Politik | Interview

"Ernst, aber nicht wörtlich nehmen"

Der Biostatistiker Markus Falk über den momentanen Verlauf der Pandemie: "Sowohl die Fallzahlen als auch die Belastung der Betten sind nicht überraschend."
Markus Falk
Foto: barfuss.it

Mit Freitag, dem 5. November stuft das europäische Zentrum für Krankheitsprävention Südtirol aufgrund seines Infektionsgeschehens als hellrot ein, Für das italienische Gesundheitsministerium bleibt Südtirol weiterhin weiß. Salto.bz hat mit dem Biostatistiker des Forschungszentrums EURAC, Markus Falk, über die momentane Risikolage in Südtirol gesprochen.

 

Salto.bz: Herr Falk, Wie schätzen Sie die momentane Covid-Situation in Südtirol ein?

Markus Falk: Nach wie vor: gut. Auch wenn die Zahlen vielleicht etwas ganz anderes suggerieren möchten. Die Entwicklung, die wir jetzt beobachten, war zu erwarten; sie ist nicht unbedingt beunruhigend. Natürlich: Es könnte besser sein und mit mehr Disziplin hätten wir sicherlich bessere Zahlen. Aber überraschend sind diese nicht.

Wir sind aber aufgrund der Fallzahlen und der Bettenbelastung in den Krankenhäusern auf dem Weg in die gelbe Zone. Warum beunruhigt sie diese Situation nicht?

Die Gefahr, dass wir gelb werden, ist natürlich gegeben. Es geht jetzt aber darum, das Ganze vernünftig einzuschätzen. Ich glaube, wir haben im Moment ein psychologisches Problem: Bis dato waren steigende Fallzahlen immer mit einem Alarmzustand verbunden. Aufgrund der Impfungen ist dieser Zusammenhang aber nicht mehr so gegeben. Hier stehen wir weit besser da als Österreich oder Bayern, wo die Durchimpfungsrate noch weit niedriger ist als bei uns.

In Südtirol liegt die Rate der Erstimpfungen bei 71%. Zum Vergleich: Im restlichen Staatsgebiet liegt sie bei 77%, in Österreich bei 66% und in Bayern bei 65%.

Es stimmt, im Vergleich zum restlichen Staatsgebiet, aber auch verglichen mit dem Trentino stehen wir schlechter da. Wir sind aber was Österreich und Bayern anbelangt, weit vorne; 5% machen hier einen riesen Unterschied. Deshalb ist unsere Situation auch nicht mit der Situation dort vergleichbar. In Österreich und Bayern ist die Alarmstimmung gerechtfertigt; dafür müssen wir uns nur die Zahl der Intensivpatienten vor Augen führen, die umgerechnet auf Südtirol für Nordtirol 18 und Bayern 22 beträgt.

 

Im Vergleich zu Österreich und Bayern sind wir, was die Impfung anbelangt, weit vorne; 5% machen hier einen riesen Unterschied. Deshalb ist die Situation kaum vergleichbar.

 

Wir haben über die letzten eineinhalb Jahre einige ähnliche Situationen beobachtet: Während die Zahl der Intensivpatienten in Südtirol noch tragbar war, schnellten sie anderswo bereits in die Höhe. Das Blatt hat sich jedes Mal rasant gewendet. Sehen wir uns die Zahlen der letzten 7 Tage an, so müssen wir in Südtirol ein Plus von rund 62% bei der Belegung der Betten feststellen. Ist eine gewisse Alarmbereitschaft in dieser Hinsicht nicht gerechtfertigt?

Unsere Prognose sagt seit Längerem vorher, dass die Zahl der Intensivpatienten auf 10-12 Personen ansteigen wird. Damit müssen wir rechnen. Die Normalbelegung ist im Moment höher als erwartet, aber das könnte auch eine Eigenheit dieser Woche sein – durch die Herbstferien zum Beispiel. Aber das sind Spekulationen; natürlich kann es weitere Anstiege geben, aber einen Zusammenbruch des Gesundheitssystems schließe ich – aufgrund des Impfschutzes – aus.

Der Impfschutz jener Personen, die im Januar oder Februar geimpft wurden, nimmt aber ab. Bis all diesen Menschen die Drittimpfungen verabreicht werden, wird es noch eine Weile dauern.

