Wirtschaft | Interview

„Brauchen politische Gegenerzählung“

Der Ökonom Philipp Heimberger über verzerrte Narrative Italiens im Ausland, warum Draghi nicht der Messias ist und wie Europa gestärkt aus der Krise hervorgehen kann.
cent
Foto: Samuele Schirò

Der österreichische Makroökonom Philipp Heimberger möchte aufräumen mit gängigen wirtschaftspolitischen Irrtümern über Italien und fordert einen Narrativwechsel in den Erzählungen über den südlichen Nachbarn. Dafür hat Heimberger, der am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche und dem ICAE an der Johannes Kepler Universität in Linz forscht, kürzlich eine vielbeachtete Initative auf Twitter gestartet, die auch medial Widerhall fand. Gleichzeitig will er die Probleme Italiens nicht schönreden, fordert eine differenzierte Betrachtung Mario Draghis und ein grundsätzliches wirtschaftspolitisches Umdenken. 

 

salto.bz: Herr Heimberger, Sie haben auf Twitter die „Campaign Against Italy Nonsense“ gestartet und jüngst auch Aufmerksamkeit italienischer Medien auf sich gezogen. Sie kritisieren die Außenwahrnehmung Italiens und die mediale Berichterstattung, etwa Titel wie „Versickern die EU-Corona-Hilfen am Ende in Europas Pleite-Ländern?“ oder „Auf dem Weg in die Schuldenunion?“. Sie sagen, diese Blickwinkel seien oft verzerrt. Wie meinen Sie das? 

Philipp Heimberger: Die italienische Wirtschaft und der italienische Staat werden oft sehr verzerrt dargestellt – sowohl in den deutschsprachigen als auch in den internationalen Medien. Dazu kommt, dass Aussagen von hochrangigen PolitikerInnen ebenfalls zur Verbreitung eines falschen Bildes von Italien beigetragen haben. Besonders im letzten Jahr. Wir hatten in der ersten Hochphase der COVID-Krise diese Diskussionen, was jetzt von europäischer Seite gemacht werden solle. Ich habe mich fürchterlich darüber geärgert, dass in Österreich und anderen Ländern, den Niederlanden und teilweise auch Deutschland, die Erzählung vom verschwenderischen Italien, das über seine Verhältnisse lebt, dominant war. Es wurde argumentiert, europäisches Geld werde in Italien ohnehin nur versickern, die ItalienerInnen hätten ja überhaupt keinen Reformwillen, und das Hauptproblem sei sowieso die mangelnde fiskalische Disziplin. Darüber habe ich mich letztes Jahr sehr geärgert, weil das ja völlig an den Fakten vorbeigeht. Darum habe ich beschlossen, auch mal eine Initiative zu machen. Ich denke, es ist durchaus möglich, diesem gängigen Narrativ über Italien mit einigen Daten und Fakten etwas entgegenzuhalten.

Sind die Bedenken der nördlichen Nachbarn bei der Vergabe milliardenschwerer Hilfszahlungen angesichts der vielen Probleme Italiens also nicht gerechtfertigt?

Ich sage nicht, dass überhaupt nicht darauf geschaut werden sollte, wie das Geld ausgegeben wird. Es ist auch nachvollziehbar, dass es bestimmte Anforderungen gibt für die Verwendung der Gelder. Mir geht es in erster Linie um den öffentlichen Diskurs, der sehr vergiftet war in den letzten Jahren. Es bestehen noch viele Narben aus der Euro-Krise, weshalb Italien auch diese neue ESM-Kreditlinie bis heute nicht verwendet hat, die billige Kredite für die Krisenbewältigung zur Verfügung stellt. Und das ist auch in anderen südeuropäischen Ländern so.

Diese Nord- Südpolarisierung wird befeuert durch die dominante Erzählung vom verschwenderischen Italien, das über seine Verhältnisse lebt. Das ist völlig verzerrend und an den Daten und Fakten vorbei, wie ich in meiner Twitter-Kampagne zu zeigen versuche. Mir geht es überhaupt nicht darum, die Probleme in Italien wegzudiskutieren. Natürlich gibt es strukturelle Probleme, genauso wie in anderen Ländern. Es gibt die Nord-Süd-Polarisierung in Italien, einen übergroßen Bankensektor, organisierte Kriminalität, alle möglichen Probleme, die besser angegangen werden müssten. Man muss aber wegkommen von diesem schulmeisterlichen Tonfall nördlich der Alpen, dass die Italiener endlich ihre Hausaufgaben machen müssen, oder von Behauptungen, dass sie keine Reformen gemacht hätten. Tatsächlich hat kein anderes Industrieland in den letzten 30 Jahren so große Sparanstrengungen unternommen wie Italien, und es wurden viele markt-liberale Reformen umgesetzt, wie etwa die Arbeitsmarktliberalisierungen seit den 1990er-Jahren. Diese Reformen haben aber nicht das gebracht, was man sich von ihnen versprochen hatte. Wir müssen eine andere Art von Diskurs führen und brauchen wieder eine Verbesserung der politischen Beziehungen und der politischen Rahmenbedingungen in der Zusammenarbeit der EU-Länder. Man muss sich die Frage stellen, wie man in Italien und gemeinsam in Europa in der Lage ist, die wichtigsten Probleme anzugehen. Man sollte sich nicht der Illusion hingeben, dass wir langfristig in Europa stärker würden, wenn man solche verzerrten Erzählungen verwendet.

 

 

Die Möglichkeit neuer politischer Rahmenbedingungen dürfte sich jetzt mit dem Regierungswechsel in Italien ergeben. Mario Draghi übernimmt mit einer neuen Mannschaft das Ruder in Italien. „Er ist der Italiener, der den Euro gerettet hat, nun ist er der Europäer, der Italien retten wird“, sagt Ex-Premier Matteo Renzi im ZEIT-Interview. Kann der Technokrat Draghi Italien auf Kurs bringen? 

