Kultur | Salto Weekend

Besuch bei der Kusine (2/3)

Ein Blick in die Geschichte der Minderheit und ein Besuch beim Ministerpräsidenten der "Deutschsprachigen Gemeinschaft" in Ostbelgien.
Belgien12
Foto: Eleonora Mocellin

Etwa zwanzig Minuten vom Eupener Marktplatz liegt auf einer grünen Anhöhe das Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens. Oder der DG, wie sie verständlicherweise auch oft genannt wird. In dem ehemaligen, sehr preußisch aussehenden, Sanatorium ist heute neben dem Plenarsaal und einer ganzen Menge Sitzungsräumen und Büros auch ein Besucher*innenzentrum untergebracht, dass es Ostbelgier*innen sowie Tourist*innen in normalen Zeiten ermöglicht, die Rolle der DG im belgischen Föderalstaat zu verstehen. Denen, die Expert*innen in dem Bereich sind, ist vollkommen klar, wie verwirrend der belgische Staat sein kann, sogar für Einheimische. Oliver Paasch, Ministerpräsident der DG, meint, die politischen und verwaltungstechnischen Eigenschaften des belgischen Staats taugen fast als Boden für ein Satirestück, und DG-Senator Alexander Miesen hat Verständnis für alle, die nach fünf Minuten nicht mehr zuhören, wenn jemand versucht, diese „Black Box“ zu erläutern. 
Versuchen wir, das Wichtigste zusammenzufassen. Das Königreich Belgien wurde 1830 gegründet, als französischsprachiger Zentralstaat mit einem König als Staatsoberhaupt und einer Regierung in Brüssel. Schon von Beginn an lebten in Belgien allerdings zwei Sprachgruppen zusammen: die niederländischsprachigen Belgier*innen in Flandern, und die französischsprachigen in der Wallonie. Es zeigte sich schließlich, dass es nicht bei der ursprünglichen Staatsform bleiben konnte. So wurde der belgische Staat durch mehrere (Verfassungs-)Reformen zu einem komplexen und sich stetig weiterentwickelnden Bundesstaat ausgebaut. Heute sind politische und verwaltungstechnische Zuständigkeiten auf Staat, Regionen, Gemeinschaften, Provinzen und Gemeinden verteilt. Besonders, und für Außenstehende kurios, ist im Falle Belgiens, dass es dort zwei Arten von Bundesländern gibt: Regionen sowie Gemeinschaften.  

Die Deutschsprachigen Belgier*innen sind eine klare Minderheit im Staat, und genießen, laut Ministerpräsident Paasch „abgesehen von Südtirol den besten Minderheitenschutz in Europa“.

Regionen gibt es in Belgien drei: Flandern im Norden, wo niederländisch gesprochen wird, die frankophone Wallonie im Süden, und die offiziell zweisprachige Region Brüssel-Hauptstadt. Und es gibt auch drei Gemeinschaften: die Flämische, die Französische und die wesentlich kleinere Deutschsprachige. Eine Gemeinschaft bezeichnet in Belgien ein Kollektiv, das durch eine gemeinsame Sprache und Kultur geeint ist, ein eigenes Parlament und eine Regierung hat, und vor allem für sprachliche, kulturelle und personenbezogene Angelegenheiten zuständig ist. Zur DG, die umgangssprachlich auch als „Ostbelgien“ bezeichnet wird, gehören neun Gemeinden, die allesamt nahe an den Grenzen zu den Niederlanden, Deutschland und Luxemburg liegen. Die Deutschsprachigen Belgier*innen sind eine klare Minderheit im Staat, und genießen, laut Ministerpräsident Paasch „abgesehen von Südtirol den besten Minderheitenschutz in Europa“. 