Wir wissen schon seit drei Monaten, dass es diese Impfdurchbrüche geben wird. Und wir wissen auch, was dies für den Impfschutz bedeutet: Nach einer bestimmten Zeit ist ein Geimpfter wieder für das Virus empfänglich. Was die Wirksamkeit der Impfung gegen einen schweren Verlauf anbelangt, mussten wir aber noch keine Abstriche hinnehmen; die Wirksamkeit hält weiter an. Das Problem betrifft im Moment vor allem ältere Personen, bei denen die Wirksamkeit der Impfung von Anfang an nicht bei 95%, sondern bei 70% lag. Wenn das Infektionsgeschehen jetzt steigt, werden in dieser Bevölkerungsgruppe zu viele Fälle auftreten. Der Aufruf für die dritte Impfung ist also unglaublich wichtig; einerseits, um den Schutz für diese Bevölkerungsgruppe zu erneuern, andererseits, um das Infektionsgeschehen weiter einzudämmen.

 

Meine Rolle es, die momentane Situation genau zu analysieren und aus epidemiologischer Sicht zu bewerten.

 

Vor einigen Wochen wurde noch von einer “Pandemie der Ungeimpften” gesprochen. Kann das heute noch so gesagt werden oder hat sich die Situation diesbezüglich geändert?

Es gibt mittlerweile das Infektionsgeschehen unter den nicht-immunen Personen und jenes unter den Geimpften oder Genesenen. Bei den nicht-immunen Erwachsenen sind die Risiken unverändert hoch. Etwa 5% der Infizierten landen im Krankenhaus und 1% auf der Intensivstation. Diese Gruppe spielt aber nun dank der Impfungen eine untergeordnete, für das Krankenhaus aber leider nach wie vor wesentliche Rolle. Bei Impfdurchbrüchen ist das Risiko eines schweren Covid-Verlaufs etwa 10- bis 20-mal geringer als bei nicht immunen Personen und dies sind in der Statistik Welten! Wenn 100 nicht Immune erkranken, dann muss einer auf Intensiv. Für die gleiche Last unter Geimpften würde man 1000 bis 2000 Impfdurchbrüche benötigen.

Trotzdem: Im Moment befinden sich 62 Personen wegen einer Covid-Infektion im Krankenhaus, zwei von Ihnen werden intensiv betreut. Riskieren wir die erneute Überbelastung der Krankenhäuser?

Die Last, die die Krankenhäuser jetzt wieder zu tragen haben, ist bereits zu hoch. Die Ressourcen, die von den Covid-Patienten geschluckt werden, sind unvertretbar hoch und ziehen Schäden für die Bevölkerung nach sich, die höher sind als der Schaden durch die Covid-Erkrankung selbst. Dies war bisher schon so, war leider unvermeidbar, gilt nun aber aufgrund der Impfungen nicht mehr. Deshalb muss es klarerweise das Ziel sein, die Fälle so gering wie möglich zu halten. Gleichzeitig haben wir aber eine Bevölkerung, die müde und teilweise auch besonders unvorsichtig ist. Meine Aufgabe ist es, pragmatisch zu sein: Die Pandemie wird erst dann langsam ausklingen, wenn alle Erwachsenen zumindest 2G sind, also mit dem Impfstoff und mit dem Virus Kontakt hatten und auch die Kinder immun sind. Aber bis dahin ist es ein langer Weg. Dieser kann verkürzt werden, indem man besonders unvorsichtig ist, wie oft suggeriert wird. Die Rechnung hierfür bekäme man aber in kürzester Zeit über die Krankenhäuser präsentiert, wie man derzeit in Österreich sieht. Oder wir überlegen, welche Belastung tragbar ist, um den Regelbetrieb aufrecht zu halten; was natürlich schwer festzulegen ist. Schlussendlich müssen wir den Tatsachen aber ins Auge sehen: Wir wissen, dass der größte Teil der Bevölkerung geschützt ist. Das, was uns im März 2020 in den ersten Lockdown geführt hat, gibt es nicht mehr. Alles andere hat mit dem Verhalten der Menschen und den Vorgaben durch die Politik zu tun.

 

Die Politik muss ernst genommen werden – aber nicht unbedingt wörtlich.

 

Landeshauptmann Arno Kompatscher hat erst gestern wieder davor gewarnt, dass die Fälle rasant ansteigen und wieder striktere Maßnahmen eingeführt werden müssen. Sind diese Aussagen Ihrer Meinung nach übertrieben?

