Politik | EU als cash cow?

Jetzt wird über die Zukunft entschieden.

2 Milliarden soll Südtirol aus dem EU-Recovery Fund erhalten. Ein Doppeljackpot: Investitionen fuori sacco bei gleichzeitiger Entlastung des Landeshaushalts.
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Die Summe entspricht einem Drittel des aktuellen Landesbudgets. Da werden in der Landesregierung alle glänzende Augen gekriegt haben. 52 Projekte hat die Landesregierung in Rom eingereicht. Inzwischen ist eine Projektliste veröffentlicht worden. Aber sicher wird schon eifrig überlegt, wie die gewonnenen Investitionsspielräume im Landeshaushalt genutzt werden können. Und es wird nicht an Zurufen von außen zu für die Landesentwicklung wichtigen Projekten fehlen. Ob über die Mittel des Recovery Fund oder über den Landeshaushalt selbst: Diese Konstellation ist eine einmalige Chance, um strategische politische Weichenstellungen vorzunehmen, damit Südtirol für die Zukunft nach der Cobid-19-Pandemie gerüstet ist.

Es ist eine Rundumerneuerung der Gesellschaft anzugehen

Es sind Reformen notwendig, die eine Rundumerneuerung der Gesellschaft beinhalten. Die EU hat die Schwerpunkte festgelegt: Digitalisierung und technische Innovation auf der einen Seite, ökoverträgliche Entwicklungsplanung und neuer Solidarpakt auf der anderen Seite. Der Neustart in Produktion und Dienstleistungen, also in der profitorientierten Nutzung von Rohstoffen und menschlichen Ressourcen muss in ein neues Konzept eingebettet werden, das das ökologische Gleichgewicht berücksichtigt und soziale Ungleichheit vermindert, wenn nicht verhindert.

Das Projektpaket sieht vielversprechend aus. Zahlreiche Punkte entsprechen Vorhaben in den einzelnen Bereichen, die genau jene Handlungsfelder betreffen, wo nach allgemeiner Informationslage anzusetzen ist. Das erzeugt gespannte Erwartung. Dass in den einzelnen Landesressorts bereits aufliegende Projekte in die Wunschliste für Rom aufgenommen wurden, entspricht der politischen Pragmatik: In so kurzer Zeit 50 neue Projekte auszuarbeiten, ist kein leichtes Unterfangen, und die Möglichkeit für eine Entlastung des von der Wirtschaftsseite beklagten Investitionsstaus im Landeshaushalt allzu verlockend. Noch im Nebel bleibt, ob sie von der Zielsetzung und dem Inhalt den stringenten Kriterien der EU entsprechen und an welchen Maßstäben dies überprüft werden kann.

Projekttitel allein sind ohne ausreichenden Erklärungswert

Ohne genauere Informationen ist eine Einschätzung des tatsächlichen Innovationspotenzials der Projekte schwierig. Die Projekttitel und die genannten Summen haben keinen ausreichenden Erklärungswert. Hoch angesetzte Finanzierungen machen umso mehr neugierig auf die tatsächlichen Inhalte. Der halbe Informationsschritt sollte nun dadurch vervollständigt werden, dass der Öffentlichkeit die wesentlichen Eckpunkte der Projekte auseinandergesetzt werden. Mit Draghi als neuem Ministerpräsident werden die Projekte des Nationalen Recoveryplans sicher einer nochmaligen und gründlichen Eignungsprüfung unterzogen. Also besteht die Möglichkeit, die Liste der eingereichten Projekte zu ergänzen. Vor allem sollte die Chance genutzt werden, um wegweisende Projekte über diese Schiene zu finanzieren. Dies wäre mit einer doppelten Botschaft verbunden: Der Bevölkerung wird bewusst gemacht, dass es jetzt energische Schritte in Richtung ökologische Transformation braucht, und gleichzeitig vermittelt, dass die EU die große Triebfeder dafür ist.

Ökologisierung des ökonomischen Handelns nachvollziehbar machen

Für die Nutznießer der EU-Gelder ist es allzu verführerisch, den Anspruch zu erheben, im Sinne des „Green New Deal“ zu agieren und dennoch nicht den großen Schritt in Richtung Ökologisierung des ökonomischen Handelns zu vollziehen. Maßnahmen, die darauf abzielen, die bisherige Form des Wirtschaftens und der Ressourcennutzung dank Technologie und Digitalisierung ein bisschen effizienter zu gestalten, sind die falsche Strategie für die Nutzung von Ressourcen, die den wirtschaftlichen Neustart auf ein neues Verständnis von gesellschaftlicher Nachhaltigkeit gründen wollen (Frans Timmermans, Vizepräsident der EU-Kommission). Nachhaltigkeit muss zum zentralen Finanzierungskriterium gemacht werden. Die Bedeutung der natürlichen Ressourcen stellt einen Faktor in der Gesamtbilanz dar, der auch eine Neubewertung der Rolle von Kapital und Profit bedingen kann.

