Umwelt | Naturschutzgebiet

Tausende Ausnahmen

Die Seiser Alm ist seit Jahren verkehrsberuhigt. Zehntausende Fahrzeuge dürfen dennoch hinauffahren. Warum?
Seiser Alm
Foto: Karsten Würth on Unsplash

Anfang September, nach dem Verkehrsgipfel zwischen der Stadt Bozen und dem Land Südtirol, ließ Mobilitätslandesrat Daniel Alfreider einen Satz fallen, der nicht weiter Beachtung fand: “Um den Verkehr auf die Seiser Alm zu steuern, gibt es 33.000 Ausnahmeregelungen.” Zur Erinnerung: Seit Jahren gilt ein weitreichendes Fahrverbot auf die und der Seiser Alm. Wozu, wenn dann doch tausende Fahrzeuge auf die größte Hochalm Europas und damit in ein mehrfach unter Naturschutz stehendes Gebiet fahren dürfen? Wer genauer hinschaut, bemerkt: Der Verkehrsfluss auf die Seiser Alm ist zum allergrößten Teil nicht hausgemacht.

 

Grundsätzlich verboten

 

Die ersten Verkehrsbeschränkungen auf der Seiser Alm gehen auf das Jahr 1970 zurück. Im Laufe der Jahre wurden sie immer weiter ausgedehnt – 1993 schließlich bis zur Hauptsiedlung Compatsch am Beginn der Alm. Zehn Jahre später, mit Inbetriebnahme der Umlaufbahn Seis-Seiser Alm im August 2003, wurde die aktuelle Verkehrsregelung eingeführt.

Was diese genau vorsieht, ist in Art. 8 des Landschaftlichen Gebietsplans Seiser Alm festgehalten:

  • der motorisierte Verkehr ist im Landschaftsschutzgebiet sowie auf der Zufahrtsstraße zum Hochplateau ab der Örtlichkeit St. Valentin verboten
  • ist die Umlaufbahn Seis-Seiser Alm in Betrieb, dürfen Kraftfahrzeuge täglich vor 9 und nach 17 Uhr über St. Valentin auf die Seiser Alm fahren
  • ist die Umlaufbahn Seis-Seiser Alm außer Betrieb, gilt das Fahrverbot von 9 bis 17 Uhr nicht; allerdings tritt die Straßensperre ab St. Valentin dann wieder in Kraft, wenn die verfügbaren Parkplätze auf der Seiser Alm vollständig besetzt sind (was im vorigen Winter für einiges Chaos gesorgt hat)

Davon abgesehen gibt es eine Reihe von Ausnahmen – konkret: Fahrgenehmigungen, die dazu ermächtigen, abweichend vom Fahrverbot auf die Seiser Alm zu fahren.

 

Fünferlei Ausnahmen

 

Es gibt fünf verschiedene Arten von Fahrgenehmigungen auf die Seiser Alm.

Wer dort seinen Wohnsitz hat, dessen Verwandte und Bekannte, Betreiber von Aufstiegsanlagen, Fremdenverkehrs-, Handels- oder Dienstleistungsbetrieben erhalten eine zeitlich unbegrenzte Fahrgenehmigung, genauso wie Eigentümer eines geschlossenen Hofes, die ihn selbst bearbeiten. Diese Fahrgenehmigung gilt maximal drei Jahre. Danach muss erneut dafür angesucht werden. Das Ansuchen muss in der Gemeinde Kastelruth gestellt werden – denn für diese Kategorie der Fahrgenehmigungen ist der Bürgermeister zuständig.

In die Kategorie B fallen Fahrgenehmigungen, die zeitlich beschränkt sind. So dürfen etwa Handwerker montags bis freitags, Lieferanten von Lebensmitteln bis 11 Uhr, Angestellte von Fremdenverkehrsbetrieben vor 10 und nach 17 Uhr, Imker zehn Mal, Eigentümer von Vieh auf öffentlichen oder privaten Weiden fünf Mal im Jahr auf die Seiser Alm fahren. Für die Ausstellung der Genehmigungen dieser Kategorie sind Bürgermeister und Land Südtirol bzw. die Abteilung 28 Natur, Landschaft und Raumentwicklung zuständig. Einzige Ausnahme: Jäger, die eine Fahrerlaubnis wollen, müssen sich an die Forststation Kastelruth wenden. Sie gelten höchstens ein Jahr. Sprich, man muss jedes Jahr erneut darum ansuchen.

Auch maximal ein Jahr gültig, aber ohne zeitliche Beschränkung sind die Fahrgenehmigungen der Kategorie C. Dazu gehören jene für örtliche Sportgruppen, gehbehinderte Invaliden, Techniker des Kundendienstes in Notfällen oder Heuarbeiter.