Das Gebiet der DG liegt in der Wallonischen Region, die ebenfalls ein Parlament und eine Regierung hat, und innerhalb derer in der Provinz Lüttich/Liège. Die Gemeinschaft kann durch Verhandlungen mit der Wallonie durchaus andere Kompetenzen erlangen, was sie durch Geduld und Verhandlungsgeschick wiederholt geschafft hat. Denn Druckmittel hat die DG der Region gegenüber keine. „Wir haben rund zwanzig Jahre daran gearbeitet, den Wohnbau und die Raumordnung von der Wallonie übernehmen zu können“, nennt Senator Miesen als ein Beispiel. Freddy Mockel, Abgeordneter für die Grüne Partei „Ecolo“ im Parlament der DG, kann sich außerdem weitere Verhandlungen über Zuständigkeiten mit der Provinz Lüttich/Liège vorstellen, die als Verwaltungsschicht gewissermaßen ein eher hinderliches Überbleibsel aus der Staatsgründung darstellt. Und bei solchen Verhandlungen soll es nicht bleiben – abgesehen von einer populistischen Partei, die die ostbelgische Autonomie für zu kompliziert und zu teuer hält, befürwortet man in Ostbelgien eine Politik und Verwaltung nahe an den Bürger*innen. Für die Verantwortlichen in der Wallonischen Region, und in der Provinz Lüttich/Liège, sind die Lebensrealitäten der Bewohner*innen in der DG, einem Minderheiten- und Grenzgebiet, eben doch oftmals weit weg, schon alleine wegen des Sprachunterschieds. Wahrscheinlich ist außerdem, dass der belgische Bundesstaat als ganzer in Zukunft umgeformt wird. „Es ist eine Prognose, dass wir uns in Belgien zu einer Fusion der Institution Gemeinschaft und der Institution Region hin entwickeln, weil man gemerkt hat, dass an den Schnittstellen der beiden Effizienzverluste entstehen“, so Ministerpräsident Paasch. „Die neuen Bundesländer könnten entweder auf Basis von Gemeinschaften oder von Regionen bestehen. Momentan entspricht unseren Vorstellungen am ehesten das, was man in der frankophonen Presse „Belgien zu viert“ nennt, und zwar ein Bundesstaat mit vier Gliedstaaten: Flandern, der Wallonie, Brüssel, und der DG.“ Solch eine Entwicklung muss allerdings von Brüssel bzw. den anderen großen Regionen und Gemeinschaften ins Rollen gebracht werden, da macht sich in der DG niemand etwas vor. Auch wird ein solcher Prozess dauern, Geduld, Geschick und Pragmatismus fordern – das scheint in der ostbelgischen Politik allerdings niemanden zu stören oder abzuschrecken. 

Klein, aber oho, das ist eine abgegriffene Floskel, aber sie kommt einem doch schnell in den Sinn, wenn man sich die DG genauer anschaut.

In jedem Fall bedeuten mehr Aufgaben und Zuständigkeiten auch schlicht mehr Arbeit für die DG – einige Parlamentsabgeordnete wie Freddy Mockel und sein Parteikollege Andreas Jerusalem unterstreichen daher, dass gemächliche Veränderungen hier nur von Vorteil sind. Momentan ist der politische und administrative Apparat der DG nämlich gut beschäftigt. Die Regierung der DG besteht momentan neben dem Ministerpräsidenten drei Minister*innen, und das Parlament aus sechs Fraktionen bestehend aus 25 Abgeordneten, die sich ihrer politischen Arbeit wohlgemerkt erst nach ihrem eigentlichen Tagesjob widmen. Laut Andreas Jerusalem könne man so ein Amt nicht wirklich als „Nebenjob“ bezeichnen, weil es freilich mehr Zeit und Einsatz fordert als der Begriff vermuten ließe, aber das Prinzip sein in etwa jenes. Abgeordnete in der DG arbeiten tagsüber beispielsweise als Lehrpersonen, Beamte, im Gesundheitsbereich oder studieren noch – und treffen sich nach Feierabend oder am Wochenende in Ausschüssen und zu Debatten. Solch eine Aufstellung des Parlaments sei momentan trotz der Herausforderungen die gelungenste Lösung, meint Abgeordneter Robert Nelles – denn für ein Parlament mit 25 Vollzeitpolitiker*innen hätte die breite Öffentlichkeit aufgrund der Größe der DG zurzeit kaum Verständnis. Es handelt sich gewiss um ein interessantes Modell, das vielleicht etwas aufräumt mit dem Klischee, die meisten Leute gingen nur in die Politik, um ohne viel Arbeit reich zu werden. Außerdem fördert das ostbelgische System eine Zusammensetzung des Parlaments, welche die Bevölkerung wirklich widerspiegelt – weil es Menschen aus allen Berufssparten und Lebensabschnitten das Quereinsteigen ermöglicht, und so einen Reichtum von Eindrücken und Erfahrungen in der Politik begünstigt.

