Gesellschaft | Seniorenwohnheime

„Schwere Gewissenskonflikte und Angst“

Eine Studie zeigt, welche Folgen die Pandemie und die damit verbundene Isolation für die Situation in Südtiroler Wohnheimen hatte – diese sind gravierend.
Pflege
Foto: Mat Napo/Unsplash

Am Freitag (16. April) hat das Institut für Allgemeinmedizin der Claudiana die Ergebnisse der Studie „Seniorenheime in Isolation“, die unter der Leitung von Barbara Plagg und in Zusammenarbeit mit dem Forum Prävention entstanden ist, an der Landesfachhochschule präsentiert. Die durch Corona stark veränderte Situation in Seniorenwohnheimen sollte mittels einer qualitativen Studie festgehalten werden, auch, um Lösungsansätze zu finden und die enormen Belastungen für alle Beteiligten in Zukunft vermeiden oder wenigstens verbessern zu können.

 

Maßgebliche Veränderungen durch die Pandemie

 

Im Frühjahr 2020 habe die Umwandlung des Krankenhauses Bozen in eine Corona-Station die möglichen Gefahren einer Isolation deutlich gemacht, erklärte Professor Klaus Eisendle, Direktor der Claudiana. Daher sei es unabkömmlich gewesen, besonders die Situation in Pflegeheimen näher zu betrachten. Und Verbesserungsmöglichkeiten in diesem Zusammenhang gibt es allemal: Das Forschungsteam beschreibt eine Situation von Angst und Hilflosigkeit in den Seniorenwohnheimen, die Pflegekräfte hätten sich zum Teil ohnmächtig gefühlt. Ohne klare Richtlinien der Politik oder einer angemessenen Kommunikation dieser seien sie allein gelassen worden – genauso wie die Angehörigen, und natürlich die Bewohner*innen. Im Zuge der Interviews habe eine Patientin aus einem Wohnheim gesagt, sie spüre seit der Pandemie und ihren Maßnahmen, wie unwichtig Senior*innen der Gesellschaft seien.

Somit wurden zwischen September und Dezember 2020 45 teilstrukturierte Tiefeninterviews geführt, sowohl mit ärztlichen Leiter*innen der Seniorenwohnheime und dem Pflegepersonal, als auch mit den Bewohner*innen und den Angehörigen. Die Corona-Pandemie habe das Leben für alle, die in Seniorenwohnheimen leben, das Personal, und die, die dort Angehörige untergebracht haben, maßgeblich verändert. Dazu gehöre auch die Aussetzung der Grundrechte der Pflege wie das Besuchsrecht und das Recht auf Sterbebegleitung.

 

Schwere Belastung für Patient*innen

 

Die Isolation sei für Bewohner*innen oftmals schwer auszuhalten gewesen. Der Verzicht auf Tätigkeiten wie den Friseurbesuch, den Besuch der heiligen Messe oder der Umgang mit dem eigenen Geld seien beispielsweise als schmerzlich empfunden worden, aber am dramatischsten natürlich: die ausgefallenen Besuche. „Die Interviews zeigen, dass die Bewohner*innen der Heime auf altbewährte Strategien speziell aus ihrer entbehrungsreichen Kindheit zurückgreifen, um die Isolation auszuhalten.“, so Barbara Plagg. Doch solche Bewältigungsmechanismen hätten nur bedingt geholfen: Wie die Studie beweist, gab es massive soziale, kognitive, psychische und körperliche Auswirkungen bereits in den ersten Wochen des Lockdowns 2020. Die Bewohner*innen scheinen zwar die Maßnahmen größtenteils nachvollziehen können, dennoch zehrten sie deutlich an ihnen. Bei vielen habe sich im Laufe der Zeit sogar die Lust am Leben reduziert, wie das Forschungsteam betonte.

Die Folgen: Nicht-infektiöse Pathologien hätten zugenommen, und ein sprachlicher, geistiger und motorischer Abbau der Bewohner*innen sei beobachtet worden. Zwar seien die Infektionszahlen durch ergriffene Maßnahmen bewiesenermaßen gesunken, aber dafür seien ganz andere gesundheitliche Phänomene aufgetreten: Dazu zählen gesteigerte Orientierungslosigkeit, Zunahme apathischer und verwirrter Zustände, Stürze aufgrund fehlender Mobilisierung. Aber auch Zunahmen von Depressionen, Psychosen, Angststörungen, Appetitlosigkeit und Schlafstörungen, die teils eine erhöhte Bedarfsmedikation erforderten, seien festgestellt worden. Als besonders wichtiges Ergebnis der Studie betonte Plagg, dass Bewohner*innen, die an Demenz litten, innerhalb der letzten Monate häufig dementer geworden seien – ein Prozess, der irreversibel sei.