Werden Bauvorhaben (Neue Agentur für Umwelt- und Klimaschutz und Haus der Bildung) in das Projektpaket für Rom eingeschleust, so sieht das mehr nach Externalisierung von Verwaltungskosten aus denn als Beitrag zum „Greening“ des Südtiroler Entwicklungsmodells. Ob der Bau neuer Seilbahnen erforderlich ist und die Umweltbilanz der Mobilität verbessert, ist konkret zu belegen. Was in den Projekten Agrifuture und Circular Economy steckt, wäre spannend zu erfahren. Es sollte nicht nur das Wording stimmen, sondern auch die Inhalte überzeugen. Im Bereich der tertiären nicht universitären Ausbildung sind in Südtirol Fachhochschulangebote scheinbar weiterhin nicht gefragt, während diese in den Nachbarländern überaus erfolgreich sind und nun die Regierung in Rom die ITS-Angebote deutlich ausbauen und stärken will.  Wie bereits angemerkt, ist das 77 Millionen Euro schwere Projekt für das Branding der Marke Südtirol im Rahmen des Recovery Fund als völlig deplatziert anzusehen. Schließlich soll es um Weichenstellungen für die nachhaltige Entwicklung des Lebensraumes gehen und nicht um Produktplatzierung.

Recovery-Paket wichtigstes Steuerungsinstrument für die nächsten Jahre

Aufgrund des Finanzierungsumfangs bestreitet Südtirol mit dem Projektkatalog für die Recovery-Maßnahmen das Kernstück der strategischen Maßnahmen für die künftige Landesentwicklung. Für die Öffentlichkeit muss nachvollziehbar herausgearbeitet werden, wo wie und mit welchen Zielen angesetzt wird, welche die erwartbaren Ergebnisse sind und woran die Effektivität der Maßnahmen gemessen wird. Damit erreicht die Landesregierung auch mehr Identifikation mit den Entwicklungsplänen. Die Bevölkerung soll sich mit Überzeugung als Protagonistin und Mitträgerin des Zukunftsprojekts für die Lebensqualität in Südtirol fühlen. Das kann nicht ohne deutliche Markierung des notwendigen Kurswechsels funktionieren. Es muss schon klar werden, dass da und dort eingefahrene Pfade verlassen werden müssen. Dies kann deutlich gemacht werden, indem einige Innovationsprojekte dort ansetzen, wo die ökologische Wende endlich konkrete Konturen erhalten muss: Schutz und Förderung der Biodiversität, Renaturierungsprogramme zur Erhaltung eines natürlichen Landschaftsbildes, Lancierung einer regenerativen Agrarkultur.

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Thomas Benedikter Sa., 06.03.2021 - 10:02

Zu Recht weist du darauf hin, lieber Karl, dass so Manches aus dieser Liste der Südtiroler Recovery-Projekte ohnehin vom Land getätigt werden müssten. Mit Sicherheit gehört die Mehrheit der Projekte ins Pflicht-Aufgabenprogramm der Landesregierung der nächsten Jahre, ganz unabhängig vom Geldsegen aus Brüssel bzw. aus Rom. Letztendlich werden nicht 2,4 Mrd. Euro nach Bozen fließen, haben schon die SVP-Vertreter in Rom verlauten lassen.
Auf drei wichtige Punkte gehst du allerdings zu wenig ein:
1. In der bisherigen Debatte zu den Südtiroler Recovery-Projekten ist die Opposition im Landtag übergangen worden. Noch vor der Bürgerbeteiligung wäre ein Mindestmaß an parlamentarischer Abklärung zu erwarten.
2. Das Programm ist - wie so oft in Südtirol - widersprüchlich. Platz finden neue Speicherseen für die Beschneiung von Skigebieten und der Ausbau der Fahrradwege, ein neuer Schlachthof (also nichts mit echten Initiativen zur Reduzierung des Fleischverbrauchs) und Schutz der Biodiversität, neue Busbahnhöfe und das zitierte Standortmarketing mit 77 Mio. Wenn es insgesamt weniger Geld aus dem Recovery-Fund gibt, bleiben jene Projekte auf der Strecke, die eine schwächere Lobby hinter sich haben. Das sind sicher nicht die neuen Speicherseen
3. 30 der 47 Projekte mit einem Ausgabenumfang von rund 1 Mrd. zählen zum Bereich "Grüne Revolution". Das klingt radikal, und läuft oft aufs "green washing" hinaus. Es bräuchte eine unabhängige Bewertung durch eine Lobby-unabhängige Agentur für Umwelt- und Klimaschutz.
Schließlich: viel an Schutz der Artenvielfalt, Klima und Landschaft lässt sich in Südtirol nicht durch teure Investitionen, sondern einfach durch Unterlassen erreichen. Tourismus deckeln, Pestizidausbringung bremsen, auf Erschließungsprojekte verzichten - das spart sogar Geld und geht ohne Recovery-Millionen.

Sa., 06.03.2021 - 10:02 Permalink