digitalen Medien, das ist jedoch nicht richtig, denn der Begriff umfasst alle Medien: Vom Bilderbuch über Radio und TV bis zum Internet. Für jedes Medium benötigt man zur sinnvollen Nutzung bestimmte Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse. Medienkompetenz umfasst hier also nicht nur den technischen Aspekt, sondern es geht vor allem darum, zu verstehen und zu reflektieren, wie man als Akteur*in in der Situation agieren kann. Die Pandemie bewirkt, dass Kinder noch mehr Zeit der digitalen Welt verbringen. Umso wichtiger ist es nun, die Medienkompetenz zu schulen – bei Kindern, Jugendlichen, pädagogischen Fachkräften im Kindergarten und in der Schule, sowie mittelbar bei den Eltern.

Für jedes Medium benötigt man zur sinnvollen Nutzung bestimmte Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse

Wie kann eine bessere Medienkompetenz vermittelt werden?

Wir vermitteln den zukünftigen Pädagog*innen an der Universität, wie sie digitale Medien in ein sinnvolles Lernsetting einbauen können. Kinder sollen zum Beispiel verstehen, was virtuell und real ist und wie sie sich mit Apps auseinandersetzen können. Es gibt mittlerweile viele spannende Programme für Vorschulkinder bis zur Grundschule, die Kinder interessant finden und die es absolut wert sind, dass sie gemeinsam mit Bezugspersonen angeschaut werden.

Welche Rolle spielen die Erwachsenen?

Natürlich liegt bei jüngeren Kindern der Großteil der Verantwortung bei den Eltern, den pädagogischen Fachkräften und den Lehrpersonen. Je weiter der Entwicklungsstand eines Kindes fortschreitet, desto mehr Verantwortung müssen Eltern und Pädagog*innen an die Kinder abgeben. Das heißt, zuerst sollte ein verantwortungsvoller Umgang mit der digitalen Welt eingeübt werden, danach gilt es den Kindern Vertrauen zu schenken und ihnen in ihrem Tun und Ausprobieren eine gewisse Freiheit zuzugestehen.

Je weiter der Entwicklungsstand eines Kindes fortschreitet, desto mehr Verantwortung müssen Eltern und Pädagog*innen an die Kinder abgeben

An der Fakultät für Bildungswissenschaften in Brixen wird Medienkompetenz explizit gelehrt?

Wir haben dafür das Modul „Medienpädagogik“ vorgesehen, in dem medienpädagogische Inhalte in einer Vorlesung theoretisch aufgearbeitet und in einem Seminar praxisbezogen kennengelernt werden. Dabei werden bewusst Inhalte und Angebote diskutiert, die in der Südtiroler Bildungslandschaft verwendet werden, wie zum Beispiel die App „Anton“. In Zukunft wird sich jede Bildungseinrichtung damit befassen müssen, wie sie digitale Medien in die Praxis integrieren. Die Meinung von einigen Personen, dass neue Medien im Kindergarten fehl am Platz sind, finde ich persönlich schwierig. Denn ich vertrete den Standpunkt, dass wir Inhalte und Medien nicht ausschließen können, die im Umfeld der Kinder sowieso schon vorhanden sind.

Also ist ein Kindergarten ohne digitale Medien nicht zukunftsträchtig?

Klar kann sich ein Kindergarten dazu entschließen, ohne neue Medien zu arbeiten, aber diese Entscheidung muss dann pädagogisch gut begründet und nach außen kommuniziert werden. Digitale Medien per se auszuschließen, entspricht einfach nicht der Realität, in der unsere Kinder aufwachsen. Zusätzlich wissen wir, dass alles was ignoriert und verboten wird, für Kinder noch reizvoller ist.

In Zukunft wird sich jede Bildungseinrichtung damit befassen müssen, wie sie digitale Medien in die Praxis integrieren

Kommen wir nochmals auf die Aufgabe der Eltern zurück. Wie können sie den neuen Herausforderungen gerecht werden?

Ich glaube, dass Aufklärung und hinschauen, was das Kind im Internet macht, grundlegend sind. Einige Forschungsarbeiten zu diesem Thema besagen, dass Aktivitäten der Kinder und der Jugendlichen im Netz nicht gleich völlig negieren darf, sondern einen aufklärerischen Zugang suchen sollte. Sicherlich hängt es vom Alter der Kinder ab.

Und bei Jugendlichen?

Bei Jugendlichen sollte Vertrauen aufgebaut werden, in der Hoffnung, dass sie auf Eltern oder Lehrpersonen zugehen, wenn sie auf dubiose Dinge im Internet stoßen. Das Vertrauen zu Bezugspersonen muss jedoch schon vorher vorhanden sein und kann nicht allein durch Medienkompetenz gelöst werden. Regeln zu vereinbaren ist auch wichtig, wie zum Beispiel, dass das Handy bei Schlafenszeit nicht mit ans Bett genommen wird. Wenn sich dann Eltern und Bezugspersonen auch an die Regeln halten, ist das sicher förderlich und hat Vorbildcharakter.

Das Vertrauen zu Bezugspersonen muss jedoch schon vorher vorhanden sein und kann nicht allein durch Medienkompetenz gelöst werden.

Jugendliche sind meistens in der digitalen Welt ihren Eltern einen Schritt voraus. Zu Apps, die unter Jugendlichen gerade „en vouge“ sind, haben Erwachsene oft keinen Bezug.

Das ist kein neues Phänomen: Historisch gesehen hat immer die jüngere Generation schneller als die ältere Generation einen Zugang zu neuen Medien gefunden. Eltern sollten diesbezüglich ihr Unwissen offen kommunizieren, versuchen, neue Technologien zu verstehen und sich von ihren Kindern neue Plattformen im Internet zeigen lassen. Ihre Kinder sozusagen als „Experten“ auf diesem Gebiet wahrnehmen. 

Haben Sie einen Rat für Erziehungsberechtigte?

Nehmen Sie doch die Fähigkeiten Ihrer Kinder ernst und lassen Sie sich etwas Neues zeigen. Gemeinsam kann man dann über die neue Plattform sprechen, beurteilen was interessant daran ist, auf mögliche Gefahren aufmerksam machen, sich austauschen und beraten, welche Informationen und Bilder sich zum Hochladen eignen.

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Profil für Benutzer Elisabeth Garber
Elisabeth Garber So., 21.02.2021 - 01:00

Kognitive Defizite durch Digitalisierung und/oder nicht stattfindende Sozialisierung in realen Räumen und in realer Zeit sind bei Kindern im Vor- und Grundschulalter besonders schädlich! Das ist längst evidenzbasiert erwiesen und Prof. Manfred Spitzer (Neurowissenschaftler und Psychiater) klärt in unzähligen Büchern, Vorträgen, Interviews darüber auf. Coronabedingte Bildungslockdowns haben das Problem verschärft...
Für mich haben digitale Endgeräte in pädagogischen Bildungsstätten, speziell im Vorschulalter oder in den Grundschulen nichts verloren. Deshalb scheinen mir die Aussagen von Frau Stadler-Altmann (Kinder als Experten wahrnehmen etc.) fast absurd.

So., 21.02.2021 - 01:00 Permalink