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Thalassa, Thalassa, Handy!

Am Meer habe ich Dinge gesehen, die ihr Menschen tut, obgleich ihr es selbst nicht glauben würdet.
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Foto: free images

Und nein, ich meine nicht die brennenden gigantischen Schiffe wie in „Blade Runner“, draußen vor der Schulter von Orion. Was mir am Meer schon den Rest gegeben hat, waren Excel-Sheets, die zwischen zwei Aperitifs am Strand bearbeitet wurden. Bilanzerläuterungen, lautstark preisgegeben von Menschen in Flipflops. Handygespräche, gebrüllt wie an der Mailänder Börse. Herausposaunte Tipps zur Cash-flow-Erhöhung. Ich habe Männer gesehen und Frauen, die dem Meer den Rücken zuwandten, damit sie durch sein Funkeln nicht bei ihrem obsessiven Herumwischen auf dem Smartphone gestört wurden. Alle waren immer nur mit ihrem Handy beschäftigt, mit dem einzigen Ziel, die anderen – die in Mailand im Büro saßen – neidisch zu machen. Es waren Leute am Meer, die mit dem Meer überhaupt nichts anzufangen wissen. Alles, was ihnen wichtig ist, ist das Drumherum: hier ein Eis, dort ein Spaziergang an der Strandpromenade, ein Instagram-Post, das Dum-Dum der Hintergrundmusik, die Liegestuhlnachbarn. Ab und zu gehen sie ins Wasser, um sich mal kurz zu erfrischen, natürlich immer auf der Hut vor den Abwasserkanälen der Pensionen und Hotels, bei denen man sich fragt, wie sie es eigentlich zu all ihren Sternen gebracht haben. Ich würde wirklich gerne wissen, was die Menschen daran finden, so dicht an dicht in den Strandbädern der Adria zu liegen, zusammengedrängt wie Sardinen in der Dose. So vernichten sie das Meer, so töten sie das Meer, so demütigen sie das Meer, so zwingen sie das Meer in die Knie. Wie recht du hattest mit deinem Lied, Lucio Dalla! Ab ans Meer, heißt die Devise für alle, die dann allerdings sofort wegschauen, wenn ein armer Hund auf der Flucht vor Elend und Gewalt an unseren Küsten anlandet und um Hilfe bittet. Wir haben immer noch nicht begriffen, dass nicht das Meer uns das Virus bringt. Das Virus reist in Linienflugzeugen, und dann erlaubt es uns nicht mehr, zusammenzusitzen, zu tanzen, französische Küsse auszutauschen und erst recht keine spanischen.

Ich bin gerade auf der kleinen toskanischen Insel Giannutri, unterm leuchtend klaren Sommerhimmel, alles ist friedlich und still. Eine Gruppe von Menschen sitzt mit Aperitifs an den Tischchen auf dem Terrazzo Belvedere, der kleinen Aussichtsterrasse eines Bed&Breakfasts. Auch ich will dorthin, hege allerdings keine großen Hoffnungen: Ich kenne meine Pappenheimer, weiß, dass diese Leute gehen werden, sobald sie ihre Gläser geleert haben, dass sie nicht auf den schönsten und wichtigsten Moment des Tages warten werden wollen. Der Moment, wegen dem ich hier stehe. Auf den ich mich mental vorbereite, auf den ich mich konzentriere. Denn in wenigen Minuten, wenn die Sonne im Winkel zwischen der Insel Giglio und dem Meer angekommen sein wird, werde ich aufstehen, werde dem vergangenen Tag meine Referenz erweisen und Helios, dem Sonnengut, meinen Gruß bieten. Helios, der – wie Sophokles wusste – alle Dinge sieht. Das ist übrigens keine subjektive Meinung: Jedes Lebewesen ist zugleich die Frucht, die Wirkung und die Offenbarung des heliozentrischen Weltsystems. Alles, was sich auf dieser Erde befindet, entsteht und lebt durch die Sonne. Das Licht regiert, erzeugt die Erde und befruchtet sie, indem es sie jedes Jahr neu zur Welt bringt. Der Mittelpunkt von allem ist immer die Sonne, der sichtbare Gott, wie es Hermes Trismegistos formuliert hat, diese weise Göttergestalt.

