Gesellschaft | Teil 1

„Dein Körper muss dir nicht gefallen“

Aktuelle Körperbilder setzten junge Menschen unter Druck. Besonders junge Frauen streben nach einem perfekten Körper. Psychotherapeutin Raffaela Vanzetta erklärt warum.
RV
Foto: Unsplash

Körper und Schönheit sind zwei der wichtigsten Themen im Alltag vieler Menschen. Warum das Aussehen die Gedankenwelt dominiert und warum sich immer mehr junge Frauen unters Messer legen, wird in einem Zweiteiler präsentiert: Psychotherapeutin Raffaela Vanzetta versus Schönheitschirurg Lorenz Larcher

 

Teil 1 

 

Raffaela Vanzetta ist Pädagogin, Psychotherapeutin und Koordinatorin der Fachstelle für Essstörungen (INFES). Sie berät und betreut Betroffene sowie ihre Angehörigen und leistet Präventionsarbeit. Außerdem leitet sie als Referentin verschiedene Seminare und Fortbildungen, in denen die beiden Themen Essstörungen und Körperbilder die Vormachtstellung einnehmen. salto.bz hat die Psychotherapeutin interviewt.   
 

salto.bz: Frau Vanzetta, wir leben heute im 21. Jahrhundert und geben uns als eine aufgeschlossene und offene Gesellschaft. Trotzdem treten immer noch Begriffe wie z.B. bodyshaming in den Mittelpunkt vieler Lebenswelten und sind aktueller denn je. Warum ist das Thema Körper in unserer Zeit so wichtig? 

Raffaela Vanzetta: Das ist eine nicht ganz einfache Frage. Ich wage jetzt einmal Hypothesen: In den letzten 60, 70 Jahren ist sicher ein Prozess der Individualisierung passiert. Ich habe nämlich vor Kurzem mit einem Freund geredet, der in den 60er Jahren jung war. Er hat mir von damals erzählt und gesagt: „Das Thema Körper war uns einfach nicht wichtig, weil wir wichtigeres zu tun hatten. Wir wollten die Gesellschaft verändern, deswegen war es sogar wichtig zu zeigen, dass man sich nicht um den eigenen Körper kümmert. Der Körper wurde damals frei gelassen: lange Haare, lange Bärte auch lange Körperbehaarung. Weil das ein Zeichen war: Ich habe wichtigeres zu tun.“ Das ist heute genau das Gegenteil. Ich habe das Gefühl, dass Jugendliche heute nichts mehr mitgestalten können in unserer Gesellschaft, niemand kann mehr etwas mitgestalten. Die Gesellschaft ist komplex geworden.

Die Gestaltung hat sich also auf sich selbst verlagert…

Ja, genau. In den letzten 20 Jahren sind auch Tätowierungen und Piercings „in“ geworden. Jeder versucht, mit dieser Art der Körpergestaltung, die eigene Individualität zum Ausdruck zu bringen. Die Gestaltung ist dabei aber nicht frei, sondern verläuft in sehr engen Bahnen. So gesehen ist es ja lächerlich, dass es immer noch Dinge gibt, die verpönt sind. Dick zu sein ist verpönt, Körperbehaarung bei Frauen und mittlerweile auch beim Mann ist verpönt – die Gestaltung ist klar vorgegeben. Ja, warum aber wird es in so enge Bahnen getrieben? Ich glaube – und das ist jetzt wieder eine Hypothese – dass die Medien viel dazu beitragen. Die Medien produzieren Bilder und diese beeinflussen stark unseren Geschmack. Uns gefallen also die Körper, die wir sehr oft sehen. In der Repräsentation des Guten, Positiven, Schönen usw., werden uns schlanke Körper für Frauen und muskulöse Körper für Männer gezeigt. Diese Bilder, die medial produziert werden, sind sehr einfältig und das geht so weit, dass unsere Idee von Körpern sehr einfältig geworden ist – also von Körpern, die in Ordnung und akzeptabel sind. 

 

 

Haben Sie in ihrer beruflichen Laufbahn verschiedene Körperideale kennengelernt? Vielleicht auch Trends? 

Jein. Also wenn man sich die Geschichte ansieht, bemerkt man, dass sich das Ideal immer wieder verändert hat. Aus Studien weiß ich, dass in Gesellschaften in denen ein üppiges Schönheitsideal präsent war, sich dieses durch die Medien verändert hat. Und die Medien haben heute alle Gesellschaften erreicht. Was ich aber beobachte, ist eine Veränderung in den letzten 2-3 Jahren. Vor einigen Jahren war die extreme Schlankheit modern. Jetzt geht es mehr in Richtung des trainierten Körpers mit sehr geformten Muskeln, Arschbacken z.B.  Vor 10 Jahren wollten alle diesen mageren, schwachen, ja – hilflosen Körper. Heute wollen besonders auch Mädchen den trainierten Körper. 
 