Wenn Politiker jetzt keine Warnungen aussenden würden, würden sie einen Fehler begehen. Natürlich entsteht hierdurch auch eine gewisse Alarmstimmung und wenn wir uns ansehen, was in Deutschland oder in Österreich derzeit los ist, dann kann man sich natürlich auch fragen, ob dieses Alarmieren in Südtirol gerechtfertigt ist. Es ist schlussendlich ja auch die Aufgabe der Politik, die Bevölkerung zu warnen. Vor allem dann, wenn immer mehr Personen die Maßnahmen nicht mehr mittragen wollen. Würde jeder, auch die Geimpften, wie vorgesehen, die Maske tragen und würde der Großteil den grünen Pass auch ernst nehmen, dann hätten wir vermutlich deutlich weniger Fälle. Aus diesem Grund sind entsprechende Warnungen mehr als gerechtfertigt.

Sie scheinen die Aussagen der Politiker zu relativieren. Riskieren Sie so nicht den gegenteiligen Effekt – also eine weniger vorsichtige Bevölkerung – zu bezwecken?

Die Politik muss ernst genommen werden – aber nicht unbedingt wörtlich. Politiker sind keine Epidemiologen, haben aber dennoch die Aufgabe, die Situation einzuschätzen und zu handeln. Wenn Sie ihr Kind irgendwo hinschicken, die Situation aber nicht ganz genau einschätzen können, dann werden Sie ihr Kind warnen: Pass auf, sonst tust du dir weh. Deshalb will ich die Aussagen der Politiker nicht relativieren und auch nicht abschwächen, sondern aufzeigen, dass jeder seiner Rolle gerecht werden muss. Meine ist es, die momentane Situation genau zu analysieren und aus epidemiologischer Sicht zu bewerten. Ich kann nicht hellsehen, aber ich weiß, dass wir jetzt einfach nur einen kühlen Kopf bewahren müssen. Retten wird uns weiterhin die Maske und vor allem auch der dritte Stich.

 

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Elias Gamper Fr., 12.11.2021 - 22:16

Eine Harvard-Studie zeigt Tendenz: Hohe Impfquote = Viele Infektionen
"Auf Länderebene scheint es keinen erkennbaren Zusammenhang zwischen dem Prozentsatz der vollständig geimpften Bevölkerung und neuen COVID-19-Fällen in den letzten 7 Tagen (Abb. 1) zu geben. Vielmehr deutet die Trendlinie auf einen geringfügig[en] … Zusammenhang hin, dass Länder mit einem höheren Prozentsatz der vollständig geimpften Bevölkerung höhere COVID-19-Fälle pro 1 Million Einwohner haben. Bemerkenswert ist, dass Israel mit einem Anteil von über 60 % der Bevölkerung, die vollständig geimpft ist, die höchste Rate an COVID-19-Fällen pro 1 Million Bevölkerung in den letzten 7 Tagen aufweist." https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/s10654-021-00808-7.pdf
"Das alleinige Vertrauen auf die Impfung als primäre Strategie zur Eindämmung von COVID-19 und seiner nachteiligen Folgen muss überdacht werden, insbesondere in Anbetracht der Delta-Variante (B.1.617.2) und der Wahrscheinlichkeit künftiger Varianten."

Fr., 12.11.2021 - 22:16 Permalink
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Peter Gasser Fr., 12.11.2021 - 23:36

Antwort auf von Elias Gamper

6 Mal derselbe Kommentar.
6 mal eine veraltete Studie mit Datenmaterial aus dem Frühsommer/Sommer nur zu Inzidenzen - was leider mit der Hospitalisierung jetzt im beginnenden Winter nichts zu tun hat.
Natürlich verschweigen Sie dies.
Natürlich verschweigen Sie, dass auch Ihnen bekannt ist, dass 80% der JETZT Hospitalisierten nicht bzw. unzureichend geimpft sind, weit über 90% der - wieder JETZT - nicht geimpft sind.
Sie versuchen ein falsches Bild zu geben, in dem Sie eine von den Daten veraltete und von der Wirklichkeit überholte Studie auf die aktuelle Situation beziehen.
Unkorrekt und leichtsinnig.

Fr., 12.11.2021 - 23:36 Permalink