 

Spannungsfeld zwischen Leben und Überleben

 

Die Vorgehensweise und Entwicklungen in einzelnen Seniorenwohnheimen seien unterschiedlich gewesen, „doch eines hatten alle Fachkräfte gemeinsam: Schwere Gewissenskonflikte und Angst, sich im Spannungsfeld zwischen Maßnahmen zum Infektionsschutz, den ethischen Grundsätzen der Pflege, möglichen strafrechtlichen Konsequenzen und der Verantwortung gegenüber dem Patientenwohl nicht richtig zu verhalten“, berichtete Plagg. Es sei für alle eine Herausforderung gewesen, ein Mittelmaß zwischen Covid19-Vermeidungsmaßnahmen und den Folgen von Isolation zu finden, betonte Klaus Eisendle. Dieses Dilemma habe vor allem das Personal gespürt, schon in einer frühen Phase der Studie sei ihre Angst spürbar gewesen: Angst vor Tod, vor psychischer und physischer Belastung, vor dem sich Infizieren und dem aktiven Anstecken anderer. Gerade in ruralen Gebieten seien Pflegekräfte auch einer starken Stigmatisierung ausgesetzt gewesen.

Fundierte ethische Grundsätze der Pflege und Versorgung von Patient*innen dürfen auch und ganz besonders im Katastrophenfall nicht verhandelt werden.

Das Personal sei damit enorm emotional belastet gewesen. Hinzu kämen eine Hilflosigkeit und ein Unwissen darüber, wie welche Maßnahmen im Einzelfall umgesetzt werden sollten, so Peter Koler vom Forum Prävention. Zusätzlich sei der veränderte Sterbeprozess der Bewohner*innen für Fachkräfte und für Angehörige sehr traumatisch gewesen, sagte Barbara Plagg. In einigen Strukturen sei es sogar möglich gewesen, in Schutzausrüstung am Sterbebett den Bewohner*innen Besuche abzustatten, und damit das Besuchsverbot zu übergehen, andere Strukturen hätten dies allerdings nicht zugelassen. Sie betont auch, dass die verschiedenen Strukturen je nach Möglichkeiten und eigenen ethischen Grundsätzen gehandelt hätten, was einen unterschiedlichen Umgang mit der Situation erkläre. In einigen Strukturen sei es bewusst zu „zivilem Ungehorsam“ gekommen, um zu vermeiden, dass die Bewohner*innen an Einsamkeit sterben müssten.

 

Die Relevanz gut ausgebauter Strukturen

 

Eines der Probleme für den richtigen Umgang mit Patient*innen sei das Fehlen einer ärztlichen Leitung zu Beginn der Pandemie in mehreren Strukturen, so Giuliano Piccoliori. „Das stellte sich als Problem dar, da es sich nun nicht nur um eine theoretische Funktion, sondern um eine wichtige Position mit viel Verantwortung handelte“, sagte er. Der Handlungsspielraum von Ärzt*innen, der von Gesetzen, Verordnungen und Richtlinien auf verschiedenen Ebenen der Politik vorgegeben war, sei nicht immer klar gewesen. Somit hätten sich viele Mediziner*innen im Stich gelassen gefühlt. Gleichzeitig sei aber ein großes Verantwortungsgefühl spürbar gewesen, viele von ihnen hätten aktiv darum gebeten, die ärztliche Leitung in einer der Seniorenheime zu übernehmen. Wo diese Rolle vertreten war, habe das Krisenmanagement besser funktioniert, erklärte Piccoliori. 

Die Anpassungsfähigkeit an die Pandemie-Situation sei vor allem abhängig von der Autonomie, dem Vertrauen untereinander und der intrinsischen Motivation des Personals gewesen. „Die befragten Gruppen schienen besser mit der Ausnahmesituation zurechtzukommen, wenn in den leitenden Positionen der Heime eine geteilte ethische Haltung gefunden werden konnte“, sagte Peter Koler. Wo eine solche Struktur vorzufinden gewesen sei, sei es einfacher gewesen, Lösungsstrategien zu entwickeln. Daher sei es wichtig, Kommunikation intern zu stärken, um ein verbessertes Arbeitsklima zu gewährleisten, so der Institutspräsident Engl. Ebenfalls sagte er, dass Pflegepersonal brauche verbesserte psychologische Supervision.