Natürlich ist das jetzt eine Chance, da Draghi in vielen Ländern einen gewissen Nimbus hat, weil er als EZB-Präsident, wie viele meinen, den Euro gerettet hat. Er hat sicher seine Verdienste, aber man muss extrem aufpassen damit, ihn zum Messias zu stilisieren. Man muss es differenziert beurteilen: In der derzeitigen Situation kann es einen Vorteil haben, dass er respektiert in anderen europäischen Ländern ist, sein Wiederaufbauplan kann auf fruchtbareren Boden fallen, aber man darf nicht alles an der Person Draghi festmachen, er wird nicht ewig Premierminister sein. Es geht darum, die politischen Beziehungen zwischen den EU-Ländern und die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik längerfristig zu denken. Draghi wird jetzt starkes Gewicht haben, wenn er sich zur Verwendung der Gelder aus dem EU-Wiederaufbaufonds äußert, oder wie es mit den Fiskalregeln weitergehen soll, weil ihm in Brüssel viele an den Lippen hängen. Die Aussagen Renzis halte ich ehrlich gesagt aber für maßlos überzogen. Das ist sicher auch ein Teil des Problems im politischen Diskurs. Natürlich ist eine starke politische Führungsfigur von Vorteil, die hilft, bestimmte Prozesse anzustoßen und voranzutreiben. Aber wenn er scheitert oder in absehbarer Zeit als Premierminister abgelöst wird, dann verfällt man wieder in die alten Klischees und die alten Stereotyperzählungen auf beiden Seiten? Das kann nicht die Lösung sein.

Welche Wirtschaftspolitik können wir uns vom ehemaligen Goldman-Sachs-Banker und EZB-Chef erwarten?

Draghi war als EZB-Präsident formal ein Technokrat, obwohl auch die EZB eigentlich viele sehr politische Entscheidungen trifft. Aber Draghi ist tatsächlich sicherlich kein „politisch neutraler“ Experte. Er hat in seiner langen beruflichen Vergangenheit zum Beispiel für Privatisierungen geworben und war an der Bindung Italiens an die EU-Fiskalregeln beteiligt. Wir sollten ihn differenziert beurteilen. Am Beginn seiner Amtszeit ist Draghi aber in einer ganz anderen Ausgangsposition als z.B. Monti im Jahr 2011 während der Eurokrise. Bei Monti bestand von europäischer Seite die Erwartung, dass er Sparpakete und Konsolidierungsmaßnahmen auf den Weg bringt. Draghi ist in einer Position, wo er erst einmal die Verwendung von rund €200 Milliarden aus dem EU-Wiederaufbaufonds planen und umsetzen kann. Wie das gelingt, wird weitreichende Auswirkungen haben, auch für andere europäische Länder. Die Erfahrung, die man jetzt mit dem EU-Wiederaufbaufonds macht, wird auch für weitere Diskussionen über zukünftige europäische Integrationsschritte wichtig werden. Wenn das jetzt mit dem EU-Wiederaufbaufonds in die Hose geht und sich tatsächlich auch bei der Evaluierung herausstellt, dass es z.B. keine markant positiven und nachhaltigen Beschäftigungs- und Wachstumseffekte gab, dann wird das den KritikerInnen in die Karten spielen.

Selbst wenn der EU-Wiederaufbaufonds ein Erfolg ist, die Gelder gut eingesetzt werden und große positive Gesamteffekte bringen, selbst dann kann man diesen langfristigen Trend nicht umdrehen, weil es da tieferliegende Faktoren gibt, für die man Länder wie Italien, aus meiner Sicht gar nicht alleine verantwortlich machen kann.

Zudem wird es interessant zu beobachten sein, wie sich Draghi positioniert im Hinblick auf die EU-Fiskalregeln. Es ist so, dass Italien aufgrund seiner Altschuldenlasten aus den 1980er- und 1990er- Jahren das Problem hat, dass die Staatsschuldenquote nicht sinkt, obwohl man große Sparanstrengungen unternommen hat seit dieser Zeit. Viel größere Anstrengungen als alle anderen EU-Mitglieder. Doch aufgrund der jahrzehntelangen Stagnation der Wirtschaft ist die Staatsschuldenquote nicht gesunken, und aufgrund der Auswirkungen der Covid-Krise nochmal sprunghaft gestiegen. Draghi hat in seinen letzten Jahren als EZB-Chef argumentiert, dass die Geldpolitik, an der Nulluntergrenze der Leitzinsen, beschränkt ist in ihren Möglichkeiten, die Wirtschaft zu stimulieren. Da müsse dann die Budgetpolitik mehr machen. Man kann also hoffen, dass er sich dafür einsetzen wird, dass die Stabilitäts- und Fiskalregeln auch 2022 ausgesetzt bleiben und eine Reform der Fiskalregeln vorangetrieben wird.

Wie wird Draghi den Spagat zwischen den Forderungen der frugalen Länder des Nordens, die nach Reformen und Sparpolitik ächzen, und jenen seines Heimatlandes nach schnellstmöglichen Hilfestellungen, meistern können?

Es kommt nicht nur auf ihn an. Man sollte nicht so tun, als sei er Superman, der jetzt Italien allein Flügel verleihen könnte. Es wird auch die Frage sein, wie ihm die Europäische Kommission begegnet, wie ihm die deutsche Bundesregierung begegnet, wie ihm andere wichtige Player begegnen. Es wird darum gehen, wie strikt die Konditionalität bei der Verwendung von Geldern des EU-Wiederaufbaufonds gehandhabt wird und wie die nationalen Pläne ausgelegt werden. Das ist eine politische Frage. Klar, es gibt Richtlinien und Leitplanken, 20 Prozent der Gelder müssen für Digitalisierung verwendet werden, 37 Prozent im Sinne der Klimaziele. Aber da gibt es auch noch einiges an Auslegungsspielraum, was als Investitions- und Reformprojekt akzeptiert wird. Die Frage, wie Draghi den Spagat schafft, wird auch davon abhängen, ob ihm die anderen ermöglichen, den Spagat zu machen. Was ihm helfen wird ist seine Reputation.