 

Mit ihrer Einstellung großen anstehenden Veränderungen gegenüber treten das ruhige Gemüt und das praktische, realistische Denken, das man den Menschen in Ostbelgien nachsagt, auf, und auch ihr Selbstbewusstsein. Klein, aber oho, das ist eine abgegriffene Floskel, aber sie kommt einem doch schnell in den Sinn, wenn man sich die DG genauer anschaut. Wenigstens ein bisschen wurde diese Attitüde von einem gewissen Silvius Magnago inspiriert, der 1971 in Ostbelgien eine Rede gehalten, und damit laut Historiker Carlo Lejeune wichtige Impulse für Autonomiebestrebungen gegeben hatte. Die heutige, großzügige Autonomie der DG wird im Föderalstaat Belgien nicht infrage gestellt, die Deutschsprachigen würden höchstens als verwöhntes Nesthäkchen gesehen, das alle Wünsche erfüllt bekommt, so DG-Senator Miesen. „Dabei wollen wir ja nicht mehr als alle anderen, wir wollen bloß nicht weniger.“ Solche Reaktionen auf das Autonomiesystem in Ostbelgien fußen bestimmt vielfach auf schlichtes Unwissen, was die Geschichte und besondere Situation vor Ort angeht. Die ostbelgische Lebensart und ihre Bedürfnisse hat man etwa in der Hauptstadt nicht immer „auf dem Schirm“, wie Miesen sagt. Das zeigte sich beispielsweise im ersten COVID-Frühling, als die Grenzen geschlossen wurden, was das Laben vieler Leute in Ostbelgien ganz schön durcheinanderbrachte. Denn Staatsgrenzen überwinden viele Ostbelgier*innen alltäglich, beispielsweise weil sie in Ostbelgien leben, aber in Deutschland oder Luxemburg arbeiten. In der Gemeinde Raeren, rund zehn Kilometer nordöstlich von Eupen, haben übrigens rund die Hälfte der Einwohner*innen keinen belgischen Pass. Während dem ersten Akt der Corona-Tragödie wurden alltägliche Rituale plötzlich schwierig, und es kam zu kuriosen Fällen, in denen Menschen mit Wohnsitz in Ostbelgien zwar noch zu ihrem Arbeitsplatz in Deutschland fahren durften, aber nicht mehr zum Wocheneinkauf, zur Tankstelle, oder zum Pferdestall, wo ihr Tier untergestellt war. Diese Kluft zwischen Zentrum und Peripherie sei aber kein belgisches Problem.
Diese Art von Problem könnte eventuell durch mehr politische Vertretung und daher Sichtbarkeit der DG auf Bundesebene gelindert werden. Zurzeit kann die DG auf eine solche nämlich nur im Europäischen Parlament und im belgischen Senat zählen – nicht jedoch in der Abgeordnetenkammer, im Wallonischen Parlament, oder im Provinzialrat der Provinz Lüttich/Liège. Gerade wegen dieser begrenzten Sichtbarkeit auf Landesebene macht SG-Senator Miesen prinzipiell und gerne von seinem Recht Gebrauch, sich im Senatsplenum auf Deutsch zu äußern, denn „Wenn nicht zu der Gelegenheit, wann dann?“

Kompatscher war außerdem schon auf dem Tirolerfest, das jeden Sommer in Eupen stattfindet. 