Das ist ein langfristiger notwendiger gesellschaftlicher Diskurs.

Was gut in der Bewältigung der besonderen Situation funktioniert habe, sei die Intensivierung des Austausches im Team, zusätzlich hätten Pflegekräfte hohe Motivation an den Tag gelegt. Hausärzt*innen hätten viel Arbeit und zahlreiche Überstunden auf sich genommen, und auch Digitalisierungs-Prozesse seien positiv vorangeschritten. Allerdings betonte Adolf Engl, dass die Pflege Schwerstarbeit sei, auch unabhängig von Pandemie. Somit bedürfe es in Zukunft ausreichender personellen Ressourcen und einer angemessenen Honorierung. „Das ist ein langfristiger notwendiger gesellschaftlicher Diskurs, der geführt werden muss“, so Barbara Plagg.

Zum Glück habe sich die Situation akut verbessert, durch Impfungen, Testmöglichkeiten und Schutzmöglichkeiten. Unter diesen Voraussetzungen wird die unmittelbare Öffnung der Heime für Angehörige gefordert. „Fundierte ethische Grundsätze der Pflege und Versorgung von Patient*innen dürfen auch und ganz besonders im Katastrophenfall nicht verhandelt werden“, sagte Barbara Plagg. Eine Lösung wie der Besuch hinter Plexiglasscheiben sei da nicht zielführend – es sei als schlimm empfunden worden, hätte auf demente Bewohner*innen sogar verstörend wirken können.

 

Partizipativere Wohnheime für die Zukunft

 

Die Forderung, die basierend auf den Ergebnissen der Studie gestellt werden, sind die nach einer partizipativeren Gestaltung der Seniorenwohnheime durch alle Gruppen: Personal, Bewohner*innen und Angehörige. Angehörige beklagen, sie seien mit ihren Sorgen allein geblieben, auch, weil die Kommunikation der Maßnahmen mangelhaft gewesen sei. Ihnen und auch den Bewohner*innen sollten in Zukunft deutlich mehr Mitspracherecht zustehen. So solle es zukünftig eine von Bewohner*in und Angehörigen gemeinsam erstellte Patientenverfügung geben, nach der im Notfall agiert werden könne.

Adolf Engl erklärte, es gebe in den Heimen teilweise Initiativen wie Angehörigenvertretung und eine Heimbewohnervertretung, die sich mit der Heimleitung abstimme. Das werde sicherlich nicht in allen Heimen so gemacht, daher sei ein Ausbau solcher Instrumente sinnvoll. „Was generell wichtig wäre, ist, dass es nicht nur eine Kommunikationsschiene nach unten gibt, sondern in die Breite und von unten nach oben, dass vor allem die Pflegekräfte, die direkt am Patienten arbeiten, mehr Möglichkeit haben sich einzubringen“, so Engl.

 

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Klemens Riegler Sa., 17.04.2021 - 19:54

Vorausschickend muss ich schreiben, dass ich die Bedenken und Sorgen unserer alten Menschen (und der Angehörigen) in den Pflegeheimen durchaus nachvollziehen kann. Allerdings dieses Papier als Studie zu bezeichnen würde ich nicht wagen. Für mich ist es eine Umfrage! Speziell ohne konkreten Vergleichszeitraum und ohne statistische Daten. Zudem dürfte sich die gesundheitliche Situation von alten Menschen, die an Demenz oder anderen Pathologien leiden, auch vorher im Zeitraum von einem Jahr verschlechtert haben. Und soweit mir bekannt ist, gehörten auch vor Corona Aussagen wie: Zitat "Lust am Leben reduziert" zur Pflegeheim-Realität. Von einer "Studie" hätte mich mir z.B. auch erwartet wie viel Prozent der Bewohner (und Angehörige) zu irgend einem Thema stehen. Oder noch besser: welche Maßnahmen sie für besser oder schlechter halten oder gehalten haben. Auch im Sinne von: Was ist das kleinere Übel? In dieser Form ist es einfach nur eine Meinung diverser Beteiligter zu einem Thema.
P.s. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass die Heimbewohner glücklicher gewesen wären, wenn sie hätten mit ansehen müssen wie viele weitere Mitbewohner ins Jenseits wechseln oder wochenlang dagegen gekämpft hätten. Soviel zum Thema "Angst".