[...] die Eurozone wird nicht zusammengehalten werden können, wenn die Wirtschaftspolitik ausgerichtet wird wie in den Euro-Krisenjahren. Man kann nicht auch noch Spanien und Frankreich in eine ähnliche wirtschaftspolitische Spirale hineindrängen. 

Gerade jetzt ist aber der öffentliche Diskurs wichtig und deswegen habe ich auch meine Initiative gestartet, weil sich alle fragen müssen, wie dieser Spagat möglich ist. Natürlich wird es weiterhin unterschiedliche Ansichten in der Wirtschaftspolitik geben in Nord- und Südeuropa. Es ist normal, dass es nicht die eine Sicht auf Wirtschaftspolitik gibt. Aber man muss auch, gerade in Italien, über die wesentlichen Ziele diskutieren und wie man diese erreichen will mit den jeweiligen Investitions- und Reformplänen. Auf anderen Reformvorstellungen bei der Europäischen Kommission und in den Niederlanden in Bezug auf spezifische marktliberale Pensions- oder Arbeitsmarktreformen, die politischen Charakter haben, jedoch die Erreichung der wesentlichsten Ziele des Wiederaufbauplans hinsichtlich der Unterstützung der wirtschaftlichen Erholung in Kombination mit grüner und digitaler Transformation nicht wirklich unterstützen würden, sollten wir nicht herumreiten. Das würde Draghi das Regieren erschweren, weil er unpopuläre Maßnahmen durchboxen müsste und ihm recht bald Regierungspartner wegbrechen würden, was wiederum die Stabilität der Regierung gefährden würde.

Die EU scheint bei der Bewältigung der Corona-Krise vor massiven gemeinschaftlichen Maßnahmen weit weniger zurückzuschrecken, als noch zur Eurokrise von vor ca. 10 Jahren. Rund 750 Milliarden Euro umfasst allein das Volumen des Wiederaufbaufonds der EU. Erleben wir einen Paradigmenwechsel, quasi eine Abkehr von Austeritäts- und Konsolidierungspolitik?

Im Vergleich zur Euro- und Finanzkrise und der Zeit danach sind die Rahmenbedingungen heute denke ich schon andere, das merkt man auch im intellektuellen Bereich. Wenn man sich ansieht, was laut Internationalem Währungsfonds (IWF) jetzt in entwickelten Ländern vonseiten der Fiskalpolitik passieren sollte, ist das etwas ganz anderes als die Austeritätsrhetorik, die der IWF noch von 2010 und 2011 verwendete. Zumindest der IWF und einige andere Player haben aus den Fehlern der Eurokrise gelernt: Regierungen sollten nicht zu früh mit der Budgetkonsolidierung beginnen, weil es die Erholung untergräbt. Unklar ist, wer sich politisch durchsetzen wird, weil es weiterhin die Hardliner gibt, die lieber früher als später die Fiskalregeln wieder einsetzen wollen und die darauf drängen, dass eine Währungsunion aus ihrer Sicht nur gelingen kann, wenn strikte Fiskalregeln auf Punkt und Beistrich eingehalten werden. 

Aus meiner Sicht braucht es natürlich einen fortgesetzten Kurswechsel. Ich kann Ihnen aber nicht sagen, ob wir 2022 oder 2023 vielleicht nicht wieder eine starke Bewegung in Richtung Sparkurs und Strukturreformen der Arbeitsmärkte sehen werden. Man sieht ja jetzt schon, dass in der Eurozone in Reaktion auf die Covid-Krise fiskalpolitisch viel weniger unternommen wurde als in anderen großen Währungsunionen wie den USA oder Großbritannien. Das hat natürlich auch mit dem EU-Fiskalregelwerk zu tun, vor dessen Wiedereinsetzung sich einige Regierungen in Europa schon jetzt gehörig fürchten müssen, und mit den bereits vor der Krise hohen Staatschuldenquoten in mehreren Ländern. Italien und andere Eurozonenländer können sich anders als beispielsweise die USA nicht in der eigenen Währung verschulden. So tut man sich viel schwerer, große Fiskalpakete zu schnüren. Der Druck wird aber sehr groß sein und die Eurozone wird nicht zusammengehalten werden können, wenn die Wirtschaftspolitik ausgerichtet wird wie in den Euro-Krisenjahren. Man kann nicht auch noch Spanien und Frankreich in eine ähnliche wirtschaftspolitische Spirale hineindrängen, wie das in Italien der Fall war. Frankreich und Spanien werden nach der Covid-Krise ähnlich hohe Staatsschuldenquoten haben wie Italien vor Covid. Das Problem hoher Staatsschuldenquoten betrifft unter den größten Eurozonenländern also nicht mehr nur Italien.

Allein die Mittel des Wiederaufbaufonds reichen also kaum, um ein Auseinanderdriften der Eurozone zu vermeiden.

Es wird auch darum gehen, wie man den EU-Wiederaufbaufonds weiterentwickelt. Ist das nur ein temporäres Instrument oder wird das im Lauf der Zeit zu einer permanenten fiskalischen Kapazität auf europäischer Ebene, die für die makroökonomische Stabilisierung in der nächsten Krise sorgen kann. Es muss klar sein, dass der EU-Wiederaufbaufonds jetzt bestenfalls ein erster Schritt ist, um ein weiteres Auseinanderdriften zwischen den europäischen Ländern zu verhindern. 