Inzwischen sind es nur noch wenige Sekunden bis zu dem von mir so innig erwarteten Moment. Ich hatte gefürchtet, der einzige zu sein, der hier zusieht, doch tatsächlich erheben sich jetzt gut zehn Menschen aus ihren Stühlen, was meine Begeisterung noch zusätzlich anfacht. Jetzt kann ich sie laut grüßen, in der Hoffnung, dass sie mir antworten und dass sie es mir gleichtun, dass sie vielleicht ein wenig in Stille meditieren mögen. Ich gucke die Leute an, lächele. Und nun ist der Moment da: Die Sonne berührt das Festland am Horizont. Ein fantastischer Anblick, so bedeutungsschwer, ich genieße ihn aus vollem Herzen, am liebsten würde ich laut schreien. Doch ich halte mich zurück. Und nun trinken diese Kunden des B&B auf Giannutri – Kunden, keine Gäste – ihre Gläser aus, grüßen und gehen einfach weg. All den stillen Buchten, dem herrlich transparenten Meer, der wilden und rauen Natur dieser toskanischen Insel zum Trotze. Wenigstens wird die Stille jetzt nur noch vom Geschrei der Möwen unterbrochen. „Was sind schon diese paar Sonnenstrahlen“, werden sich die Kunden gedacht haben, als sie sich von mir abgewandt haben, so wie man sich von seltsamen Menschen abwendet. Ich hingegen hätte für diesen Moment, für diesen leuchtend orangeroten Feuerblitz über dem Meer alles Gold der Welt gegeben. Und jetzt kann ich mich gewisser böser Gedanken nicht mehr erwehren (doch ich fasse sie kurz und knapp zusammen): Der Spritz ist der Ruin jedes Sonnenuntergangs, ein Horrorgetränk aus Prosecco mit schmutzigem Orange darin, das offenbar glaubt, es mit den Farben der versinkenden Sonne aufnehmen zu können (völlig erfolglos, versteht sich). Und plötzlich vermeine ich die Stimme von Kohelet zu vernehmen:

Worin liegt der Verdienst des Menschen

in all seinen Anstrengungen,

leidend unter der Sonne?

Nun, wenn seine Anstrengung darin besteht, sich seiner eigenen Sensibilität zu berauben, um es mal sanft zu formulieren, dann gewinnt der Mensch überhaupt nichts. Er erreicht nur eine erbärmliche Verflachung seiner Seele. Und die führt ihn schnurstracks in die dunkle Sackgasse der Stumpfheit.

.m
 

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Profil für Benutzer Stefan S
Stefan S Fr., 03.09.2021 - 18:25

"Bilanzerläuterungen, lautstark preisgegeben von Menschen in Flipflops. "Handygespräche, gebrüllt wie an der Mailänder Börse. Herausposaunte Tipps zur Cash-flow-Erhöhung. "
Wundert mich nicht, gilt es jetzt doch die EU Subventionsmillarden mit allerhand "Schein" Projekten in der italienischen Finanzwelt aufzuteilen.
Ich hoffe das Sie sich mit Ihrem Intellekt dieser Versuchung entziehen...

Fr., 03.09.2021 - 18:25 Permalink
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Greta Karlegger So., 19.09.2021 - 22:36

@Michil Costa

Im Ernst, ein bemerkenswerter Text.
Mit einer gewissen Poesie. Hat mich in der Tat zum anders Handeln gebracht.

"Der Spritz ist der Ruin jedes Sonnenuntergangs, ein Horrorgetränk aus Prosecco mit schmutzigen Orangen und Aperol drin."(Zitat Costa, leicht korrigiert)¯\_(ツ)_/¯

Seit ich das gelesen habe, frage ich immer nach, ob die Zitrone oder die Orange in meinem Feierabend-Drink ungespritzt ist und falls nicht, geht's auch ohne. Also pur.

Vielen Dank für den Hinweis.

So., 19.09.2021 - 22:36 Permalink