Die DG hat wiederum gezeigt, dass sie willig und fähig dazu ist, aus ihrer besonderen Lage ihre größte Stärke zu machen. Sie versteht sich, was nicht überraschen dürfte, als europäische Region und ist Teil der Euregios Maas-Rhein sowie Saarland-Lothringen-Luxemburg, und bemüht sich allgemein seit Jahrzehnten um den Austausch und die Vernetzung mit anderen Minderheits- und Grenzgebieten, wie Liechtenstein, einigen deutschen Bundesländern und Schweizer Kantonen – und Südtirol. Wir sind in Ostbelgien allgemein recht gut bekannt und beliebt, als Urlaubsziel, aber auch als „non-plus-ultra Autonomiemodell und ständiger Partner“, wie Senator Miesen es ausdrückt. Ministerpräsident Oliver Paasch und Landeshauptmann Arno Kompatscher tauschen sich häufig aus. Beide sind Jahrgang 1971, und Paasch betont, dass da auch auf persönlicher Ebene vieles stimme. Kompatscher war außerdem schon auf dem Tirolerfest, das jeden Sommer in Eupen stattfindet. „Sicherlich lassen sich Unterschiede feststellen, zum Beispiel was das Verhältnis der Bevölkerung zum Nationalstaat angeht. Aber darüber hinaus haben wir viele Gemeinsamkeiten, die wir immer wieder feststellen“, so Paasch. Inspirieren lassen habe sich die ostbelgische Politik von der Inklusivität des Südtiroler Schulwesens, den Partnerschaften mit der Universität Innsbruck was die Ausbildung von Mediziner*innen und Jurist*innen betrifft, oder vom Standortmarketing. Und was könne Südtirol von Ostbelgien lernen? Der Ministerpräsident betont in seiner Antwort auf die Frage nochmals, dass soweit seine DG mehr von Südtirol hat lernen können als umgekehrt, aber spricht dann das System der Kinderbetreuung an, auf das man in Ostbelgien stolz ist, sowie ein besonderes demokratisches Projekt, dass 2019 gestartet ist. Der sogenannte Bürgerdialog soll der Bevölkerung der DG neue Möglichkeiten geben, an politischen Entscheidungsfindungen mitzuwirken, und damit letztendlich auch die repräsentative Demokratie stärken. Ein besonderes Projekt, das der DG weltweite mediale Aufmerksamkeit eingebracht hat – und in den Augen von Oliver Paasch auch für Südtirol interessant sein könnte. Alles in allem gibt es jedoch vor allem Lob und Bewunderung Südtirol gegenüber. Das ist natürlich schmeichelhaft – und fast irgendwie überraschend. Schließlich scheint man doch in Ostbelgien mit der eigenen Minderheitenidentität und Grenzlage mehr im Reinen zu sein als in Südtirol. Umfragen zeigen immer wieder, dass Ostbelgier*innen gerne Belgier*innen sind, und französischsprachigen Mitbürger*innen scheint man auch nicht skeptisch oder gar feindselig gegenüber zu stehen. Sind wir denn wirklich so ein gutes Beispiel, oder müssten wir umgekehrt viel mehr nach Ostbelgien für neue Ideen blicken?  

 

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pérvasion Sa., 08.05.2021 - 17:46

»Die Deutschsprachigen Belgier*innen sind eine klare Minderheit im Staat, und genießen, laut Ministerpräsident Paasch „abgesehen von Südtirol den besten Minderheitenschutz in Europa“.«

Ich frage mich gerade, ob das Unwissen oder Schmeichelei ist.

Sa., 08.05.2021 - 17:46 Permalink
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pérvasion Sa., 08.05.2021 - 17:54

»Umfragen zeigen immer wieder, dass Ostbelgier*innen gerne Belgier*innen sind, und französischsprachigen Mitbürger*innen scheint man auch nicht skeptisch oder gar feindselig gegenüber zu stehen. Sind wir denn wirklich so ein gutes Beispiel, oder müssten wir umgekehrt viel mehr nach Ostbelgien für neue Ideen blicken?«

Belgien ist nicht mononational aufgebaut und zudem kein Zentralstaat, das macht die Identifikation schon einfacher. Den Ostbelgierinnen will heute meines Wissens auch niemand irgendetwas aufoktroyieren.

Sa., 08.05.2021 - 17:54 Permalink