Was bräuchte es dann? 

Man bräuchte ein ganz viel grundsätzlicheres Umdenken: Was sind z.B. die strukturellen Vorteile für einige Länder seit der Einführung des Euro im Vergleich zu südeuropäischen Ländern und ihre Ursachen? Will man dieses pfadabhängige Auseinanderdriften zwischen Nord und Süd drehen, wird man – auch vor dem Hintergrund des Klimawandels und der Digitalisierungsherausforderungen – über eine Neuausrichtung der Industrie- und Technologiepolitik in Europa nachdenken müssen. Man muss dafür sorgen, dass die ökonomische Aktivität in Europa wieder gleichmäßiger verteilt und nicht nur in einigen wenigen Regionen geclustert ist, die dann auch besonders von der gemeinsamen Währung profitieren. Natürlich, da bedarf es eines viel grundsätzlicheren wirtschaftspolitischen Umdenkens und da muss man dicke Bretter bohren, aber es ist gefährlich, wenn wir nun so tun, als ob diese €750 Milliarden aus dem EU-Wiederaufbaufonds ausreichen würden. Selbst wenn dieser ein Erfolg ist, die Gelder gut eingesetzt werden und große positive Gesamteffekte bringen, selbst dann kann man diesen langfristigen Trend nicht umdrehen, weil es da tieferliegende Faktoren gibt, für die man Länder wie Italien, aus meiner Sicht gar nicht alleine verantwortlich machen kann.

Wenn der politische Wille da ist, können wir die Institutionen und Regeln reformieren und im Rahmen der EU das Versprechen der Demokratie erfüllen. 

Klar ist aber auch: Eine Angleichung der Lebensstandards in der EU nach der Covid-Krise durch permanente Fiskaltransfers ist weder politisch, noch ökonomisch tragfähig. Schon in der Vergangenheit waren sie nicht mehrheitsfähig; wenig spricht dafür, dass sich daran nach Bewältigung der Corona-Krise etwas ändern wird. Deshalb wäre es besser, die regionale Verteilung der Wertschöpfung auszugleichen. Die Uckermark, Andalusien und Großräume wie Neapel oder Thessaloniki müssen ein ähnliches Wertschöpfungsniveau erreichen wie München, Mailand oder der Großraum Amsterdam. An Werkzeugen dafür mangelt es nicht: koordinierte nationale oder eine europäische Industriestrategie, gezielte Investitionen in Infrastruktur und Schlüsseltechnologien, ein Neudenken der EZB-Politik oder ein europäisches Investitionsbudget könnten dazu beitragen, alle Regionen (auch im Süden Italiens) an Wohlstandszuwächsen teilhaben zu lassen.

 

Die Europäische Union steht z.B. in Italien schon länger in der Kritik, alte Narben aus der Eurokrise sind noch offen, wie Sie sagen. Im Raum steht – insbesondere im populistischen Lager – oftmals der Austritt aus der EU bzw. aus der Währungsunion und somit auch die Abkehr vom Euro, um die nationale Souveränität wiederherzustellen und alle wirtschaftlichen Probleme in den Griff zu bekommen. Was würde ein Austritt Italiens nach sich ziehen?

Ich glaube nicht, dass ein Italexit die wirtschaftlichen Probleme Italiens lösen würde, wie es einige Vertreter der Lega und andere Politiker behaupten. Im Gegenteil: die wiedereingeführte Lira würde zunächst stark abwerten, das würde Importe verteuern, die Arbeitslosigkeit würde sich weiter erhöhen. Der italienische Staatsbankrott wäre bei einer Wiedereinführung der Lira kaum vermeidbar, weil die Euroschulden im Falle einer starken Währungsabwertung erdrückend hoch wären.  Dazu kämen große rechtliche Unsicherheiten und Kontroversen bei der Abwicklung des Austritts; es käme zu einer großen Finanz- und Wirtschaftskrise, die massiv und langanhaltend sein könnte. Gar nicht absehbar wären die politischen Folgen, die Jahrzehnte nachwirken könnten.

Italien hat einen riesigen Bankensektor und die Staatsanleihen spielen eine wichtige Rolle im modernen Finanzsystem als Besicherung für Finanzgeschäfte. Die Verbindungen Italiens zu anderen Teilen des europäischen und globalen Finanzsystems sind stark. Ein italienischer Austritt aus dem Euro hätte massive Dominoeffekte zur Folge, mit Welleneffekten in ganz Europa und rund um den Globus, mit negativen Auswirkungen gerade auch für Deutschland und Österreich. Gerade die Industrie in diesen Ländern profitiert davon, dass der Euro für sie eigentlich zu billig ist. Vor diesem Hintergrund sollten wir bei uns eigentlich großes Interesse daran haben, die Eurozone so zu reformieren, dass sie auch für Italien und andere Länder funktioniert.

Es muss sich also etwas an der EU-Architektur ändern.

Ich sehe die Probleme für Italien im derzeitigen Regelwerk und in den Institutionen im Euroraum, man muss diese deshalb verbessern und reformieren. Aber diese Vorstellung, man könne einfach wieder zurückgehen in die 1970er und 1980er-Jahre, als man eine eigene Geldpolitik betreiben konnte, und dann würden sich rasch wieder Wirtschaft und Gesellschaft erholen, das ist illusorisch. Die Rahmenbedingungen haben sich geändert, die Globalisierung ist vorangeschritten und übt Druck auf einzelne Länder aus; und deshalb sollte man nicht glauben, dass sich die Probleme Italiens nach einer relativ kurzen Zeit im Falle eines Austritts erledigen würden.

Man muss wegkommen von diesem schulmeisterlichen Tonfall nördlich der Alpen, dass die Italiener ihre Hausaufgaben machen müssen, oder von Behauptungen, dass sie keine Reformen gemacht hätten. 