Sa., 17.04.2021 - 19:54 Permalink
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Stefania Pulcini Sa., 17.04.2021 - 21:48

Antwort auf von Klemens Riegler

Signor Riegler, grazie, mi stavo facendo le stesse domande e mi chiedo anche se 45 interviste tra residenti, personale e parenti..,sia un campione rappresentativo. Ad es. quanti residenti sono stati intervistati? Sono abbastanza per trarre conclusioni? La validità dei risultati ( p-value) come è stata misurata?

Sa., 17.04.2021 - 21:48 Permalink
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Barbara Plagg So., 18.04.2021 - 16:21

Hallo Herr Riegler, in der Forschung unterscheidet man grundsätzlich zwei Methoden: quantitative und qualitative (die man auch kombinieren kann). Bei unserer Studie handelt es sich um eine qualitative, die im Gegensatz zur quantitativen in die Tiefe (und nicht in die Breite) geht, induktiv ist, neue Theorien entwickeln lässt und eine nicht standardisierte Messung ist, um möglichst detaillierte Informationen zu gewinnen. Beide Ansätze haben Vor- und Nachteile, für ein neues Feld, in das man nicht hypothesengeleitet reingehen will, bietet sich auf jeden Fall die qualitative an, zumal Transparenz, Reichweite und Intersubjektivität gegeben ist. Mit 45 Interviews, über 600 Seiten Datenmaterial sind aus der Analyse der Interviews 15 Überkategorien und 96 Unterkategorien hervorgegangen, die insgesamt 3862 Codes umfassen - was für eine qualitative Arbeit sehr umfassend ist. Vergleichszeitraum macht für das Studiendesign keinen Sinn, man könnte natürlich und immer (bei vorhandenen Ressourcen) das Ganze irgendwann wiederholen. Kurze Abschlussbemerkung: Auch "statistische" Erhebungen sind nicht einfach so repräsentativ, zumal sich Repräsentativität nicht durch die Anzahl der Teilnehmer*innen, sondern durch die gezielte Auswahl einer Teilgesamtheit ergibt (Sie können also auch Tausende in einer Zufallsstichprobe zu einem Thema befragen, das ist dann trotzdem nicht repräsentativ). Sollten Sie sich in der Thematik vertiefen wollen, bei den Student*innen kommt Wichmanns "Quantitative und Qualitative Forschung im Vergleich" immer gut an, aber es gibt auch recht gute und einfache Literatur im Internet. Noch kurz zu Ihrer Aussage zur Demenz: Degenerative Erkrankungen verschlechtern sich mit oder ohne Pandemie, die Progredienz ist in Isolation allerdings eine völlig andere. Herzliche Grüße, Barbara Plagg

So., 18.04.2021 - 16:21 Permalink
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Klemens Riegler Di., 20.04.2021 - 23:14

Antwort auf von Barbara Plagg

Danke Frau Plagg! für die weiterführenden Erklärungen ... die gar einiges "erklären". Das Ergebnis hatte beim mir eben leider einen etwas komischen Beigeschmack hinterlassen ... natürlich der "qualitativen Studie" geschuldet, die immer etwas mehr Interpretationsspielraum lässt als die quantitative. Wir wissen ja: sogar quantitative Studien lassen sich so & so lesen.
p.s. Es war ja WICHTIG, dass Sie das Thema untersucht und aufs Parkett gebracht haben.

Di., 20.04.2021 - 23:14 Permalink
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Stefania Pulcini Mi., 21.04.2021 - 23:13

Mi dispiace insistere con i dubbi che mi sorgono, ma studi qualitativi abbisognano comunque di Metodo, che andrebbe dichiarato proprio per dare valore allo studio; il numero degli intervistati, che non precisa quanti sono i residenti, i parenti e il personale coinvolto, lascia spazio a perplessità e critiche. Il breve periodo di analisi e il sovrapporsi di variabili (es. grado di malattia o comorbilità dei residenti) anche. Il fatto di avere 600 pagine di interviste da "analizzare" non indica, da solo, che sia stato fatto un buon lavoro, solo per dirne alcune.

Mi., 21.04.2021 - 23:13 Permalink