Der Körper wurde damals frei gelassen: lange Haare, lange Bärte auch lange Körperbehaarung. Weil das ein Zeichen war: Ich habe wichtigeres zu tun.


Hat es sich also in eine positive Richtung entwickelt? 

Schau, positiv ist schwer zu sagen. Denn immer wenn ein Körperbild einfältig ist, macht das Druck. Es gibt schließlich nur mehr einen kleinen Prozentteil an Menschen, die diesem Körperbild entsprechen. Alle anderen sind ausgeschlossen. Egal ob die extreme Schlankheit oder der trainierte Körper angestrebt wird, beides erfordert ganz, ganz, ganz viel Zeit und Mühe, um dieses Ideal zu erreichen. Das macht unheimlichen Druck und Stress. 

Mit dem Thema Körper ist meist auch das Thema ästhetische Schönheit verbunden. Warum legen gerade junge Menschen so viel Wert auf Schönheit? Sie hätten ja noch keine grauen Haare, keine schlaffe Haut, keine Schlupflider…

Erstens glaube ich, dass der Druck, der auf junge Menschen lastet, viel größer ist. Sie sind noch viel mehr Bildern ausgesetzt als Erwachsene. Junge Menschen suchen noch ihren Platz in der Gesellschaft, sie wollen den Erwartungen entsprechen. In meinem Alter hat man seinen Platz schon mehr oder weniger gefunden. Die meisten Menschen in meinem Alter haben Partnerschaften, eine Arbeit. Je weiter man mit dem Alter fortschreitet, desto mehr findet man sich auch mit den Dingen des Lebens ab. Ich glaube, dass es für eine 15-16 Jährige viel schwieriger ist, sich abzufinden. Weil sie einfach mehr unter die Lupe gerät. Jugendliche vergleichen sich auch viel, sind viel konfrontiert mit den Wertungen anderer Menschen. Wenn ich persönlich mein Profilbild auf Facebook ändere, kriege ich nie so viel Zuspruch, wie wenn ich etwas anderes poste. Nie sonst bekomme ich dieselbe Anzahl an Kommentaren und Likes. Was passiert also mit jungen Menschen, die ständig Fotos von sich posten? Natürlich erwarten sie sich Wertungen, Kommentare, Zuspruch, einfach alles, was andere dazu sagen. Und daran wird dann der eigene Erfolg gemessen, der eigene Wert, welcher sich dann wieder im Selbstwert spiegelt. 
 

Noch nie in meinem Leben habe ich so viele schöne Mädchen gesehen, wie hier drinnen. Oft denke ich mir dann: Wie gibt’s das? Wie kann die in eine Essstörung schlittern, wo ihr doch wirklich nichts fehlt.


Welche Rolle spielt die Selbstliebe, die Selbstakzeptanz? 

Ich glaube das ist das Um und Auf. Aber die Selbstakzeptanz wächst ja auch mit dem Alter. Wer war schon als Pubertierende/r glücklich mit dem eignen Körper, ich glaube kaum jemand. Ich sehe es auch hier, bei meiner Arbeitsstelle: Nie in meinem Leben habe ich so viele schöne Mädchen gesehen, wie hier drinnen. Oft denke ich mir dann: Wie gibt’s das? Wie kann die in eine Essstörung schlittern, wo ihr doch wirklich nichts fehlt. Aber da fällt mir auch auf, dass Mädchen, die objektiv wirklich sehr hübsch sind, noch mehr Angst haben, nachdem sie sehr oft mit dieser Schönheit gewertet werden. Gerade Mädchen und Frauen werden oft auf ihre Schönheit angesprochen. Sie kriegen dann das Gefühl, dass sich ihr Wert in der Gesellschaft in der Schönheit widerspiegelt. Sie bekommen positive Rückmeldungen, wenn sie hübsch sind und wollen dann ständig auf ihr Äußeres achten: sind die Lippen in Ordnung, die Augenbrauen, meine Ohren. Sie schauen auf die Kleinigkeiten und Details, die eigentlich sonst niemand merkt, außer sie selbst. 

Was halten sie von der Aussage: Schönheit ist machbar. Bessere Chancen am Heirats- und Arbeitsmarkt für attraktivere Menschen. 