Man muss zwar die bestehenden Probleme mit den Regeln und Institutionen im gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsraum benennen und man soll nicht so tun, als ob die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik gut funktioniert hätte und dass es kein Problem mit den bestehenden Institutionen gäbe. Das ist gefährlich, weil man dann den Kritikern am radikalen Rand ein Monopol der Kritik gibt. Wenn man nicht mal mehr Fakten aussprechen darf, kommen wir wirklich in ein problematisches Fahrwasser. Man muss diese benennen. Auf der anderen Seite sollen wir nicht meinen, mit ganz simplen, nicht durchdachten Lösungen, wie einem Euro- oder sogar EU-Austritt Italiens, durchzukommen. Wenn der politische Wille da ist, können wir die Institutionen und Regeln reformieren und im Rahmen der EU das Versprechen der Demokratie erfüllen. Daran sollten wir uns aus meiner Sicht orientieren.

Ist die akute Corona-Krise mit ihren zahlreichen Verwerfungen – hoffentlich bald schon - überstanden, stehen den Italienern und Europäern allgemein die größten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen womöglich erst bevor. Welche Szenarien sind möglich?

Das ist ein Blick in die Glaskugel. Es gab schon vor Covid große Herausforderungen für die Wirtschafts- und Sozialpolitik, nicht zuletzt durch den Klimawandel. Wenn man die Dekarbonisierung ernst nimmt, reden wir für Italien, genauso wie für andere Länder, von einem massiven Strukturwandel, der damit einhergehen wird müssen und der natürlich auch die italienische Industrie stark betreffen wird. Deswegen ist es jetzt an der Zeit, größer zu denken und sich zu überlegen, wie diese grundsätzlichen Herausforderungen unserer Zeit mit der Lösung drängender wirtschaftlicher Probleme verbunden werden können. Es kann Beschäftigungschancen in neuen Sektoren geben, man kann sich überlegen, wie man Wertschöpfung, die auch die Erreichung von Klima- und sozialen Zielen im Blick hat, durchaus strategisch in bestimmten Teilen Südeuropas platzieren könnte. Die europäischen Länder müssen sich zusammenraufen und - auch wirtschaftspolitisch - größere Konzepte und Strategien durchdenken – mit Mariana Mazzucato könnten wir von „Missionen“ sprechen –, die mit den großen Zielsetzungen, der Bekämpfung des Klimawandels und einer sozialökologischen Transformation übereinstimmen. Das wäre das positive Szenario.

Und das Negativszenario?

Ein dystopisches Szenario, in dem wir einen weiteren demokratischen Rückfall erleben, in dem man es nicht schafft, die Folgeeffekte der Covid-Krise so zu meistern, dass große Teile der Bevölkerung wieder Optimismus schöpfen und bessere Lebensbedingungen vorfinden. Das führt dann in einigen Ländern, nicht zuletzt auch aufgrund der wirtschaftlichen und sozialen Probleme, die daraus erwachsen, zu großen Stimmzuwächsen für radikale Parteien. Dies kann das europäische Integrationsprojekt in Gefahr bringen und Desintegrationstendenzen befördern. 

Man darf sich keine Illusionen machen: selbst wenn Parteien wie die Lega im Moment schlechter und Regierungsparteien in den Umfragen besser dastehen, muss man nicht glauben, dass das in Stein gemeißelt ist. 

Das Gefährliche aus meiner Sicht: Gerade wenn es um die großen Herausforderungen geht, wie die Bekämpfung des Klimawandels, braucht man langfristige politische Commitments. Kommt es in einer Demokratie zu Änderungen in politischen Mehrheitsverhältnissen und zur Dominanz einer Partei, die sich zum Beispiel nicht mehr dem Klimaschutz verschreibt, dann wird es schwierig, langfristige Festlegungen zwischen den EU-Ländern aufrechtzuerhalten. Ich verstehe natürlich alle, die Klimaschutzziele besonders hochhängen, aber man muss jetzt einfach ganz stark auch die wirtschaftliche Erholung nach der Covid-Krise im Fokus haben, sonst bekommt man wieder politische Probleme, die es dann wiederum unmöglich machen, langfristig an anderen Zielen festzuhalten.

Was bedarf es aus Ihrer Sicht, damit Italien und Europa vielleicht sogar gestärkt aus der Krise hervorgehen?  

Eigentlich bräuchte man eine politische Gegenerzählung, die der dominanten Erzählung vom verschwenderischen Italien, das über seine Verhältnisse lebt, etwas entgegensetzt. Die Zahlen und Fakten alleine reichen da allein natürlich nicht. Dann kann man auch viel leichter größere Probleme angehen. Eine mögliche Erzählung: In den europäischen Medien beschwören viele den internationalen Wettbewerb mit den USA und China. Eine konsequente geopolitische Schlussfolgerung daraus sollte sein, dass man die italienische Wirtschaft tatkräftig in der wirtschaftlichen Erholung unterstützt und auch die politischen Rahmenbedingungen dafür schafft. Allein das würde das Gewicht der EU global massiv stärken und aufwerten gegenüber den USA und China.

Ein starkes Italien in einer starken EU träfe sich auch mit dem Interesse all jener, die derlei internationale wirtschaftliche Rivalitäten für konstruiert halten, aber möchten, dass Europa sein Gesellschaftsmodell einer liberalen Demokratie des sozialen Ausgleichs im 21. Jahrhundert bewahren kann.

Bild
Profil für Benutzer Fabian .
Fabian . Do., 18.02.2021 - 09:19

Der Neoliberalismus ist am Ende! Dagegen helfen kein "Messiahs", keine "marktliberale Reformen" oder "Rückkehr zur Normalität".