In die Kategorie D fallen die touristischen Fahrgenehmigungen. Diese erhalten Gäste, die auf der Seiser Alm eine Unterkunft mit Übernachtung gebucht haben. Sie dürfen vor 10 und nach 17 Uhr auf die Alm fahren – Ausnahme: An- und Abreise sind immer möglich. In vielen Fällen kümmert sich der Gastgeber vorab um die Fahrgenehmigung für seine Gäste und schickt sie ihnen vor Urlaubsantritt zu. Gültig ist sie für die Dauer des Urlaubs.

Eine letzte Art von Fahrerlaubnis ist jene für Veranstaltungen sportlich oder kulturellen Charakters. Um die muss in der Abteilung 28 angesucht werden.

 

Pull-Faktor Tourismus

 

Es ist also ein komplexes Regelwerk, das die Zufahrt auf die – eigentlich verkehrsberuhigte – Seiser Alm regelt. Insgesamt gibt es 31 Unterkategorien an Anspruchsberechtigten für Fahrgenehmigungen. Und von diesen werden immer mehr ausgestellt.

2010 waren es insgesamt 25.179 Fahrermächtigungen. 2015 waren es 32.716 und 2018 insgesamt 35.434 (aus 2018 stammen die letzten vollständig verfügbaren Daten, Anm.d.Red.). Das sind um über 10.000 und damit fast ein Drittel mehr als acht Jahre zuvor – und 2.000 mehr als jene 33.000, von denen Landesrat Alfreider jüngst sprach. Wer aber sind all die Leute bzw. Fahrzeuge, die auf die Seiser Alm fahren (dürfen)? Vielleicht wenig überraschend: vor allem Urlauber.

Tatsächlich ist der massive Anstieg bei den ausgestellten Genehmigungen auf den Tourismus zurückzuführen. Im Jahr 2010 wurden 19.312 touristische Fahrerlaubnisse ausgestellt – etwas mehr als drei Viertel der insgesamt gut 25.000. 2015 waren 25.906 Genehmigungen für Urlauber – knapp 80 Prozent. 2018 belief sich die Anzahl der touristischen Genehmigungen auf 27.263 – wieder rund drei Viertel der insgesamt ausgestellten. Zuletzt erhielten auch deutlich mehr Angestellte touristischer Betriebe eine Fahrgenehmigung (2010: 650; 2015: 901; 2018: 1.054), genauso wie Handwerker (2010: 1.620; 2015: 1.241; 2018: 1.870).

Einen beachtlichen Anteil machen übrigens auch die Heuarbeiter aus, an die jährlich immer rund 430 Fahrgenehmigungen ausgestellt werden.

N.B.: In diesen Zahlen nicht enthalten sind die Fahrten der Tagesgäste, die vor 9 und nach 17 Uhr auf die Seiser Alm fahren. Da diese keinerlei Genehmigung bedürfen, scheinen sie nicht in den Statistiken der Behörden auf, die die Ermächtigungen ausstellen. Allerdings befindet sich kurz nach dem Kontrollpunkt bei St. Valentin eine Verkehrszählstelle. Diese zählte 2019 im Schnitt täglich 891 Fahrzeuge (über 325.000 im Jahr) – heruntergebrochen sind das tagsüber 75 Fahrzeuge pro Stunde (mit und ohne Fahrgenehmigung).

 

Und wer kontrolliert?

 

Wie erwähnt befindet sich bei der Ortschaft St. Valentin, wo das Fahrverbot beginnt, ein Kontrollpunkt. Dort sind es vor allem Forstbeamte, die kontrollieren, ob für das Fahrzeug, das außerhalb der erlaubten Zufahrtsszeiten auf die Seiser Alm will, die entsprechende Genehmigung ausgestellt wurde. Kontrollen gibt es auch längst der Straßen im Naturschutzgebiet.

 

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pérvasion Di., 14.09.2021 - 07:42

Leider ist es bei den meisten (nicht nur den verkehrstechnischen) Einschränkungen in Südtirol so, dass es mehr Ausnahmen als 'Regel' gibt. Wäre interessant zu wissen, wie viele Autos auf die Alm fahren würden, wenn man das jetzige Verbot wieder abschaffen (oder probeweise aussetzen) würde. Wundern tät es mich nicht, wenn sich die Wirkung der Einschränkungen als mickrig herausstellen sollte.

Ähnliches gilt für die 'Einschränkungen' am Pragser Wildsee oder auf den Dolomitenpässen. Und selbst Pfelders, das sich als 'autofreies Dorf' vermarktet, war geradezu 'autovoll', als ich vor einigen Jahren dort war.

Di., 14.09.2021 - 07:42 Permalink
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pérvasion Di., 14.09.2021 - 07:47

Antwort auf von pérvasion

»2010 waren es insgesamt 25.179 Fahrermächtigungen. 2015 waren es 32.716 und 2018 insgesamt 35.434 (aus 2018 stammen die letzten vollständig verfügbaren Daten, Anm.d.Red.). Das sind um über 10.000 und damit fast ein Drittel mehr als acht Jahre zuvor […]«

Das sind 40,7% mehr als acht Jahre zuvor, nicht fast ein Drittel.

Di., 14.09.2021 - 07:47 Permalink