Das stimmt, da gibt es Studien, die das beweisen. Studien, die auch zeigen, dass übergewichtige Menschen bei gleicher Qualifikation weniger Chancen am Arbeitsmarkt haben. Es stimmt, weil wir sehr viele Vorurteile gegenüber übergewichtigen Menschen haben. Sie sind faul, haben keine Willenskraft – und das ist für den Arbeitsmarkt einfach uninteressant. Auch wenn ich einen Menschen kennenlerne und vorab schon negative Vorurteile habe wie z.B. schaut nicht auf sich, pflegt sich nicht – dann ist dieser Mensch auch für den Heiratsmarkt uninteressant und unattraktiv. Mit der Machbarkeit ist es dann wieder etwas anderes. Ich merke, dass es eine weit verbreitete Idee ist, dass es von jedem selbst abhängt, wie man aussieht. Ein Fitnessstudio in der Wangergasse (in Bozen) wirbt mit dem Werbeslogan: Invest in your future. Invest in your body, als wäre es möglich, in einem Fitnessstudio die eigene Wunschfigur zu erhalten. Und das ist ein großes Problem, weil Menschen, die das nicht schaffen und Körper haben, die nie so aussehen werden, weil sie nie groß und schlank sein werden, extrem darunter leiden. Sie fühlen sich dann sogar schuldig. Gerade beim Übergewicht. Mir hat einmal eine übergewichtige Frau erzählt, sie hätte immer das Gefühl, dass Menschen, die schlank sind, sich ihr gegenüber überlegen fühlen. Und das ist schon etwas, worüber wir nachdenken sollten. 
 

Wenn man sich die Lilli Gruber ansieht, denkt man sich, die hat die Grenze weit überschritten. Aber wo war diese Grenze? 


Wie stehen Sie persönlich zu chirurgischen Eingriffen? Legitimiert die Tatsache, dass sich Menschen, die sich einem Eingriff unterziehen, sich nach einer Operation wohler fühlen –  oder ist das ein Beweis dafür, dass sich diejenige oder derjenige nicht akzeptiert? 

Die Schönheitschirurgie macht Menschen kaum schöner. Sie macht sie einfältiger, das ist meine persönliche Meinung. Wenn ich mir Sendungen im italienischen Fernsehen ansehe, wo fast alle Frauen chirurgisch behandelt sind, sehe ich bei allen dieselben Gesichtszüge: hohe Wangenknochen, eine schmale gerade Nase, die Augen werden ein wenig nach oben gezogen, die Lippen aufgeblasen. Und ich muss ehrlich sagen, ich sehe da irgendwie keinen Charakter mehr. Es wird irgendetwas wie flachgedrückt. Die Tatsache, dass sich Menschen in ihrem persönlichen Körper nicht wohlfühlen, ist eine traurige Wahrheit. Ich hatte z.B. vor kurzem ein Mädchen hier, dass gesagt hat: Ich gefalle mir im Spiegel nicht, aber auf meinen retuschierten Instagram-Fotos. Dieses Mädchen hat ein Selbstbild geschaffen, das geformt und nicht real ist. Und solche Menschen suchen dann nach Wegen, sich im Spiegel zu gefallen – das ist verständlich. Das was ich schön finde, ist die Vielfalt. Die Tatsache, dass wir so unterschiedlich sind und dass in dieser Unterschiedlichkeit so viel Schönes zu entdecken ist. Und die Schönheitschirurgie radiert dann diese Vielfalt einfach weg. Ich kann Schönheitschirurgie gut verstehen, bei Menschen mit sehr groben Missbildungen oder nach einem Unfall – aber wo ist dann die Grenze? Was ist dann z.B. mit abstehenden Ohren? Wenn man sich die Lilli Gruber ansieht, denkt man sich, die hat die Grenze weit überschritten. Aber wo war diese Grenze? 

In der Corona-Pandemie haben die Schönheitseingriffe vor allem bei jungen Frauen zugenommen. Haben Sie in dieser Zeit auch Veränderungen wahrgenommen? 

Ich habe mit Mädchen, die zu mir in die Beratung gekommen sind, öfters darüber geredet, warum in der Pandemie die Unzufriedenheit mit den eigenen Körper gewachsen ist. Die meisten haben erzählt, dass sie sich viel auf den sozialen Netzwerken aufgehalten haben. Sie haben sich also viel mehr mit Workouts und Videos auf TikTok beschäftigt, in denen gezeigt wurde, wie man die Wunschfigur erreicht und mit welchen Übungen sie den vermeintlich perfekten Körper erreichen. Sie haben sich einfach mehr mit der Möglichkeit der Optimierung des eigenen Körpers beschäftigt und setzten sich Bilder aus, die ein perfektes Leben von anderen Menschen zeigten. Ich verwende hier absichtlich das Wort perfekt, weil das auch die Mädchen immer wieder verwenden. Und klar, wenn du immer nur die tollsten Sachen eines Menschen siehst, der reist, tolle Klamotten hat und reich ist, dann macht das schon was mit dir. Da denke ich mir dann auch, was habe ich für ein ödes Leben. Und mit dem Leben ist auch das Thema Körper verbunden.  
 


Wie sähe eine Brücke zwischen Selbstliebe und Konsum von sozialen Medien aus? 