Sätze, wie "Ich verstehe natürlich alle, die Klimaschutzziele besonders hochhängen, aber man muss jetzt einfach ganz stark auch die wirtschaftliche Erholung nach der Covid-Krise im Fokus haben, sonst bekommt man wieder politische Probleme, die es dann wiederum unmöglich machen, langfristig an anderen Zielen festzuhalten." brauchen ein Gegennarrativ! Die intellektuelle Armut, die seit Jahrzehnten aus den Wirtschaftswissenschaften kommt, ist eklatant.

Do., 18.02.2021 - 09:19 Permalink
Bild
Profil für Benutzer Gabriel Fidenti
Gabriel Fidenti Do., 18.02.2021 - 09:26

Hallo, ich bedanke für diese nüchterne Analyse. Persönlich habe ich nicht verstanden weshalb Italien im Falle eines Italexit Euroschulden zu zahlen hat. Soweit ich das richtig verstanden haben, plädieren die Lira-Befürworter genau für das Gegenteil:
Im Falle eines Rückkehrers der Lira die Schulden zu minimieren, indem man die Lira abwertet. Das hätte näturlich keinen Sinn, wenn man die Schulden in Euro begleichen müsste.
Meine Frage lautet:
Im Falle eines Italexit mit welcher Währung müssten die Schulden beglichen werden? Was macht das Vereinigte Königreich?
Bedanke mich im Voraus für die freundlichen Antworten.

Do., 18.02.2021 - 09:26 Permalink
Bild
Profil für Benutzer Ludwig Thoma
Ludwig Thoma Do., 18.02.2021 - 14:34

Antwort auf von Gabriel Fidenti

Das geht leider nicht so einfach. Stellen Sie sich einfach vor, dass sich z.B. Venezuela am internationalen Kapitalmarkt 1 Mio. Dollar leiht. Der Geldgeber möchte natürlich 1 Mio. Dollar plus die ausgehandelten Zinsen zurück und nicht X venezolanische Bolivars, die vielleicht am Tag darauf schon 10% weniger wert sind.

Do., 18.02.2021 - 14:34 Permalink
Bild
Profil für Benutzer Martin Daniel
Martin Daniel Mo., 22.02.2021 - 09:35

Antwort auf von Gabriel Fidenti

Die Begleichung der Schulden in einer anderen als der Vertragswährung stellt einen Default dar, führt also zur Staatspleite. Der Gläubiger wird dadurch ja teilweise geschröpft, da die Lira auf der Stelle um schätzungsweise 40% zum Euro abwerten würde. In der Folge ginge sehr viel an Vertrauen in die künftige Rückzahlfähig- und Willigkeit Italiens verloren, was im Vgl. zu heute immens hohe Zinsen für eine künftige Schuldenaufnahme, die unweigerlich erfolgen würde, nach sich zöge. Ganz zu schweigen von den Folgen einer galoppierenden Inflation, die in diesen Fällen immer mit einhergeht, für die Bürger im Lande.

Mo., 22.02.2021 - 09:35 Permalink
Bild
Profil für Benutzer Gabriel Fidenti
Gabriel Fidenti Do., 18.02.2021 - 11:29

Antwort auf von maximilian kollmann

In welcher Währung werden in diesem Fall die Schulden getilgt?
Sie meinen, dass Italien im Falle eines Austritts die Schulden in Euro zurückzahlen muss, weil Italien das Euro-Geld hat bzw. hatte?
Meine Frage lautete warum sind Sie sich so sicher?
Die eurokritischen Ökonomen, meinen oft das Gegenteil.
Ich weiß nicht worauf sich die verschiedenen Meinungen beruhen.
Wissen Sie es oder ist es nur Ihre Vermutung?

Do., 18.02.2021 - 11:29 Permalink
Bild
Profil für Benutzer Frei Erfunden
Frei Erfunden Do., 18.02.2021 - 15:47

Das Vertrauen in (italienische) Staatsanleihen scheint nicht mehr gegeben, deshalb auch die Scheinlösung mit dem 'quantitative easing'. Die Realwirtschaft allerdings hat kaum vom Ankauf der Staatsanleihen durch die EZB profitiert. Das Geld ist zum grossen Teil in den Finanzsektor und in das Bankenwesen abgeflossen.
Noch nie war soviel Geld in so wenig Zeit an so wenig Menschen geflossen wie in den letzten 2 Jahren.
Ob Herr Draghi das so nicht vorhergesehen hatte?
Aber es scheint so, dass die Kuh nun noch ein letztes Mal anständig gemolken wird bevor sie zusammenbricht.
Bespiel: Die Weichen zur Schaffung von von
elektronischem Zentralbankgeld sind bereits gestellt;
es ist anzunehmen, dass dieses Helikoptergeldmässig verteilt und mit einem Verfallsdatum versehen wird;
damit wird der Ottonormalverbraucher zu kurzfristigem Konsum gezwungen um die Wirtschaft in Gang zu halten.
Im Hinterzimmer starten die Superreichen ihren letzten Coup im Raubzug des Neoliberalismus mit Ziel der vollständigen Privatisierung des Gemeinwesens. Kontrolle der Wassereserven , land grabbing u.s.w. scheinen Begriffe aus einer bereits realisiserten Dystopie.
Ist Herr Draghi mit seinem Curriculum vitae wirklich daran interessiert an diesen Machtverhältnissen und am neoliberalen Bankenkommunismus etwas zu ändern ? Eine Zähmung des Finanzsektors wird aktuell komplett ignoriert, von seiten der Medien, von seiten der Politik.

Do., 18.02.2021 - 15:47 Permalink
Bild
Profil für Benutzer Gabriel Fidenti
Gabriel Fidenti Fr., 19.02.2021 - 21:35

Danke dir für die ausführliche Antwort.
Sie bestätigen also, dass es theoretisch möglich wäre alle Schulden mit einer neuen Währung zu löschen.
Ob dies eine praktikable Lösung sein könnte, ist in der aktuellen Lage eher nicht der Fall. Man müßte tiefgreifende re Reformen machen, um nicht von ausländischen Investoren abhängig zu sein. Quasi die Uhr auf der ganzen Welt zurück drehen.

Fr., 19.02.2021 - 21:35 Permalink
Bild
Profil für Benutzer Fabian .
Fabian . Fr., 19.02.2021 - 21:59

Antwort auf von Gabriel Fidenti

"Schulden" werden seit Jahrzehnten dadurch bedient, indem neue Schulden aufgenommen werden. "Der Steuerzahler" dient nur als Pfand. Deswegen ist dieses ganze - ach so - "makroökonomische" Gerede nichts wert. Wir haben ein System geschaffen (und bedienen es nach wie vor), das total Banane ist. "Fiskalische Reformen", "marktliberlae Veränderungen" - damit füttern wir ein irreales System, das sich "Wirtschaft" nennt und nur irreales Finanzwirtschaften meint. Spielkasino in groß. Und der Witz daran: Jeder "Wirtschaftsweise", den man fragt, bestätigt das!

Fr., 19.02.2021 - 21:59 Permalink
Bild
Profil für Benutzer Peter Gasser
Peter Gasser Fr., 19.02.2021 - 22:05

Antwort auf von Gabriel Fidenti

“Sie bestätigen also, dass es theoretisch möglich wäre alle Schulden mit einer neuen Währung zu löschen”:
natürlich ist dies möglich, umgerechnet zum Tageskurs am Zahltag.

Aber natürlich könnte Italien auch mit Bananen zurückzahlen, mit Weinflaschen, mit Adriasand oder - gar nicht.
“Möglich” ist alles, halt stets mit den entsprechenden Folgen.

Fr., 19.02.2021 - 22:05 Permalink
Bild
Profil für Benutzer Martin Daniel
Martin Daniel Mo., 22.02.2021 - 09:29

Diese ausgewogenen Analyse berührt einen Punkt an, dessen Ausführung sehr interessant wäre, aber leider unterbleibt: " tieferliegende Faktoren ... , für die man Länder wie Italien, aus meiner Sicht gar nicht alleine verantwortlich machen kann". Daneben findet sich die Aussage "Man kann nicht auch noch Spanien und Frankreich in eine ähnliche wirtschaftspolitische Spirale hineindrängen, wie das in Italien der Fall war". Sollte dies nicht bloß auf die kurzfristige finanzpolitische Lage im 2. Halbjahr 2011 gemünzt sein, so erzeugen diese beiden Aussagen das Bild eines Italiens, das sozusagen unverschuldet, aus strukturellen Gründen (neoliberales Wirtschaftssystem? Fiskalpakt der Eurozone und Austeritätsforderungen des Nordens?) in eine Staatschuldenquote vor Covid von 135% des BIP geführt haben. Ausgeblendet nicht nur die Prassereien der 70er- und 80er-Jahre, sondern auch die Geschenke der Regierung Berlusconi-IV, die 2008 von Prodi eine vertretbare Verschuldung von 105,8% übernommen und 2011 Feuerwehrmann Monti 120,1% überlassen hat.
Ich halte Italiens Volkswirtschaft generell für unterschätzt, der drittgrößten der Eurozone mit der zweitgrößten Industrie Europas, Großbritannien inklusive; sehr breit aufgestellt, von Maschinen- und Fahrzeugbau, bis Pharma, Lebensmittel, Elektro, Bekleidung, Design und natürlich Tourismus mit regelmäßig hohem Exportüberschuss. Diese Volkswirtschaft könnte durch die Decke schießen, würde sie nicht seit 2 Jahrzehnten von chronischen Problemen ausgebremst.
Angesichts der Produktivität seiner Wirtschaft hat Italien im Vergleich mit anderen westeuropäischen Ländern zu hohe Gehälter und angesichts des Gehaltsniveaus zu hohe Lebenshaltungskosten. So liegen die Durchschnittseinkommen in Deutschland über und die Durchschnittspreise unter jenen in Italien. Das Land ist (im Durchschnitt) schlicht zu teuer. Das scheint v.a. die Binnennachfrage und die Neueinstellungen (junger Arbeitskräfte) zu hemmen.
Zudem hat Italien im europäischen Vergleich mitunter die höchsten Pensionsausgaben. Für deren Bestreitung werden 17% des BIP in Anspruch genommen. Nachdem die derzeit bezogenen Renten nicht nach dem beitragsbezogenem System berechnet werden, erhalten die Bezieher aufgrund ihrer statistischen Lebenserwartung weit höhere Summen vom Staat, als sie im Laufe ihres Arbeitslebens eingezahlt haben. Das Problem an dieser sympathischen Geste des Staates gegenüber seinen Bürgern ist, dass die Differenz dem produktiven Sektor (und damit auch den aktuell Erwerbstätigen, die in dieser Lebensphase traditionellerweise Familie gründen und Eigenheim erwerben sollten) in Form höherer Steuern und geringerer Förderungen entzogen werden muss. Das hemmt neben den nominal hohen Zinsverpflichtungen auf die Altschulden zusätzlich die Wachstumsmöglichkeiten der italienischen Wirtschaft. Letztens Endes zahlt die junge Generation, die wegen der stagnierenden Produktivität weniger Einstiegschancen in die Arbeitswelt besitzt, den Preis dafür, dass mehr oder weniger große Teile der mittelalten Generation ab +/- 60 staatliche Renten beziehen, was im Grunde nicht einer Alterssicherung, sondern einer Sozialleistung ohne Bedarfsprüfung gleichkommt. Die logische Quittung dafür sind historisch niedrige Geburtenraten mit mittlerweile trotz Zuwanderung sinkender Bevölkerungszahl.
Die Ursachen dieser Probleme erscheinen mehr hausgemacht als der ordoliberalen deutschen Wirtschaftspolitik, der Schuldenbremse und dem Stabilitätspakt oder den internationalen Spekulanten zuzuschreiben, wenngleich diese externen Faktoren kurzfristig zu einer Zuspitzung der italienischen Wirtschafts- und Finanzlage beigetragen haben können. Offen bleibt die Frage, ob der Euro bei seiner Einführung für Italien nicht eine zu harte Währung war, ob also der Umrechnungskurs für die Lira nicht zu hoch angesetzt war und die italienische Volkswirtschaft dadurch nachhaltig ausgebremst wurde. Der Beginn der Produktivitätsstagnation scheint jedenfalls mit der Einführung der Gemeinschaftswährung zusammenzufallen. Viele Ökonomen sind der Meinung, Italien hätte mit strukturellen Reformen (siehe das eingangs erwähnte Produktivitäts-, Lohn- und Preisniveau) auf die, durch den Wegfall der Währungsgrenzen verstärkte Konkurrenzsituation reagieren müssen. Vor diesen (und anderen) Herausforderungen steht nun - 20 Jahre danach - die Regierung Draghi.