Das frage ich mich selbst auch sehr oft. Aber ich glaube, dass wir einfach die Zeit reduzieren sollten, die wir auf sozialen Medien verbringen. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass die ständige Auseinandersetzung mit einer viel schöneren Welt unzufrieden macht. Und jene Sachen, die die InfluencerInnen posten, sind real. Die Chiara Ferragni kann sich so ein Leben leisten, weil sie Geld hat. Aber wir? Wenn ich mit den Mädchen in der Beratung rede, dann sagen sie oft, dass sie nicht aussteigen können, weil sie dabei sein müssen – alle anderen sind ja auch auf den sozialen Netzwerken. Deswegen denke ich mir, dass es sehr wichtig ist, mit jungen Menschen darüber zu reden, dass Jugendliche vielleicht Personen auf Instagram folgen, die ihnen gut tun. 
 

Dein Körper muss dir nicht gefallen. Du musst mit deinem Körper Freundschaft schließen, weil du wirst darin leben – bis an dein Lebensende.


Zum Thema Körper. Warum hatte die Body-Positivity-Bewegung, eine Antwort auf die Bodyshaming Thematik, keinen positiven Erfolg? 

Weil sie falsch ist. Falsch in dem Sinne, dass man etwas schön reden will, was nicht schön ist. Die AnhängerInnen haben versucht, übergewichtige Menschen schön darzustellen. Und ich denke mir: Das ist einfach die Kehrseite der gleichen Medaille. Es muss Vielfalt möglich sein. Es fängt jetzt ein bisschen an, dass es manchmal Models gibt, die für größere Brands arbeiten und ein wenig anders aussehen. Das Model mit der fleckigen Haut z.B., hat für H&M gearbeitet. Auch das Model, das für Gucci geworben hat, entsprach nicht der gängigen Schönheit, hatte Schnurrbart, dunkle, tiefe Augen. Sie wurde noch und nöcher kritisiert und Aussagen wie z.B. Warum wählt Gucci solch eine hässliche Frau als Topmodel? beweisen, wir sind die Vielfalt nicht gewohnt. Die Marke hat es aber geschafft, dass über das Model und somit auch über Gucci geredet wird. In diesem Zusammenhang  fällt mir auch die Turnerin Simone Biles ein. Sie ist die absolut beste Turnerin der Welt, hat aber keinen Körper, den man als schön bezeichnen würde. Auch sie ist extrem kritisiert worden, aufgrund ihrer Figur. Da frage ich mich: Wie kommt man eigentlich dazu, den Körper eines anderen Menschen zu kritisieren? Über eine Person, die mit ihrem Körper so etwas leistet. Weil es ist ja gigantisch, wie die ihren Körper beherrscht und was sie mit ihrem Körper macht. Das Recht, das sich manche Menschen herausnehmen, über die Körper anderer zu urteilen, funktioniert nicht. Ich denke mir dann immer: Was hast du jetzt davon, was bringt dir das? Fühlst du dich jetzt besser, weil du einen Kommentar über den Körper einer anderen Person abgegeben hast? Aber alle diese Sachen führen natürlich dazu, dass der Druck wächst. Ich weiß z.B. als Sportlerin, dass ich super Leistungen in Biathlon bringen kann, aber wenn nicht blond und blauäugig bin wie die Dorothea Wierer, dann werde ich einfach nie so viel Erfolg haben wie sie.

 

 

Zum Abschluss noch einen Satz für junge Menschen, den Sie ihnen mitgeben wollen. 

Dein Körper muss dir nicht gefallen. Du musst mit deinem Körper Freundschaft schließen, weil du wirst darin leben – bis an dein Lebensende. Und diesen Köper verändern zu wollen, kostet wahnsinnig viel Energie und ich würde jeden Menschen wünschen, dass er diese Energie für was anderes verwendet. Das ist jetzt mehr als ein Satz… 
 

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Silke Raffeiner Fr., 24.09.2021 - 13:45

Danke für dieses Interview mit Raffaela Vanzetta. Die These des Hippies ("Das Thema Körper war uns nicht wichtig, weil wir Wichtigeres zu tun hatten") ist ein interessanter Erklärungsansatz. Ich persönlich denke, dass das Bemühen, den eigenen Körper zu optimieren, nicht losgelöst vom neoliberalen Diktum der konstanten Selbstoptimierung (in jeglicher Hinsicht) betrachtet werden kann.

Fr., 24.09.2021 - 13:45 Permalink
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Dietmar Holzner So., 26.09.2021 - 20:23

Also nach diesem Interview muss der Herr Larcher im zweiten Teil schon mit schweren Argumenten auftreten, wenn er mich von seiner Sicht der Dinge überzeugen will.

So., 26.09.2021 - 20:23 Permalink