Mo., 22.02.2021 - 09:29 Permalink
Bild
Salto User
Manfred Gasser Mo., 22.02.2021 - 09:45

Antwort auf von Martin Daniel

"Angesichts der Produktivität seiner Wirtschaft hat Italien im Vergleich mit anderen westeuropäischen Ländern zu hohe Gehälter und angesichts des Gehaltsniveaus zu hohe Lebenshaltungskosten. So liegen die Durchschnittseinkommen in Deutschland über und die Durchschnittspreise unter jenen in Italien. Das Land ist (im Durchschnitt) schlicht zu teuer."
Die grosse Frage ist jetzt ,wie kann man, oder besser, wie kann Draghi das ändern? Und die selbe Frage gilt auch für die Pensionsausgaben.

Mo., 22.02.2021 - 09:45 Permalink
Bild
Profil für Benutzer Martin Daniel
Martin Daniel Mo., 22.02.2021 - 19:16

Antwort auf von Manfred Gasser

Es versteht sich, dass dies angesichts der sehr hohen Altschuldenlast schwierig ist. Das wünschenswertere Szenario wäre wohl, dass es mithilfe des größten Investitionsprogramms seit der Nachkriegszeit gelingt, mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, nämlich die unter ökologische Konversion und Digitalisierung laufenden Investitionensmittel so effizient einzusetzen, dass 1. eine Dekarbonisierung der Industrie erreicht wird und in dieser Hinsicht spätere, höhere Kosten vermieden werden; 2. durch den Prozess der ökologischen Transformation und der alternativen Energiegewinnung zahlreiche zukunftsträchtige Arbeitsplätze für junge Menschen entstehen; 3. aus der Schiene der Digitalisierung ein anhaltender Produktivitätszuwachs erwächst. Das daraus resultierende Wirtschaftswachstum könnte die Schuldenlast verringern und eine verzögerte Anpassung der Löhne dazu beitragen, deren Verhältnis zur Arbeitsproduktivität auf internationales Vergleichsniveau zu bringen.
Im anderen Szenario, in dem es nicht gelingt, mehr als geringfügiges Wachstum zu generieren, bleibt wohl nur der Griff zur finanziellen Repression. Sprich: der Versuch, bei gleichbleibenden Nominaleinkommen etwas an Inflation ins Wirtschaftssystem zu bringen ohne die Zinsen zu erhöhen und so die Kosten von Staatsschulden, Gehältern und Renten möglichst kaum spürbar, aber konstant abzuwerten. Zugleich würde angestrebt, dass die verbraucherspezifischen Preise nicht mitsteigen, was theoretisch vorstellbar ist, da diese stark von den (gleichbleibenden) Löhnen abhängen.
Ich will mit dieser Antwort keine persönlichen Präferenzen aufzeigen, sondern lediglich (selbst) verstehen, was im bestehenden Wirtschaftssystem, das vielleicht in 20 Jahren von einem anderen abgelöst worden sein wird, möglich und wahrscheinlich ist.
In Venezuela, Argentinien oder der Türkei stehen hingegen wahlweise diverse, bei Politikern weit beliebtere "Abkürzungen" wie Gelddrucken, Verstaatlichungen, stetige Neuverschuldung, impulsiv-schwankende Besteuerung der Produktionsmittel, Kontrolle und Unterbrechung des Kapitalverkehrs, moralische Appelle zum Verkauf von Devisen und Halten der eigenen Währung, willkürliche und unwillkürliche Staatspleiten u.ä. zur Verfügung. Mit den bekannten Ergebnissen.

Mo., 22.02.2021 - 19:16 Permalink
Bild
Profil für Benutzer Stefan S
Stefan S Mo., 22.02.2021 - 14:26

Antwort auf von Martin Daniel

Einfacher ausgedrückt, die Selbstbedienungsmentalität ist in Italien ausgeprägter als in einigen anderen Staaten und das gepaart mit der auffällig kurzweiligen Halbwertszeit der Regierenden = hohes Defizit
Und nein das liegt nicht an hohen Pensionen oder sonstigen konstruierten Erklärungen und auch nicht daran das die Nordeuropäer mit dem Finger auf Italien zeigen.
Wirtschaftspolitischen Umdenken bedeutet die ganzen Blutsauger vom Staatsapparat entfernen.
Kapital ist in der drittgrößten Volkswirtschaft der EU genügend vorhanden

Mo., 22.02.2021 - 14:26 Permalink